TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/21 Ra 2021/21/0242

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Veröffentlicht am 21.12.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

B-VG Art133 Abs4
FrPolG 2005 §52a Abs1
FrPolG 2005 §57 Abs1 Z2
MRK Art8
VwGG §34 Abs1a
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M A, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2021, W171 2134492-2/2E, betreffend Wohnsitzauflage (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 8. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit im Beschwerdeweg ergangenem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2020 vollumfänglich abgewiesen wurde, wobei unter einem eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei.

2        Mit Mandatsbescheid vom 4. Februar 2021 trug das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber gemäß § 57 Abs. 1 FPG auf, bis zu seiner Ausreise durchgängig in einer bestimmten Betreuungseinrichtung in Fieberbrunn/Tirol Unterkunft zu nehmen. Der Revisionswerber kam diesem Auftrag nicht nach, sondern erhob gegen den Mandatsbescheid Vorstellung. Mit Bescheid des BFA vom 26. April 2021 wurde dem Revisionswerber nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens neuerlich dieselbe Wohnsitzauflage gemäß § 57 Abs. 1 FPG erteilt, und die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde wurde gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG ausgeschlossen.

3        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. Juni 2021 als unbegründet abgewiesen.

4        Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, dass sich der Revisionswerber im bisherigen Verfahren unkooperativ verhalten habe und der ihm auferlegten Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei. Dazu sei er, wie sich aus seinem Verhalten und aufgrund der Angaben im Rahmen der Rückkehrberatung zeige, auch (iSd § 57 Abs. 1 Z 2 FPG) hinkünftig nicht gewillt. Aus dem beharrlichen illegalen Verbleib im Bundesgebiet ergebe sich eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, weshalb das BFA zu Recht davon ausgegangen sei, dass die Voraussetzungen des § 57 FPG gegeben seien.

5        In Bezug auf Art. 8 EMRK kam das Bundesverwaltungsgericht mit näherer Begründung zum Ergebnis, dass durch die Wohnsitzauflage zwar in das in Wien bestehende Privatleben des Revisionswerbers eingegriffen werde, dieser Eingriff aber im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen gerechtfertigt sei.

6        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7        Gegen dieses Erkenntniss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

8        Die Revision, die zutreffend insbesondere darauf verweist, dass die Wohnsitzauflage nur bei Vorliegen von Gefahr im Verzug und auf Grund einer einzelfallbezogenen Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit erfolgen dürfe, erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts - aus den nachstehend angeführten Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

9        Die Erlassung einer Wohnsitzauflage erfordert, wie der Verwaltungsgerichtshof im (auch in der Revision zitierten) Erkenntnis VwGH 17.5.2021, Ra 2020/21/0406, ausführlich dargelegt hat, das Vorliegen von Gefahr im Verzug sowie eine einzelfallbezogene Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit unter Anlegung insbesondere der Kriterien des Art. 8 EMRK. Eine Wohnsitzauflage kann vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK niemals Selbstzweck sein, sondern sie muss - als ultima ratio - einem bestimmten Ziel, nämlich der Durchsetzung einer bestehenden, bislang nicht wahrgenommenen Ausreiseverpflichtung, dienen. Insoweit muss sich die Wohnsitzauflage als unaufschiebbare Maßnahme darstellen, deren Einsatzes es zur Abwendung von Gefahr im Verzug bedarf.

10       Vom Vorliegen einer Situation, die eine solche Maßnahme zum Entgegenwirken einer bestehenden Gefahr im Verzug notwendig macht, wird in aller Regel - so stellte der Verwaltungsgerichtshof in dem genannten Erkenntnis klar - nur dann ausgegangen werden können, wenn eine alsbaldige Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Raum steht, deren Vorbereitung seine Unterkunftnahme in dem konkret in Betracht gezogenen Quartier des Bundes erfordert (siehe auch die darauf verweisenden Erkenntnisse, zuletzt etwa VwGH 2.9.2021, Ra 2021/21/0029).

11       Dass dies vorliegend der Fall sei, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht aufgezeigt. Es bleibt daher völlig offen, weshalb (zudem ohne erkennbare Absehbarkeit eines konkreten Abschiebetermins) bereits jetzt die Verlegung des Revisionswerbers in eine von seinem bisherigen Wohnort in Wien abgelegene „Betreuungseinrichtung“ (mit gemäß § 52a Abs. 1 FPG auf das Gebiet der dortigen Bezirksverwaltungsbehörde eingeschränktem Aufenthalt) als „ultima-ratio-Maßnahme“ geboten erscheint (siehe zum Ganzen auch noch VwGH 17.5.2021, Ra 2021/21/0010).

12       Schon deswegen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

13       Von der Durchführung der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

14       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Dezember 2021

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210242.L00

Im RIS seit

29.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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