TE Vwgh Beschluss 2021/12/21 Ra 2021/21/0294

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Veröffentlicht am 21.12.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs9
MRK Art8
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des S G, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried im Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. August 2021, L504 2239369-1/16E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein 1998 geborener türkischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im Juni 2009 mit seiner (türkischen) Mutter zum - in Österreich lebenden und über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügenden - (damaligen) Ehemann der Mutter ein und hält sich seither hier auf. Ihm wurden ab Oktober 2011 Aufenthaltstitel, zuletzt eine bis Juli 2022 gültige „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“, erteilt.

2        Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 28. Februar 2018 erging gegen ihn wegen des Vergehens der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 StGB eine bedingt nachgesehene zweimonatige Freiheitsstrafe. Er hatte am 1. November 2017 im Zuge einer Verfolgungsjagd durch Lenken seines Fahrzeuges nach links eine Streifkollision mit dem ihn bereits überholenden Polizeifahrzeug verursacht und dadurch grob fahrlässig eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit von zwei Polizeibeamten sowie von drei in dem von ihm gelenkten Pkw mitfahrenden Personen herbeigeführt.

3        Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 25. Oktober 2018 wurde er wegen einer am 26. April 2018 vor diesem Gericht bei seiner förmlichen Vernehmung als Zeuge zur Sache begangenen Falschaussage, einer dadurch versuchten Begünstigung (eines des Suchtgifthandels verdächtigten Beschuldigten) und wegen einer dadurch auch begangenen Verleumdung (von Polizeibeamten durch den falschen Vorwurf einer Protokollierung von ihm nicht ausgesagter Umstände und damit des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 StGB) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

Mit weiterem rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 7. Mai 2019 erging gegen den Revisionswerber wegen eines am 13. und 14. November 2017 erfolgten Beitrags zur Falschaussage einer dritten Person vor Gericht und wegen der dadurch versuchten Begünstigung mit Bezug auf das - den Gegenstand der erwähnten Falschaussage bildende - Verbrechen einer absichtlich schweren Körperverletzung eine bedingt nachgesehene Zusatzfreiheitsstrafe von drei Monaten.

4        Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 2. Dezember 2020 erging gegen den Revisionswerber schließlich wegen des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs. 1 StGB und des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 2 Waffengesetz eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, davon neun Monate bedingt nachgesehen, wobei der unbedingte Strafteil zur Gänze durch Anrechnung der Untersuchungshaft vollzogen wurde. Er hatte zwischen September 2017 und 1. November 2020 gegenüber seiner damaligen Lebensgefährtin fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er sie in zahlreichen (insgesamt rund 100) Angriffen an ihren Haaren riss, sie ins Gesicht schlug oder am Hals packte, ihr gegenüber verschiedene Drohungen, etwa mit dem Umbringen, aussprach, und sie am 10. Juli 2020 zu Boden warf und an ihren Haaren riss. Überdies habe er sie am 1. November 2020 gewürgt, wodurch eine Rötung am Hals entstand, und ihr gegenüber geäußert, er werde sie vor den Augen der gemeinsamen Tochter umbringen und ihr die Zähne ausschlagen. Weiters hatte er zwischen 2014 und dem 1. November 2020 unbefugt eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, besessen.

5        Mit Bescheid vom 18. Dezember 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber insbesondere mit Bezug auf diese Tathandlungen gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei, und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot.

6        Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung ergangenen Erkenntnis vom 24. August 2021 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer dagegen erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers nur insoweit statt, als es die Dauer des Einreiseverbotes auf zwei Jahre herabsetzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7        In seiner Begründung legte das BVwG näher dar, dass der Revisionswerber „mangels entsprechender Beschäftigungsdauer“ nicht unter Art. 6 des Beschlusses des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80 (ARB), falle. Da er gemeinsam mit seiner Mutter eingereist sei, die damals noch nicht dem Arbeitsmarkt in Österreich angehört habe, und ihr ehemaliger Ehegatte, zu dem sie mit ihrem Sohn eingereist sei, österreichischer und nicht türkischer Staatsangehöriger gewesen sei, seien auch die Regelungen des Art. 7 ARB nicht anzuwenden. Die demnach maßgeblichen Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 FPG iVm § 11 Abs. 2 Z 1 NAG seien erfüllt.

8        Dabei bezog sich das BVwG neben den bereits erwähnten strafgerichtlichen Verurteilungen und den diesen zugrundeliegenden Tathandlungen auf zahlreiche näher beschriebene rechtskräftig geahndete Verwaltungsübertretungen, etwa wegen „Fahrerflucht“, Lenkens eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand, Verweigerung der Alkoholmessung und Lenkens eines Fahrzeuges vor der Wiederausfolgung seines ihm - wiederholt - entzogenen Führerscheins. Außerdem bestehe ein aufrechtes Waffenverbot.

9        Überdies bezog das BVwG noch ein, dass sich der Revisionswerber am 5. Jänner 2018 in einem durch Suchtmittel (THC und Kokain) und Alkoholkonsum beeinträchtigten Zustand der Anhaltung durch ein ihm nachfolgendes Polizeiauto durch Davonfahren zu entziehen versucht habe. Als der Streifenwagen letztlich überholt und sich quergestellt habe, um den Revisionswerber anzuhalten, sei dieser absichtlich in die linke Seite des besetzten Streifenwagens gefahren und nach der Kollision geflüchtet.

10       Bei seiner Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG insbesondere die lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers, das Vorliegen sehr guter Deutschkenntnisse, die teilweise Berufstätigkeit sowie die Bindungen zur Mutter und seiner Schwester, mit denen er im gemeinsamen Haushalt lebe, zu weiteren in Österreich lebenden Verwandten wie seinem Großvater und Onkel sowie die als Familienleben qualifizierte enge Beziehung zu seiner bei der Mutter und deren Eltern lebenden, am 6. Juni 2018 geborenen (türkischen) Tochter. Aufgrund seines dargestellten Gesamtverhaltens überwiege jedoch das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts seine persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet. Infolge der beschriebenen Manifestierung seiner Gefährlichkeit und des Fehlens ausreichender Dauer eines Wohlverhaltens seien die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes dringend geboten. Da der Revisionswerber allerdings keine Schwerkriminalität zu vertreten habe, er seit seiner letzten Verurteilung keine physische Gewalt mehr ausgeübt habe und erhebliche familiäre, berufliche und private Interessen vorlägen, sei die Dauer des Einreiseverbotes auf zwei Jahre zu reduzieren.

11       Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision erweist sich als unzulässig.

12       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

13       An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

14       In dieser Hinsicht beruft sich der Revisionswerber auf seinen mehr als zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet, dem nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes besonderes Gewicht zukomme, außer es sei dem Fremden ein massives strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen. Außerdem bezieht sich der Revisionswerber erkennbar auf Judikatur zu § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG idF vor dem FrÄG 2018 und macht diesbezüglich geltend, dass seine strafbaren Verhaltensweisen nicht die hierfür erforderliche Intensität erreichten.

15       Dem ist zunächst entgegen zu halten, dass diese zunächst angesprochene Judikaturlinie zu einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt nur für die Frage maßgeblich ist, ob einem unrechtmäßig aufhältigen Fremden ein aus Art. 8 EMRK ableitbares Aufenthaltsrecht zuzugestehen ist, und sie daher in Fällen wie dem vorliegenden, in dem es um eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen dessen Straffälligkeit geht, schon von vornherein nicht einschlägig ist. Außerdem käme diese Judikaturlinie, die sich in der Regel nur auf strafrechtlich unbescholtene Fremde bezieht, im gegenständlichen Fall auch wegen der erheblichen Straffälligkeit des Revisionswerbers nicht zum Tragen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0192, Rn. 16, mwN).

16       In Bezug auf § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG idF vor dem FrÄG 2018 lässt der Revisionswerber den Zeitpunkt seiner - von ihm selbst ins Treffen geführten - Einreise im Juni 2009 außer Acht, woraus sich das Fehlen eines zehnjährigen Zeitraums bis zum Beginn relevanter Kriminalität im November 2017 ergibt. Der Ansicht des BVwG (siehe oben Rn. 7) zur mangels Erlangung einer ARB-Berechtigung zutreffenden Anwendbarkeit des § 52 Abs. 4 FPG tritt der Revisionswerber aber gar nicht entgegen.

17       Unter Berücksichtigung der wiederholten und zum Teil rezenten Gewalttätigkeiten des Revisionswerbers erscheint überdies auch die unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung von ihm gewonnenen persönlichen Eindrucks vorgenommene - in der Revision im Übrigen nicht konkret bekämpfte - Interessenabwägung des BVwG nicht unvertretbar (siehe zu diesem Maßstab für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 133 Abs. 4 B-VG aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 2.9.2021, Ra 2021/21/0089, Rn. 12, mwN).

18       Vertretbar war dabei auch die Annahme, die Unterbindung der aktuell gepflogenen Kontakte zur Tochter seien aufgrund des öffentlichen Interesses an der Verhinderung weiterer Straftaten in Kauf zu nehmen. Den in der Revision erwähnten, für den Revisionswerber sprechenden Gesichtspunkten und dem Kindeswohl wurde durch die Reduktion der Dauer des Einreiseverbotes auf zwei Jahre aber ohnehin ausreichend Rechnung getragen, zumal das BVwG - in der Revision unbekämpft - auch von Besuchsmöglichkeiten der Tochter beim Vater in der Türkei ausgegangen ist.

19       In der Revision werden somit insgesamt keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.

Wien, am 21. Dezember 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210294.L00

Im RIS seit

29.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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