Index
E000 EU- Recht allgemeinNorm
ABGB §268 Abs1 idF 2013/I/015Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat MMag. Maislinger, die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr.in Lachmayer sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision des Dr. B in W, vertreten durch die Baker McKenzie Rechtsanwälte LLP & Co KG in 1010 Wien, Schottenring 25, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 26. November 2018, Zl. RV/7101028/2017, betreffend Antrag auf Aufhebung gemäß § 299 BAO (Umsatzsteuer 2014), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 10. Dezember 2015 setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer betreffend den Revisionswerber für das Jahr 2014 fest.
2 Mit Eingabe vom 24. August 2016 beantragte der Revisionswerber gemäß § 299 BAO die Aufhebung und Abänderung dieses Bescheides. Er machte geltend, er sei seit vielen Jahren im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit fast nur mehr als von Gerichten bestellter Sachwalter tätig. Auch in diesem Bereich habe er für die betroffenen Personen typisch anwaltliche Tätigkeiten zu verrichten (Prozesse, Verträge, etc.), jedoch nur in ganz geringem Umfang; frei gewählte Mandate übernehme er nicht mehr. Seine übrige Tätigkeit als Sachwalter bestehe aus sozialarbeiterischer Fürsorge (Personensorge) für die ihm von den Gerichten anvertrauten Personen. Die Bestellung erfolge für Personen, die psychisch krank oder geistig behindert und deshalb außerstande seien, alle oder einzelne Angelegenheiten zu erledigen, und derart in Gefahr gerieten, Nachteile zu erleiden. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, habe er Sozialarbeiterinnen angestellt bzw. sein Personal sozialarbeiterisch geschult. Darüber hinaus verfüge er über ein großes außerbetriebliches Netz an Zuarbeiterinnen, um allen Wechselfällen des Lebens begegnen zu können. Er werde bevorzugt und gerade deshalb bestellt, weil er derart „ausgestattet“ sei. Es bestehe also ein öffentlicher Bedarf an derartigen sozialen Betreuungsleistungen, die er als einer von wenigen decke. Die einschlägigen Bestimmungen des ABGB bürdeten dem Sachwalter tiefgreifende Verpflichtungen auf, um das Wohl der betroffenen Personen zu wahren. Die Tätigkeit bestehe etwa in der Organisation der sozialen Dienste, der Reinigung der Wohnung, der Begleitung zum Arzt, der Einteilung des Geldes, der Übersiedelung bei Wohnungswechsel oder der Eingliederung obdachloser Menschen. Die Bestellung zum Sachwalter erfolge ausschließlich durch Gerichte. Es handle sich um eine im öffentlichen Interesse gelegene Tätigkeit. Neben Mitgliedern der rechtsberatenden Berufe kämen als Sachwalter auch ausdrücklich dafür anerkannte Vereine und Angehörige in Frage. Diese hätten ebenso Anspruch auf Entschädigung, unterlägen aber nicht der Umsatzsteuerpflicht. Die Tätigkeit des Sachwalters sei eine, die der sozialen Sicherheit diene; es handle sich um eine anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter. Bei richtiger Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie (Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) müssten die Umsätze des Sachwalters im Zusammenhang mit seinen Betreuungs- und Vertretungshandlungen (mit Ausnahme der beruflichen Vertretung gemäß § 276 Abs. 2 ABGB) von der Umsatzsteuer ausgenommen werden.
3 Mit Bescheid vom 26. September 2016 wies das Finanzamt diesen Antrag ab.
4 Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde.
5 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 9. November 2016 wies das Finanzamt die Beschwerde als unbegründet ab. In der Begründung verwies das Finanzamt auf das Urteil des EuGH vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u.a., C-543/14. Danach seien Dienstleistungen von Rechtsanwälten nicht steuerfrei.
6 Der Revisionswerber beantragte die Entscheidung durch das Bundesfinanzgericht.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesfinanzgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Es sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens führte das Bundesfinanzgericht im Wesentlichen aus, der Revisionswerber übe den Beruf eines Rechtsanwaltes aus. Im Rahmen seines Unternehmens sei er auch vom Gericht als Sachwalter bestellt worden und habe aus dieser Tätigkeit Entschädigungen gemäß § 276 Abs. 1 ABGB erhalten. Der EuGH habe im Urteil vom 28. Juli 2016, C-543/14, ausgesprochen, dass Voraussetzung für die Anwendung der Befreiungsbestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g Mehrwertsteuerrichtlinie u.a. sei, dass die Leistungen durch anerkannte soziale Einrichtungen erbracht würden. Die Berufsgruppe der Rechtsanwälte erfülle diese Voraussetzung nicht. Die Umsätze des Revisionswerbers aus seiner Tätigkeit als Sachwalter seien daher nicht befreit. Ein Sachwalter erziele mit seiner Tätigkeit nachhaltig Einnahmen. Soweit sich der Revisionswerber auf die umsatzsteuerliche Gleichbehandlung der sachwalterischen Tätigkeit berufe, sei zu bemerken, dass Sachwalter, die einen nahen Angehörigen betreuen, in der Regel Kleinunternehmer und daher gemäß § 6 Abs. 1 Z 27 UStG 1994 von der Umsatzsteuer befreit seien. Daraus resultiere aber keine Gleichheitswidrigkeit, weil auch ein Rechtsanwalt, der (auch) als Sachwalter tätig sei, Kleinunternehmer sein könne. Von Rechtsanwälten, die als Sachwalter tätig seien, würden keine Leistungen erbracht, die mit jenen vergleichbar seien, die von Sachwalter-Vereinen erbracht würden. Bei diesen Vereinen handle es sich um nicht auf Gewinn ausgerichtete gemeinnützige Vereine, die gemäß § 6 Abs. 1 Z 25 UStG 1994 von der Umsatzsteuer befreit seien. Rechtsanwälte wirtschafteten hingegen gewinnorientiert; aufgrund der fehlenden Dauerhaftigkeit eines sozialen Engagements seien sie nicht als gemeinnützig anzusehen. Da sich der Umsatzsteuerbescheid 2014 demnach als richtig erweise, sei der Antrag nach § 299 BAO zu Recht abgewiesen worden.
9 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Beschluss vom 23. September 2019, E 153/2019-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab. In der Begründung führte der Verfassungsgerichtshof u.a. aus, die Beschwerde rüge die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer allenfalls grob unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen seien zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen sowie insbesondere der Frage, ob vom Bundesfinanzgericht innerstaatliche einfachgesetzliche Normen oder unionsrechtliche Normen anzuwenden waren, nicht anzustellen. Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berühre, als die Rechtswidrigkeit der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschriften behauptet werde, lasse ihr Vorbringen vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Dem Gesetzgeber sei es von Verfassungs wegen im Rahmen seines weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraums unbenommen, für die Tätigkeit von Rechtsanwälten als Sachwalter keine Umsatzsteuerbefreiung vorzusehen. Dies gelte selbst für den Fall, dass mit dem Bundesfinanzgericht davon auszugehen wäre, dass Vereine als gemeinnützige Rechtsträger mit ihren Leistungen gemäß § 6 Abs. 1 Z 25 UStG 1994 unecht von der Umsatzsteuer befreit wären, da letztere - anders als Rechtanwälte - die aus ihrer Tätigkeit erzielten Einnahmen für die Förderung abgabenrechtlich begünstigter Zwecke (vgl. §§ 34 ff BAO) zu verwenden hätten.
10 Gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts wendet sich auch die vorliegende Revision.
11 Nach Einleitung des Vorverfahrens hat die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet.
12 Mit Beschluss vom 11. Dezember 2019 legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
„Ist Art. 132 Abs. 1 Buchstabe g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin auszulegen, dass Dienstleistungen eines Rechtsanwaltes, die dieser als vom Gericht bestellter Sachwalter - soweit es sich nicht um anwaltstypische Leistungen handelt - erbringt, von der Mehrwertsteuer befreit sind?“
13 Mit Beschluss vom 5. Mai 2021 zog der Verwaltungsgerichtshof dieses Ersuchen um Vorabentscheidung - nach Ergehen der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-846/19 (Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA) - zurück.
14 Die Verfahrensparteien erstatteten hiezu weitere Stellungnahmen.
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
16 Die Revision ist zulässig und begründet.
17 Gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 UStG 1994 unterliegen u.a. Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer. Die Steuerbarkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Umsatz auf Grund gesetzlicher oder behördlicher Anordnung bewirkt wird oder kraft gesetzlicher Vorschrift als bewirkt gilt.
18 Gemäß § 6 Abs. 1 UStG 1994 sind von den unter § 1 Abs. 1 Z 1 UStG 1994 fallenden Umsätzen u.a. steuerfrei:
„7. die Umsätze der Träger der Sozialversicherung und ihrer Verbände, der Krankenfürsorgeeinrichtungen im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 2 des Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 200/1967, und der Träger des öffentlichen Fürsorgewesens untereinander und an die Versicherten, die mitversicherten Familienangehörigen, die Versorgungsberechtigten oder die Hilfeempfänger oder die zum Ersatz von Fürsorgekosten Verpflichteten;
[...]
18. die Umsätze der Kranken- und Pflegeanstalten, der Alters-, Blinden- und Siechenheime sowie jener Anstalten, die eine Bewilligung als Kuranstalt oder Kureinrichtung nach den jeweils geltenden Rechtsvorschriften über natürliche Heilvorkommen und Kurorte besitzen, soweit sie von Körperschaften des öffentlichen Rechts bewirkt werden und es sich um Leistungen handelt, die unmittelbar mit der Kranken- oder Kurbehandlung oder unmittelbar mit der Betreuung der Pfleglinge im Zusammenhang stehen;
[...]
23. die Leistungen der Jugend-, Erziehungs-, Ausbildungs-, Fortbildungs- und Erholungsheime an Personen, die das 27. Lebensjahr nicht vollendet haben, soweit diese Leistungen in deren Betreuung, Beherbergung, Verköstigung und den hiebei üblichen Nebenleistungen bestehen und diese von Körperschaften öffentlichen Rechts bewirkt werden;
[...]
25. die in den Ziffern 18, 23 und 24 genannten Leistungen, sofern sie von Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen (§§ 34 bis 47 der Bundesabgabenordnung), bewirkt werden. Dies gilt nicht für Leistungen, die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes, eines Gewerbebetriebes oder eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes im Sinne des § 45 Abs. 3 der Bundesabgabenordnung ausgeführt werden; [...].“
19 Die Bestimmungen der zitierten Ziffern 7 und 18 dienten, wie aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage zum Umsatzsteuergesetz 1994, BGBl. Nr. 663/1994 (Stammfassung), hervorgeht (1715 BlgNR 18. GP 52 und 54), der Umsetzung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rats vom 17. Mai 1977 (also der - in der deutschen Sprachfassung klarer formulierten - Vorgängerbestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG).
20 Leistungen eines Rechtsanwalts, die dieser als vom Gericht bestellter Sachwalter erbringt, sind nach dem UStG 1994 steuerpflichtig. Insbesondere erstrecken sich die Befreiungen des § 6 Abs. 1 Z 7 und Z 18 (oder auch jene der Z 23 und 24) UStG 1994 - im Verfahren unbestritten - nicht auch auf diese Leistungen.
21 Der Revisionswerber stützt sich darauf, dass diese Leistungen aufgrund der unmittelbar anwendbaren Bestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG steuerfrei seien. Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten u.a. „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“, von der Steuer.
22 Nach Art. 133 der Richtlinie 2006/112/EG können die Mitgliedstaaten die Befreiungen u.a. nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie im Einzelfall von der Erfüllung einer oder mehrerer der in der Folge genannten Bedingungen abhängig machen. So können die Mitgliedstaaten die Befreiungen u.a. davon abhängig machen, dass die betreffenden Einrichtungen keine systematische Gewinnerzielung anstreben dürfen und etwaige Gewinne, die trotzdem anfallen, nicht verteilt werden dürfen, sondern zur Erhaltung oder Verbesserung der erbrachten Leistungen verwendet werden müssen (Art. 133 Buchst. a).
23 Nach Art. 134 der Richtlinie 2006/112/EG sind Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen von der Steuerbefreiung u.a. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g ausgeschlossen, wenn sie für die Umsätze, für die die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich sind; oder sie im Wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Umsätze zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Umsätzen von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen bewirkt werden.
24 Die Bestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie findet auf Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen Anwendung, die zum einen „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden“ sind und zum anderen durch „Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ erbracht werden (vgl. EuGH 21.1.2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, Rn. 29; 8.10.2020, Finanzamt D, C-657/19, Rn. 30, mwN). Zu prüfen sind somit zwei Voraussetzungen.
25 Mit Urteil vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C-846/19, hat der Gerichtshof der Europäischen Union u.a. für Recht erkannt:
„Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass Dienstleistungen zugunsten nicht geschäftsfähiger Erwachsener, die diese bei zivilrechtlichen Handlungen schützen sollen, ‚eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen‘ sind und dass nicht ausgeschlossen ist, dass einem Anwalt, der solche Dienstleistungen erbringt, für das Unternehmen, das er betreibt, und in den Grenzen dieser Dienstleistungen eine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter gewährt werden kann, wobei diese Anerkennung jedoch nur dann zwingend durch eine Justizbehörde zu gewähren ist, wenn der betreffende Mitgliedstaat durch die Verweigerung dieser Anerkennung die Grenzen des ihm in diesem Zusammenhang eingeräumten Ermessens überschritten hat.“
26 a) Leistungen, die „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden“ sind:
27 Der Revisionswerber erbrachte im Streitjahr unstrittig (u.a.) Leistungen als vom Gericht bestellter Sachwalter gemäß § 268 Abs. 1 ABGB (idF BGBl. I Nr. 15/2013). Dabei handelt es sich - ebenso wie bei jenen, die dem Verfahren des EuGH zu C-846/19 zu Grunde lagen (vgl. zu diesen Leistungen insbesondere die Ausführungen des Generalanwalts in dessen Schlussanträgen, Rn. 53, und den Verweis hierauf im Urteil des EuGH, Rn. 61) - um Dienstleistungen, die an geistig hilfsbedürftige Personen erbracht werden und zu deren Schutz bei zivilrechtlichen Handlungen dienen, wenn die Betroffenen nicht in der Lage sind, für diese selbst zu sorgen, ohne Gefahr zu laufen, ihren eigenen Interessen zu schaden (vgl. EuGH C-846/19, Rn. 63; vgl. dazu § 268 Abs. 1 ABGB). Diese Dienstleistungen sind auch unerlässlich, um die Betroffenen vor Handlungen zu schützen, die ihnen schaden (vgl. EuGH C-846/19, Rn. 64).
28 Tätigkeiten der Beratung rechtlicher Art, die mit den speziellen Kenntnissen eines Anwalts verbunden sind (und die vom Revisionswerber ebenfalls unstrittig im Rahmen seiner Tätigkeit als Sachwalter erbracht wurden), fallen hingegen nicht in den Bereich dieser Steuerbefreiung, selbst wenn sie im Kontext des einer nicht geschäftsfähigen Person geleisteten Beistands erbracht werden (vgl. EuGH C-846/19, Rn. 66), was vom Revisionswerber im Übrigen bereits in seinem Antrag auf Aufhebung gemäß § 299 BAO (und ebenso in der Revision) eingeräumt wurde.
29 Dem Grunde nach liegen hier somit eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen vor; zum jeweiligen Umfang der Leistungen wurden vom Bundesfinanzgericht im Hinblick auf dessen abweichende Rechtsansicht bisher keine Feststellungen getroffen.
30 b) Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder „andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“:
31 Unbestritten ist, dass der Revisionswerber - ebenso wie der im Verfahren des EuGH C-846/19 betroffene Rechtsanwalt - nicht als „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ anzusehen ist.
32 Zum Begriff „als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ hat der Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil C-846/19 ausgeführt (Rn. 69 bis 87):
„69 Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie legt weder die Voraussetzungen noch die Modalitäten einer Anerkennung des sozialen Charakters von anderen Einrichtungen als solchen des öffentlichen Rechts fest. Es ist daher grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen diesen Einrichtungen eine solche Anerkennung gewährt werden kann, wobei die Mitgliedstaaten über ein Ermessen verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 32 und 34).
70 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich hierzu, dass die nationalen Behörden bei der Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften - seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit -, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Gesichtspunkt zählen, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, insbesondere, wenn die privaten Wirtschaftsteilnehmer vertragliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen unterhalten (Urteil vom 8. Oktober 2020, Finanzamt D, C?657/19, EU:C:2020:811, Rn. 44).
71 Nur wenn der Mitgliedstaat die Grenzen seines Ermessens nicht eingehalten hat, kann sich ein Steuerpflichtiger auf die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung berufen, um sich einer nationalen Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. In einem solchen Fall ist es Sache des nationalen Gerichts, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann, C?174/11, EU:C:2012:716, Rn. 28 und 32), wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 114 bis 119 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.
72 Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der Fragen des vorlegenden Gerichts hervorzuheben, dass erstens die Anwendung der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung nicht nur von der Voraussetzung eines sozialen Charakters der Dienstleistungen abhängt, sondern überdies auf Dienstleistungen beschränkt ist, die durch Einrichtungen bewirkt werden, die als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannt sind, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt. Mit diesen beiden Voraussetzungen wäre es aber nicht vereinbar, wenn es den Mitgliedstaaten erlaubt würde, private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht allein deshalb als Einrichtungen mit sozialem Charakter zu qualifizieren, weil sie auch Leistungen mit sozialem Charakter erbringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C-543/14, EU:C:2016:605, Rn. 61 und 63).
73 Zweitens schließt der Umstand, dass es sich bei dem fraglichen Dienstleistungserbringer um eine natürliche Person handelt, die mit ihrer Tätigkeit eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt, nicht zwingend aus, ihr einen sozialen Charakter im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie zuzuerkennen. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass der Begriff ‚als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen‘ grundsätzlich weit genug ist, um auch private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht einschließlich natürlicher Personen, die ein Unternehmen betreiben, zu umfassen, da auch sie abgegrenzte Einheiten darstellen, die eine bestimmte Funktion erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. September 1999, Gregg, C-216/97, EU:C:1999:390, Rn. 17 und 18, vom 17. Juni 2010, Kommission/Frankreich, C-492/08, EU:C:2010:348, Rn. 36 und 37, sowie vom 15. November 2012, Zimmermann, C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 57).
74 Aus den dem Gerichtshof übermittelten Informationen geht im Übrigen nicht hervor, dass sich das Großherzogtum Luxemburg auf die in Art. 133 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Möglichkeit berufen hätte, die Gewährung der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie vorgesehenen Befreiung u. a. Einrichtungen zu verweigern, die eine systematische Gewinnerzielung anstreben, so dass es dem Steuerpflichtigen, der diese Befreiung erhalten möchte, die etwaige Verfolgung eines solchen Ziels nicht entgegenhalten kann.
75 Diese Beschränkung der Befreiungsregel hat nämlich nur Eventualcharakter, und ein Mitgliedstaat, der es unterlassen hat, die insoweit erforderlichen Maßnahmen zu treffen, kann sich nicht auf sein eigenes Unterlassen berufen, um einem Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung zu verwehren, die dieser nach der Mehrwertsteuerrichtlinie in Anspruch nehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2002, Kügler, C-141/00, EU:C:2002:473, Rn. 60). Diese Beschränkung in einem solchen Fall anzuwenden, verstieße außerdem möglicherweise gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, da die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie genannten Leistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt würden, je nachdem, ob die sie erbringenden Einrichtungen Gewinnerzielung anstreben oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 42).
76 Drittens ist die von einem Dienstleistungserbringer gewählte Betriebsform für seine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter zwar nicht ohne Bedeutung, da sie sich nicht als mit der Einstufung als ‚Einrichtung mit sozialem Charakter‘ unvereinbar erweisen darf, doch können die Mitgliedstaaten eine solche Anerkennung nicht verweigern, ohne die konkreten Umstände des Einzelfalls genau zu prüfen, um festzustellen, ob sie den sozialen Charakter des von einem solchen Dienstleistungserbringer betriebenen Unternehmens belegen können; wenn der soziale Charakter nachgewiesen ist und soweit dieser Dienstleistungserbringer eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen erbringt, fallen diese daher unter die Befreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie.
77 Was konkret den Umstand betrifft, dass die betreffenden Dienstleistungen im vorliegenden Fall von einem bei der Anwaltskammer zugelassenen Anwalt erbracht wurden, hat der Gerichtshof zwar entschieden, dass die Berufsgruppe der Rechtsanwälte und ‚avoués‘ als solche im Hinblick auf ihr Gesamtziel und die fehlende Dauerhaftigkeit eines etwaigen sozialen Engagements nicht als gemeinnützig angesehen werden kann (Urteil vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C-543/14, EU:C:2016:605, Rn. 62).
78 Aus dieser Rechtsprechung folgt jedoch nicht, dass einem Steuerpflichtigen, der eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Umsätze bewirkt, unter allen Umständen von vorneherein die Möglichkeit verwehrt werden darf, als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt zu werden, nur weil er der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils definierten Berufsgruppe angehört, ohne zu prüfen, ob er sein Unternehmen unter Bedingungen betreibt, die eine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie rechtfertigen. Ein solcher Ansatz könnte außerdem gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 90 und 95 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat.
79 Auch wenn sich die Berufsgruppe der Anwälte als solche nicht durch einen sozialen Charakter kennzeichnet, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Anwalt, der eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen erbringt, in einem konkreten Fall ein dauerhaftes soziales Engagement leistet und sich im Hinblick auf die Aspekte, die bei der Feststellung des sozialen Charakters seines Unternehmens zu berücksichtigen sind, von anderen natürlichen oder juristischen Personen, die derartige Dienstleistungen erbringen, nur dadurch unterscheidet, dass er als Anwalt bei der Anwaltskammer zugelassen ist.
80 In einem solchen Fall wäre die bloße Anwaltseigenschaft des Dienstleistungserbringers ein rein formaler Aspekt, der den sozialen Charakter seines Unternehmens nicht in Frage zu stellen vermag.
81 Das vorlegende Gericht wird daher anhand sämtlicher übriger maßgeblicher Umstände, die den bei ihm anhängigen Rechtsstreit kennzeichnen, zu prüfen haben, ob das Großherzogtum Luxemburg die Grenzen seines Ermessens überschritten hat, indem es für einen Dienstleistungserbringer, der sich in der Lage des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet, nicht die Möglichkeit vorsieht, für sein Unternehmen die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter zu erlangen. Nur wenn dieser Mitgliedstaat diese Grenzen überschritten hat, muss das vorlegende Gericht diese Anerkennung für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraum selbst erteilen, wobei es die materiellen oder prozessualen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die dieser Anerkennung entgegenstehen, gegebenenfalls unangewandt zu lassen hat.
82 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist insoweit darauf hinzuweisen, dass, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, einige Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten von Bedeutung für die Prüfung sein dürften, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens ungeachtet seiner Eigenschaft als Anwalt in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraum im Rahmen des Betriebs seines Unternehmens ein dauerhaftes soziales Engagement geleistet hat.
83 Zum einen könnte hierbei der Umstand heranzuziehen sein, dass der Betreffende seine Umsätze, von denen jedenfalls ein Teil sozialen Charakter aufzuweisen scheint, im Rahmen von Mandaten des Erwachsenenschutzes bewirkt, mit denen er gemäß verschiedenen nach luxemburgischem Recht vorgesehenen Schutzregelungen von einer Justizbehörde betraut wurde, die ihre Durchführung im Übrigen überwacht. Dieser Umstand deutet nämlich nicht nur darauf hin, dass der betreffende Dienstleistungserbringer verpflichtet ist, diese Umsätze im Einklang mit den spezifischen Rechtsvorschriften zu bewirken, die das luxemburgische Recht hierzu vorsieht, sondern auch darauf, dass er nur tätig werden kann, nachdem von der zuständigen Justizbehörde eine ausdrückliche Entscheidung zur Ernennung der mit der Erbringung der Dienstleistungen auf dem Gebiet der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit betrauten Personen erlassen wurde.
84 Zum anderen kann auch der Umstand von Bedeutung sein, dass die Vergütung für die betreffenden Umsätze stets unter der Kontrolle dieser Justizbehörde festgelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, EU:C:2016:36, Rn. 38) und dass diese Vergütung vom Staat übernommen werden kann, wenn der Empfänger nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügt.
85 Zudem hat der Gerichtshof im Fall einer Krankenpflegerin, die eine Einpersonengesellschaft führte und sich auf die Steuerbefreiung in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie berief, bereits entschieden, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich, ohne das ihm in diesem Zusammenhang eingeräumte Ermessen zu überschreiten, verlangen kann, dass die medizinischen Kosten und die Arzneimittelkosten eines solchen Steuerpflichtigen in mindestens zwei Drittel der Fälle ganz oder teilweise von gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen werden müssen, damit diesem Dienstleistungserbringer ein sozialer Charakter zuerkannt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann, C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 10 und 35 bis 37).
86 Auch ist der betreffende Mitgliedstaat nicht daran gehindert, eine solche Anerkennung an die Bedingung zu knüpfen, dass der Dienstleistungserbringer zu diesem Zweck gewisse Verfahrensschritte unternimmt, die geeignet sind, es den betreffenden Behörden zu ermöglichen, den sozialen Charakter dieses Dienstleistenden zu überprüfen. Doch scheint das luxemburgische Recht in Bezug auf die Steuerbefreiung, die nach der innerstaatlichen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen ist, derartige Schritte nicht vorzuschreiben, was zu überprüfen allerdings Sache des vorlegenden Gerichts ist.
87 Die Anwendung derartiger Bedingungen muss jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität wahren. Somit ist im Ausgangsrechtsstreit zu prüfen, ob anderen Steuerpflichtigen, u. a. gemeinnützigen Vereinen, unter der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens entsprechenden Umständen bereits eine vergleichbare Anerkennung gewährt wurde. Zu diesem Aspekt haben der Kläger des Ausgangsverfahrens und die luxemburgische Regierung in ihren schriftlichen Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs unterschiedliche Standpunkte eingenommen.“
33 Nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage sollte Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie (die Vorgängerbestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG) mit § 6 Abs. 1 Z 7 und 18 UStG 1994 umgesetzt werden. Die Leistungen eines Rechtsanwalts (oder auch eines Vereins oder eines Mitarbeiters dieses Vereins), der vom Gericht zum Sachwalter bestellt wurde, fallen nicht unter die dort (oder unter die in § 6 Abs. 1 Z 23 oder 24 UStG 1994) aufgezählten Leistungen. Damit hat der nationale Gesetzgeber von der in Art. 133 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG eingeräumten Möglichkeit der Beschränkung der Befreiung auf Einrichtungen, die keine systematische Gewinnerzielung anstreben, für die Leistungen eines Sachwalters keinen Gebrauch gemacht, da sich die Regelung nach § 6 Abs. 1 Z 25 UStG 1994 nur auf die in § 6 Abs. 1 Z 18, 23 und 24 UStG 1994 angeführten Leistungen bezieht.
34 Regelungen, nach denen ein (anderer als die in § 6 Abs. 1 Z 7, 18, 23 oder 24 UStG 1994 aufgezählten) Rechtsträger als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt würde, sieht das österreichische Umsatzsteuerrecht nicht vor. Die gerichtliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Sachwalter im Einzelfall begründet noch nicht die Anerkennung dieses (konkreten) Rechtsanwalts als „Einrichtung mit sozialem Charakter“ (vgl. auch EuGH C-846/19, Rn. 83: die Betrauung mit der Tätigkeit durch die Justizbehörde ist nur ein Umstand, der für die Beurteilung dieser Frage zu berücksichtigen ist). Private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht (wie hier ein Rechtsanwalt) können nicht allein deshalb als Einrichtungen mit sozialem Charakter qualifiziert werden, weil sie auch Leistungen mit sozialem Charakter erbringen (EuGH C-846/19, Rn. 72). Entscheidend ist, ob ein Rechtsanwalt sein Unternehmen unter Bedingungen betreibt, die eine Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter rechtfertigen (EuGH C-846/19, Rn. 78).
35 Entgegen der Ansicht des Finanzamts ist es aber für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter nicht erforderlich, dass der Rechtsanwalt nur mehr Leistungen als Sachwalter erbringt (vgl. insbesondere den Tenor EuGH C-846/19: „... in den Grenzen dieser Dienstleistungen ...“; vgl. weiters EuGH 8.6.2006, L. u. P., C-106/05, Rn. 53 f; 15.11.2012, Zimmermann, C-174/11, Rn. 37; diesen Entscheidungen lagen jeweils nationale Regelungen zu Grunde, die eine bestimmte Schwelle für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter vorsahen, was impliziert, dass das Vorliegen nicht begünstigter Umsätze der grundsätzlichen Anerkennung im Übrigen nicht entgegensteht). Anwaltliche Leistungen, die im Rahmen von Sachwalterschaften oder auch außerhalb dieser erbracht werden, sind aber steuerlich schon deswegen nicht begünstigt, weil es sich hiebei nicht um eng mit der Sozialfürsorge verbundene Leistungen handelt (vgl. - neuerlich - EuGH C-846/19, Rn. 66).
36 Ob der Revisionswerber als Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen ist, ist anhand sämtlicher maßgeblicher Umstände zu prüfen (EuGH C-846/19, Rn. 81). Kriterien, die dabei zu berücksichtigen sind, finden sich insbesondere in Rn. 70 und Rn. 83 bis 87 des angeführten Urteils. Wenn eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist, schließt dies eine Anerkennung im Rahmen der Gesamtabwägung nicht jedenfalls aus (vgl. EuGH 10.6.2010, CopyGene, C-262/08, Rn. 71; vgl. auch EuGH 21.1.2016, Les Jardins de Jouvence, C-335/14, Rn. 39).
37 Zu diesen Kriterien ist im vorliegenden Fall festzuhalten, dass entsprechende spezifische Vorschriften bestehen (vgl. - zur im Streitzeitraum anwendbaren Rechtslage - die Schilderung im Vorlagebeschluss vom 11. Dezember 2019, Rz 11 und 13). Demnach ist ein Sachwalter vom Gericht zu bestellen, wenn eine volljährige Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist, alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermag (§ 268 Abs. 1 ABGB). Die Tätigkeit des Sachwalters wird vom Gericht regelmäßig überprüft; der Sachwalter hat hiezu in angemessenen Abständen (mindestens jährlich) dem Gericht zu berichten (§ 130 Außerstreitgesetz). Das Entgelt (und die „Entschädigung“) des Sachwalters werden vom Gericht festgesetzt (§ 137 Abs. 2 Außerstreitgesetz).
38 Dass mit der Tätigkeit des Sachwalters Gemeinwohlinteresse verbunden ist, ist unbestritten und evident (vgl. dazu auch VfGH 6.10.2011, G 38/11 u.a., VfSlg. 19532, Punkt III. 2.3.4).
39 Das Entgelt (und die Entschädigung) des Sachwalters sind aber nach der österreichischen Rechtslage nicht von öffentlichen Stellen (etwa Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern), sondern von der betroffenen Person selbst zu tragen; diese Ansprüche des Sachwalters bestehen insoweit nicht, als durch sie die Befriedigung der Lebensbedürfnisse des Pflegebefohlenen gefährdet wäre (§ 276 Abs. 4 ABGB).
40 Nicht beurteilt werden kann aufgrund fehlender Feststellungen des Bundesfinanzgerichts aber die hinsichtlich der Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität wesentliche Frage, ob anderen Steuerpflichtigen (etwa gemeinnützigen Vereinen) unter entsprechenden Umständen bereits eine vergleichbare Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter gewährt wurde (vgl. EuGH C-846/19, Rn. 87). Es kommt dazu insbesondere auch auf die Praxis der Verwaltung in ähnlichen Fällen an (vgl. EuGH 10.9.2002, Kügler, C-141/00, Rn. 57).
41 Das Bundesfinanzgericht wird daher - allenfalls nach Erörterung mit den Parteien - zu prüfen haben (und Feststellungen dazu zu treffen haben), ob andere Steuerpflichtige (etwa gemeinnützige Vereine), die unter vergleichbaren Umständen wie der Revisionswerber Sachwalterleistungen erbringen, von der im Streitzeitraum geübten allgemeinen Verwaltungspraxis als Einrichtungen mit sozialem Charakter iSd Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG anerkannt und deswegen von der Umsatzsteuer befreit wurden.
42 Das angefochtene Erkenntnis war wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
43 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. Dezember 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62005CJ0106 L.u.P. VORABSchlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019130025.L02Im RIS seit
31.01.2022Zuletzt aktualisiert am
09.03.2022