Entscheidungsdatum
28.12.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L519 2208380-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA Irak, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.09.2018, Zl. 1106871508-160305561, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.12.2021, betreffend Antrag auf internationalen Schutz und Rückkehrentscheidung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005, der Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige des Irak, der arabischen Volksgruppe zugehörig und sunnitische Muslima.
I.2. Die BF stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 28.02.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Fluchtgrund führte sie aus, dass sie den Irak wegen des Krieges und der Bedrohung durch den IS verlassen habe. Es habe Luftangriffe und Vergewaltigungen von Mädchen gegeben.
I.3. Nach Zulassung des Verfahrens wurde die BF am 02.08.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.
Zu den Fluchtgründen befragt führte die BF im Wesentlichen aus, dass der Einfall der schiitischen Milizen in das sunnitisch dominierte Gebiet der Auslöser für die Flucht gewesen wäre. Die Milizen wollten den IS bekämpfen, hätten aber auch begonnen, unter der sunnitischen Bevölkerung ein Blutbad anzurichten. So wäre sie gezwungen worden, die Gegend fluchtartig zu verlassen.
I.4. Mit im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das Bundesamt aus, dass nicht festgestellt werde konnte, dass der BF im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe.
In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, die BF habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Der BF sei der Status einer subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, weil keine Bedrohung iSd § 8 AsylG glaubhaft gemacht werden konnte. Auch sonstige, in der Person der BF liegende Merkmale, wären diesbezüglich nicht hervorgekommen. Es hätten sich zusammenfassend keine Anhaltspunkte ergeben, dass die BF im Herkunftsstaat mit einer Verletzung der ihnen aus Art 3 EMRK zustehenden Rechte zu rechnen hätten. Der BF sei schließlich auch kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen.
I.7. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.
I.8. Gegen diesen Bescheid wurde von der BF innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass auch den Länderinformationen zu entnehmen sei, dass es im vom IS zurückeroberten Gebieten zu Massenvergeltungsmaßnahmen an sunnitischen Einwohnern kommt. Zudem würde die BF aus politisch-religiösen Gründen verfolgt bzw. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen und deswegen auch individuell verfolgt werden. Die belangte Behörde habe sich nicht mit der Situation von selbstbestimmten Frauen im Irak auseinandergesetzt. Weiter wurden die Anträge gestellt, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Sache selbst zu entscheiden und der BF den Status der Asylberechtigten, in eventu der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und einen Aufenthaltstitel zu erteilen, in eventu den Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Bescheiderlassung an die Behörde zurückzuverweisen.
I.9. Am 27.10.2021 langte die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, hinsichtlich der am 04.06.2021 gestellten Fragen (aktuelle Sicherheitslage in Fallujah, Lage in Fallujah für eine alleinstehende, 24-jährige Frau sunnitischen Glaubens und arabischer Volkszugehörigkeit, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Versorgung mit Strom, Wasser und Nahrungsmitteln) bei Gericht ein.
I.10. In einer Stellungnahme der BF dazu wurde primär auf die mittlerweile deutlich westlich orientierte Lebensweise der BF hingewiesen. Zudem wurden Unterlagen hinsichtlich der Integration der BF übermittelt.
I.11. Am 06.12.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der BF und deren rechtsfreundlicher Vertretung sowie einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durchgeführt.
I.12. Hinsichtlich des Verfahrensganges im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Zur Beschwerdeführerin:
Die BF führt den Namen XXXX , sie ist Staatsangehörige des Irak, Angehörige der arabischen Volksgruppe und sunnitische Muslima. Sie wurde am XXXX in XXXX geboren. Die BF ist ledig und hat keine Kinder. Zuletzt lebte die BF mit ihren Eltern und Geschwistern in Anbar, XXXX . Die Identität der BF steht fest.
Die BF ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.
Die BF besuchte im Irak neun Jahre lang die Schule und lebte bei und von den Eltern. In Bagdad wohnen noch vier Tanten, in Erbil ein Onkel.
Die BF verließ mit ihren Eltern und Geschwistern im Februar 2016 den Irak illegal nach Syrien. Über die Türkei, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien gelangte sie in weiterer Folge im Zuge des Flüchlingsstroms nach Österreich, wo sie am 28.02.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die BF verfügt über einen irakischen Personalausweis im Original.
Die BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war und ist nicht nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Die BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in ihrem Herkunftsstaat vor der Ausreise keine Schwierigkeiten mit staatlichen Organen, Sicherheitskräften oder Justizbehörden zu gewärtigen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF vor der Ausreise Schwierigkeiten aufgrund ihres Bekenntnisses zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bzw. ethnischen Zugehörigkeit zur arabischen Volksgruppe zu gewärtigen hatte.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die BF aufgrund konfessioneller Gründe persönlich bedroht oder verfolgt worden wäre. Es kann weiter nicht festgestellt werden, dass die BF im Irak einen westlich geprägten Lebensstil geführt und deswegen verfolgt worden wäre.
Der BF droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine im Irak drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie im Hinblick auf kriegerische Ereignisse, extremistische Anschläge, stammesbezogene Gewalt oder organisierte kriminelle Handlungen sowie willkürliche Gewaltausübung durch Sicherheitskräfte bei nicht gewalttätigen Protesten gegen die irakische Regierung.
Die BF ist eine gesunde, arbeits- und anpassungsfähige Frau mit grundlegender Ausbildung in der Schule.
Die BF hält sich seit dem 28.12.2016 durchgehend in Österreich auf und lebt bei ihren Eltern und Geschwistern. Die BF bezieht Grundversorgung und konnte keine Einstellungszusage vorlegen. Sie ist in keinem Verein oder Organisation Mitglied. Sie leistete von Oktober 2019 bis April 2020 im Sozialzentrum XXXX ehrenamtlichen Tätigkeiten. Die BF besuchte Deutschkurse und absolvierte erfolgreich die Prüfungen A1, A2 und B1. Zudem besuchte sie ein Jahr ein Abendgymnasium. Weiters legte sie ein Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschluss-Prüfung vor.
Die BF hat in Österreich Verwandte in Form ihrer Eltern, zwei Schwestern, fünf Brüdern und zwei Nichten. Der ältesten Schwester wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, alle anderen Familienmitglieder erhielten bis dato erstinstanzlich negative Bescheide. Die BF pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte. Die BF ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig.
Im gegenständlichen Fall ergab sich weder eine maßgebliche Änderung bzw. Verschlechterung in Bezug auf die die BF betreffende asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat, noch in sonstigen in der Person der BF gelegenen Umständen.
II.1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:
COVID-19
Letzte Änderung: 15.10.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle im Irak empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/countries/irq/, oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Auswirkungen auf die Bewegungs- und die Versammlungsfreiheit
Im März und April 2020 verhängte die Regierung in Bagdad Sperren aufgrund von COVID-19, welche die Bewegungsfreiheit zwischen den Provinzen stark einschränkten und zur Schließung der Grenzübergänge führten (FH 3.3.2021). Die im föderalen Irak am 9.6.2021 verhängte Ausgangssperre ist noch aktiv. Ausgangssperren gelten zwischen 22:00 Uhr und 5:00 Uhr und sind von Freitag bis Sonntag zusätzlich verschärft (IOM 18.6.2021).
Im April und Mai 2020 nutzten die Behörden im Irak die COVID-19-Maßnahmen, um Proteste niederzuschlagen und die Pressefreiheit, das Versammlungsrecht und die Aktivitäten der Opposition stark einzuschränken (FH 3.3.2021).
Nutzer sozialer Medien und Blogger wurden mit Verleumdungsklagen konfrontiert, weil sie die schlechte Reaktion der lokalen Behörden auf die COVID-19-Pandemie kritisierten (FH 3.3.2021).
Auswirkungen auf die Religionsfreiheit
Die Hadsch- und Umrah-Behörde registriert keinen Bürger, der die Umrah- und Hadsch-Pilgerreise antreten möchte, wenn dieser keinen Impfnachweis vorweisen kann (GoI 13.4.2021).
Auswirkungen auf die Wirtschaftslage
Die von den irakischen Behörden und der kurdischen Regionalregierung (KRG) verhängten Abriegelungen verschlimmerten die finanziellen Nöte von Niedriglohnarbeitern und Kleinunternehmern (FH 3.3.2021). Die Erwerbsbeteiligung im Irak war mit 48,7% im Jahr 2019 bereits vor der Ausbreitung des COVID-19-Virus eine der niedrigsten in der Welt. Der wirtschaftliche Abschwung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat die Beschäftigungsmöglichkeiten deutlich verringert und die Löhne gesenkt. Bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) wurde aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen ab April 2020 ein durchschnittlicher Beschäftigungsrückgang von 40% verzeichnet. Am stärksten betroffen waren KMUs im Baugewerbe und in der verarbeitenden Industrie, mit einem Verlust von 52% der Arbeitsplätze, gefolgt vom Lebensmittel- und Agrarsektor, mit einem Verlust von 45% der Arbeitsplätze (IOM 18.6.2021).
Seit dem Ausbruch der Corona-Krise haben staatliche Angestellte im gesamten Land keine regelmäßige und volle Gehaltsauszahlung erhalten (GIZ 1.2021b). Die irakische Regierung hat Schwierigkeiten, die Löhne und Gehälter der sechs Millionen im öffentlichen Sektor Angestellten zu zahlen. Millionen Menschen, die im privaten und informellen Sektor gearbeitet haben, haben ihren Arbeitsplatz und ihre Lebensgrundlage verloren. Nach Schätzungen von UNICEF und der Weltbankgruppe leben im Jahr 2020 schätzungsweise 4,5 Millionen Iraker unter die Armutsgrenze von 1,90 USD pro Tag (IOM 18.6.2021).
Auswirkungen auf die medizinische Versorgung
Die COVID-19-Pandemie hat das ohnehin schon marode irakische Gesundheitswesen stark in Mitleidenschaft gezogen, das mit der großen Zahl von Menschen, die sich mit dem Virus infiziert haben, nur schwer zurechtkommt (FH 3.3.2021).
Anfang 2020, zu Beginn der COVID-19-Krise, pausierten die Gesundheitseinrichtungen die meisten Dienstleistungen und konzentrierten sich auf die Erforschung des Virus und seine Auswirkungen. Im September 2020 nahm der öffentliche Gesundheitssektor seine Arbeit und seine Dienste wieder auf, mit zusätzlichen Vorschriften wie z. B., dass Krankenhäuser nur nach Terminvereinbarung aufgesucht werden dürfen, strengere Hygienemaßnahmen, und dass medizinisches Personal im Rotationsverfahren eingesetzt wird, was längere Wartezeiten zur Folge hat (IOM 18.6.2021).
Im Jahr 2021 arbeiteten sowohl der öffentliche als auch der private Gesundheitssektor fast wieder auf normalem Niveau, jedoch mit hohen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 auf Anweisung des irakischen Gesundheitsministeriums (MoH) (IOM 18.6.2021).
Eine Umfrage deutet darauf hin, dass im Jahr 2020, infolge der COVID-Krise, die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20% ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, stark auf 38% gestiegen ist (gegenüber 7% im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021).
Auswirkungen auf den Bildungszugang
Als Sofortmaßnahme gegen die COVID-19-Pandemie hat das Bundesbildungsministerium Ende Februar 2020 alle Schulen im Irak schließen lassen (UNICEF 20.1.2021). Die Schulen waren von März bis November 2020 geschlossen. Kinder ohne Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten, insbesondere Kinder von Vertriebenen und in Armut lebenden Familien, sind besonders vom Bildungsverlust betroffen. Besonders hart betroffen sind jene Kinder, die bereits vor der Pandemie durch das Leben unter IS-Herrschaft mehrere Jahre an Bildungszugang verloren haben (HRW 13.1.2021). Ende November 2020 wurden die Schulen wieder geöffnet, mit einem Tag Präsenzunterricht pro Woche für jede Klasse (UNICEF 20.2.2021).
Quellen:
? FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
? GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021b): Irak - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
? GoI - Government of Iraq (13.4.2021): Covid-19: Iraqi government amends curfew hours, announces other measures, https://gds.gov.iq/covid-19-iraqi-government-amends-curfew-hours-announces-other-measures/, Zugriff 25.8.2021
? Gov.KRD - Kurdistan Regional Governemnet (30.6.2021): Situation Update Coronavirus (COVID-19), https://gov.krd/coronavirus-en/situation-update/, Zugriff 25.8.2021
? HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043505.html, Zugriff 10.2.2021
? IOM - International Organization for Migration (18.6.2021): Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Iraq and in the Kurdish Region, requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum, Zugriff 21.6.2021
? UNICEF - UN Children's Fund, Central Statistical Organization (20.1.2021): Iraq Humanitarian Situation Report (IDP Crisis): End-Year 2020, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNICEF%20Iraq%20Humanitarian%20Situation%20Report%20%28IDP%20Crisis%29%20-%20End-Year%202020.pdf, Zugriff 25.8.2021
Politische Lage
Letzte Änderung: 15.10.2021
Mit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins und der Ba'ath-Partei im März 2003 (DFAT 17.8.2020, S.9) wurde die politische Landschaft des Irak enorm verändert (KAS 2.5.2018, S.2; vgl. Fanack 8.7.2020). 2005 hielt der Irak erstmals demokratische Wahlen ab und führte eine Verfassung ein, die zahlreiche Menschenrechtsbestimmungen enthält. Das Machtvakuum infolge des Regimesturzes und die Misswirtschaft der Besatzungstruppen führten hingegen zu einem langwierigen Aufstand gegen die US-geführten Koalitionstruppen (DFAT 17.8.2020, S.9). Dieses gemischte Bild ist das Ergebnis der intensiven politischen Dynamik, die durch den Aufstieg des sog. Islamischen Staates auf eine harte Probe gestellt wurde (KAS 2.5.2018, S.2). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2021a).
Gemäß der Verfassung von 2005 ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und eine der Hauptquellen der Gesetzgebung (AA 22.1.2021, S.8; vgl. Fanack 8.7.2020). Das Land ist in 18 Gouvernements (muhafaz?t) unterteilt (Fanack 8.7.2020), jedes mit einem gewählten Rat, der einen Gouverneur ernennt (DFAT 17.8.2020; S.17). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (BS 29.4.2020, S.11; vgl. GIZ 1.2021a, RoI 15.10.2005). An der Spitze der Exekutive steht der Präsident, welcher mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (arab.: majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt wird. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 8.7.2020). Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und repräsentiert die Souveränität und Einheit des Staates (DFAT 17.8.2020, S.17). Das zweite Organ der Exekutive ist der Premierminister, welcher vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt wird (Fanack 8.7.2020; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist zudem Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 8.7.2020; vgl. DFAT 17.8.2020, S.17). Die Legislative wird durch den Repräsentantenrat, d.h. das Parlament, ausgeübt (Fanack 8.7.2020; vgl. KAS 2.5.2018, S.2). Er besteht aus 329 Abgeordneten, die für eine Periode von vier Jahren gewählt werden (FH 3.3.2021; vgl. GIZ 1.2021a). Neun Sitze sind per Gesetz für Minderheiten reserviert (AA 22.1.2021, S.11; vgl. FH 3.3.2021, USDOS 30.3.2021) - fünf für Christen und je einer für Jesiden, Manäer-Sabäer, Schabak und für Faili-Kurden aus dem Gouvernement Wassit (AA 22.1.2021, S.11; vgl. FH 3.3.2021, USDOS 30.3.2021). Die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die Judikative wird vor allem durch den Bundesgerichtshof repräsentiert (KAS 2.5.2018, S.2).
Die Grenzen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative sind jedoch häufig fließend (FH 3.3.2021). Unabhängige Institutionen, die stark genug wären, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren und zu gewährleisten, existieren nicht (GIZ 1.2021a). In Artikel 19 der Verfassung heißt es beispielsweise, dass die Justiz unabhängig ist, und keine Macht über der Justiz steht, außer dem Gesetz selbst. Die Justiz ist jedoch eine der schwächsten Institutionen des Staates, und ihre Unabhängigkeit wird häufig durch die Einmischung politischer Parteien über Patronage-Netzwerke und Klientelismus untergraben (BS 29.4.2020, S.11).
Das politische System des Iraks wird durch das sogenannte Muhasasa-System geprägt. Muhasasa im irakischen Kontext bedeutet die Vergabe von staatlichen Ämtern entlang ethnisch-konfessioneller (Muhasasa Ta’ifiyya) oder parteipolitischer (Muhasasa Hizbiyya) Linien. Der Aufteilung wird ein geschätzter Zensus zu Grunde gelegt, sodass die drei größten Bevölkerungsgruppen (Kurden, Sunniten, Schiiten) ihren Bevölkerungsanteilen gemäß proportional repräsentiert werden. Einige Minderheiten wie Christen und Jesiden sind durch für sie reservierte Sitze repräsentiert. Mit der Vergabe staatlicher Ämter ergibt sich auch ein Zugang zu staatlichen Ressourcen, z.B. durch Zugang zu Budgets von Ministerien oder lokalen Behörden (BAMF 5.2020, S.2f.). Das Muhasasa-System gilt auch für die Staatsführung. So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018; vgl. FH 3.3.2021). Das konfessionelle Proporzsystem im Parlament festigt den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindert die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 2.3.2020, S.8). Das seit 2003 etablierte politische Muhasasa-System steht in weiten Teilen der Bevölkerung in der Kritik (BAMF 5.2020, S.30), insbesondere bei säkularen und nationalen Kräften (GIZ 1.2021a). Seit 2015 richten sich die Demonstrationen im Irak zunehmend auch gegen das etablierte Muhasasa-System als solches. Das Muhasasa-System wird für das Scheitern des Staates verantwortlich gemacht (BAMF 5.2020, S.1). Vom Muhasasa-System abgesehen, stehen viele sunnitische Iraker der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber (AA 2.3.2020, S.8).
Für die Durchführung der Wahlen im Irak ist die Unabhängige Hohe Wahlkommission (IHEC) verantwortlich. Sie genießt generell das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft und der irakischen Bevölkerung. Der Irak hält regelmäßig, kompetitive Wahlen ab. Die verschiedenen parteipolitischen, ethnischen und konfessionellen Gruppen des Landes sind im Allgemeinen im politischen System vertreten. Allerdings wird die demokratische Regierungsführung in der Praxis durch Korruption und Sicherheitsbedrohungen behindert (FH 3.3.2021). Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünften landesweiten Wahlen seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018; vgl. FH 3.3.2021). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September 2018 zusammen (ZO 2.10.2018; vgl. FH 3.3.2021).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (FH 3.3.2021; vgl. DW 2.10.2018, ZO 2.10.2018, KAS 5.10.2018). Bereits ein Jahr nach seiner Ernennung, reichte Premierminister Adel Abdul Mahdi Ende November 2019 als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste seinen Rücktritt ein. Die Proteste richteten sich gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020; GIZ 1.2021a). Nachdem Muhammad Tawfiq Allawi an der Regierungsbildung scheiterte und nach einem Monat am 1.3.2020 seinen Rücktritt verkündete (GIZ 11.2020a; vgl. Standard 2.3.2020; Reuters 1.3.2020), misslang auch dem als säkular geltenden Adnan az-Zurfi (GIZ 1.2021; vgl. Reuters 17.3.2020), wegen des Widerstands der drei schiitischen Koalitionen Fatah, Dawlat al-Qanoon und Hikma, die Bildung einer Regierung. Präsident Salih beauftragte daraufhin am 9.4.2020 den von den schiitischen Blöcken favorisierten Kandidaten Mustafa al-Kadhimi mit der Regierungsbildung (GIZ 1.2021a), auf den sich die großen Blöcke im Parlament und ihre ausländischen Unterstützer letztlich einigten (FH 3.3.2021).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019; Al Monitor 2.11.2020). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass künftig für Einzelpersonen statt für Parteilisten gestimmt werden soll (NYT 24.12.2019; vgl. FH 3.3.2021). Die Gouvernements werden hierzu in eine Reihe neuer Wahlbezirke unterteilt, in denen für jeweils 100.000 Einwohner ein Abgeordneter gewählt wird (FH 3.3.2021). Unklar ist für diese Einteilung jedoch, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (FH 3.3.2021; vgl. NYT 24.12.2019). Einige politische Parteien befürchten Wahlbetrug und lehnen die Einteilung der Wahlbezirke ab. Besonders die traditionellen Parteienblöcke befürchten einen Verlust an Einfluss durch die Aufteilung ihrer Wählerschaft in die neuen, kleineren Wahlbezirke (Al Monitor 2.11.2020).
Die aus den letzten Wahlen im Mai 2018 hervorgegangenen vier größten Allianzen wurden alle von schiitischen Parteien angeführt, wobei unterschiedliche Anstrengungen unternommen wurden, die konfessionellen Grenzen zu überwinden. Unter den verschiedenen kurdischen Parteien dominierten die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Die restlichen Sitze verteilten sich auf sunnitisch geführte Bündnisse, kleinere Parteien und Unabhängige (FH 3.3.2021), wobei die sunnitische politische Szene im Irak durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet ist. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).
Sairoun, das Bündnis aus der schiitischen Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei, erlangte bei den Wahlen 2018 54 Sitze im Parlament, gefolgt von den vier schiitisch geprägten Bündnissen, der Fatah-Koalition mit 47, der Nasr-Allianz mit 42, der Dawlat al Qanoon-Allianz mit 25 Sitzen sowie der Hikma-Koalition mit 19 Sitzen. Die säkulare Wataniya-Allianz, angeführt von Ex-Premier Allawi, errang 21 Mandate. Das größte sunnitische Bündnis unter Osama al-Nujaifi errang 11 Sitze. Die beiden großen Kurden-Parteien KDP und PUK gewannen 25 bzw. 18 Sitze (LSE 7.2018).
Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen, ist eigentlich verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Die Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018). Etliche errangen tatsächlich auch Sitze im Parlament (FH 3.3.2021).
Im Juli 2020 hat Premierminister al-Kadhimi ein Versprechen an die Protestbewegung erfüllt und die Vorverlegung der Parlamentswahlen auf 6.6.2021 beschlossen (Reuters 31.7.2020; vgl. GIZ 1.2021a; Al Monitor 9.12.2020). Auf Vorschlag der Unabhängigen Hohen Wahlkommission (IHEC), die um mehr Zeit für die Umsetzung der rechtlichen und logistischen Maßnahmen bat, hat das Kabinett einstimmig entschieden, die Parlamentswahlen auf den 10.10.2021 zu verschieben. Die Amtszeit für das aktuelle Parlament endet offiziell 2022 (Al Jazeera 19.1.2021). Am Vorabend der Parlamentswahlen im Oktober 2021 sahen sich reformorientierte Kandidaten bei Vorbereitung gegen die etablierten Parteien des Landes anzutreten, zu denen auch bewaffnete Milizen gehören, die das irakische Parlament seit 2018 dominieren, mit beunruhigenden Hindernissen konfrontiert (MEI 22.3.2021).
Nach wiederholten Verzögerungen wurden die ursprünglich für 2017 geplanten Wahlen zu den Provinzräten im November 2019 auf unbestimmte Zeit verschoben (FH 3.3.2021). Das irakische Parlament hatte Ende Oktober 2019 beschlossen, die Provinzräte aufzulösen, mit Ausnahme jener in der Region Kurdistan (KRI). Es beschloss jedoch, die Gouverneure im Amt zu belassen, welche die Aufgaben der Räte übernehmen, aber unter der Kontrolle der Zentralregierung stehen. Das irakische Bundesgericht bestätigte Anfang Juni 2021 nach einer vorausgegangenen Klage die Entscheidung des Parlaments von 2019 (Rudaw 2.6.2021).
Quellen:
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den sog. Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert (FH 3.3.2021). Derzeit ist es jedoch staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen (AA 22.1.2021). Der sog. IS ist zwar offiziell besiegt, stellt aber weiterhin eine Bedrohung dar, und es besteht die ernsthafte Sorge, dass die Gruppe wieder an Stärke gewinnt (DIIS 23.6.2021). Zusätzlich agieren insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen eigenmächtig. Die ursprünglich für den Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (AA 22.1.2021). Die Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Lage im Irak und nutzen ihre Stellung zum Teil, um unter anderem ungestraft gegen Kritiker vorzugehen. Immer wieder werden Aktivisten ermordet, welche die vom Iran unterstützten PMF öffentlich kritisiert haben (DIIS 23.6.2021). Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 22.1.2021). Siehe hierzu Kapitel: Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Im Jahr 2020 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil (USDOS 30.3.2021). Die Gründe dafür liegen in sporadischen Angriffen durch den sog. IS (UNSC 30.3.2021; vgl. USDOS 30.3.2021), in Kämpfen zwischen den irakischen Sicherheitskräften (ISF) und dem IS in dessen Hochburgen in abgelegenen Gebieten des Irak, in der Präsenz von Milizen, die nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen, einschließlich bestimmter Volksmobiliserungskräfte (PMF) sowie in ethno-konfessioneller und finanziell motivierter Gewalt (USDOS 30.3.2021).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA, die am 3.1.2020 in der gezielten Tötung von Qasem Soleimani, Kommandant des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und der Quds Force, und Abu Mahdi al-Muhandis, Gründer der Kataib Hisbollah und de facto Anführer der Volksmobilisierungskräfte, bei einem Militärschlag am Internationalen Flughafen von Bagdad gipfelten, haben einen destabilisierenden Einfluss auf den Irak (DIIS 23.6.2021). Schiitische Milizenführer drohen regelmäßig damit, die von den USA unterstützten Streitkräfte im Irak anzugreifen. Anschläge mit Sprengfallen (IEDs) gegen militärische Versorgungskonvois der USA sind im Irak an der Tagesordnung. Es wird häufig über Anschläge in der südlichen Region des Landes berichtet, darunter in den Gouvernements Babil, Basra, Dhi Qar, Qadisiyyah und Muthanna. Aber auch aus den zentralen Gouvernements Bagdad, Anbar und Salah ad-Din wurden Anschläge gemeldet. Konvois werden oft auf Autobahnen angegriffen, wobei diese Vorfälle selten Opfer oder größere Schäden zur Folge haben (Garda 15.7.2021). Die Zahl der Angriffe pro-iranischer Milizen hat ihren bisherigen monatlichen Höhepunkt mit 26 im April 2021 erreicht und ist seitdem zurückgegangen. Diese Gruppen versuchen, die US-Präsenz im Irak einzuschränken, was ihr auch gelungen ist, da sich die Amerikaner nun auf den Schutz ihrer Truppen konzentrieren, anstatt mit den irakischen Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten (Wing 2.8.2021).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 22.1.2021).
Im Nordirak führt die Türkei zum Teil massive militärische Interventionen durch, die laut der Türkei gegen die PKK gerichtet sind, und die Türkei unterhält temporäre Militärstützpunkte (GIZ 1.2021a). Die Gründung weiterer Militärstützpunkte ist geplant (Reuters 18.6.2020).
Die Regierungen in Bagdad und Erbil haben im Mai 2021 eine Vereinbarung über den gemeinsamen Einsatz ihrer Sicherheitskräfte (ISF und der Peshmerga) in den Sicherheitslücken zwischen den von ihnen kontrollierten Gebieten getroffen (Rudaw 14.5.2021; vgl. Rudaw 21.6.2021). Seitdem wurden mehrere "Gemeinsame Koordinationszentren" eingerichtet (Rudaw 21.6.2021). In vier neuen Gemeinsamen Koordinationszentren, in Makhmour, in Diyala, in Kirkuks K1 Militärbasis und in Ninewa, werden kurdische und irakische Kräfte zusammenarbeiten und Informationen austauschen, um den sog. IS in diesen Gebieten zu bekämpfen (Rudaw 25.5.2021). - Jene Sicherheitslücken werden vom sog. IS erfolgreich ausgenutzt. In einigen Gebieten ist die Sicherheitslücke bis zu 40 Kilometer breit. Der sog. IS gewinnt dort an Stärke und führt tödliche Angriffe auf kurdische und irakische Kräfte und Zivilisten durch (Rudaw 14.5.2021).
Quellen:
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Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Im Dezember 2017 erklärte der Irak offiziell den Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS), nachdem im Monat zuvor mit Rawa im westlichen Anbar, das letzte urbane Zentrum des IS im Irak zurückerobert worden war (Al Monitor 11.7.2021). Der IS stellt nach wie vor eine Bedrohung dar (DIIS 23.6.2021; vgl. MEE 4.2.2021, Garda 15.4.2021). Er ist als klandestine Terrorgruppe aktiv, deren Fähigkeit zu operieren dadurch verringert ist, dass er weder Territorium noch Zivilbevölkerung beherrscht (FH 3.3.2021). Laut irakischen Kommandanten ist der IS nicht mehr in der Lage Territorien zu halten (MEE 4.2.2021).
Nur eine Minderheit der IS-Kräfte ist aktiv in Kämpfe verwickelt, besonders in einigen Gebieten im Nord- und Zentralirak. In Gebieten mit sunnitischer Bevölkerungsmehrheit konzentriert sich der IS auf die Doppelstrategie der Einschüchterung und Versöhnung mit den lokalen Gemeinschaften, während er auf ein erneutes Chaos oder den Abzug der internationalen Anti-Terrortruppen wartet (NI 19.5.2020). Der IS unterhält im gesamten West- und Nordirak Zellen, die gut ausgerüstet und äußerst mobil sind. Es wird angenommen, dass sie die Unterstützung aus den marginalisierten sunnitischen Gemeinschaften in der Region erhalten (Garda 15.4.2021). Schätzungen über die Stärke des IS gehen von 2.000 bis zu 10.000 IS-Kämpfer im Irak, dürften aber zu hoch gegriffen sein und sich zur Hälfte aus Unterstützern und Schläfern zusammensetzen (NI 18.5.2021).
Eine grundlegende geografische Verteilung der IS-Kämpfer lässt sich aus deren Operationen ableiten, die sie gegen die Sicherheitskräfte und die PMF durchführen. Diese betreffen hauptsächlich Anbar, Bagdad, Babil, Kirkuk, Salah ad-Din, Ninewa und Diyala (NI 18.5.2021). Nach der territorialen Niederlage im Jahr 2017 haben sich Zellen des IS weitgehend im Gebietsdreieck zwischen den Gouvernements Salah ad-Din, Diyala und Kirkuk, einschließlich des Hamrin-Gebirges, im Nordirak neu gruppiert. Das Gebiet liegt zwischen den Zuständigkeiten der irakischen Sicherheitskräfte und denen der kurdischen Regionalregierung (KRG), den Peshmerga (MEE 4.2.2021). Um die 2.000 der Kämpfer sollen sich in diversen Dreiecksgebieten konzentrieren: Das Gebiet zwischen Nord, West und Süd Bagdad, das Gebiet zwischen den nördlichen Hamreenbergen, Südkirkuk und dem Osten von Salah-ad-Din, das Gebiet zwischen Makhmour, Shirqat und den Khanoukenbergen im nördlichen Salah ad-Din, das Gebiet zwischen Baaj in Ninewa, Rawa im nördlichen Anbar und dem Tharthar See, das Gebiet zwischen Wadi Hauran, Wadi al-Qathf und Wadi al-Abyad in Anbar (NI 19.5.2020). Auch Informationen irakischer Sicherheitsbeamter deuten darauf hin, dass der IS auf abgelegene Stützpunkte tief in der Wüste in Anbar, Ninewa, in Gebirgszügen, Tälern und Obstplantagen in Bagdad, Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala zurückgreift, um seine Kämpfer unterzubringen und Überwachungs- und Kontrollpunkte zur Sicherung der Nachschubwege einzurichten. Er nutzt diese Stützpunkte auch, um Kommandozentren und kleine Ausbildungslager einzurichten. In urbanen Gebieten hat der IS seine Kämpfer in kleinen mobilen Untergruppen reorganisiert und seine Aktivitäten in Gebieten in denen er noch Einfluss hat verstärkt, indem er die internen Probleme des Iraks ausnutzt und sich vertrautes geografisches Gebiet zunutze macht (NI 18.5.2021).
(Quelle: NI 19.5.2020)
Der verstärkte Einsatz von mobilen Gruppen, die in verschiedenen Gebieten operieren, oft weit entfernt von ihren Stützpunkten oder von Unterkünften wie den Madafat (Anm.: Grundausbildungslager), die sich in unwegsamem Gelände, Felsenhöhlen oder unterirdischen Tunneln befinden, bedeutet, dass die tatsächliche Präsenz der Gruppe nicht anhand ihrer territorialen Ansprüche oder von Ankündigungen irakischer Behörden beurteilt werden kann (NI 18.5.2021). Der IS verlässt sich bei der Planung und Ausführung seiner Aktivitäten auf geografisches Terrain. Obwohl die Gruppe nicht mehr als Staat agiert, wie es in den Jahren des Kalifats von 2014 bis 2018 der Fall war, beziehen sich ihre Kommuniqués, in denen sie sich zu Anschlägen bekennt, immer noch auf das Wilayat als Teil ihrer PR-Strategie (NI 18.5.2021).
Der IS wählt seine Einsatzgebiete nach strategischen Faktoren aus: Ein Faktor ist die Generierung von Finanzmitteln, an den Handelsrouten zum Iran, zu Syrien und zwischen den irakischen Gouvernements, durch Steuern bzw. Schutzgelder, die Transportunternehmen auferlegt werden, sowie aus dem Schmuggel von Medikamenten, Waffen, Zigaretten, Öl, illegalen Substanzen und Lebensmitteln. Ein anderer Faktor ist die Schaffung strategischer Tiefe und sicherer Häfen. So konzentriert sich der IS auf die Ansiedlung in verlassenen Dörfern im Nord- und Zentralirak, wo natürliche geographische Barrieren und Gelände, wie Täler, Berge, Wüsten und ländliche Gebiete, konventionelle Militäroperationen zu einer Herausforderung machen. Hier nutzt der IS Höhlen, Tunnel und Lager zu Ausbildungszwecken, auch um sich Überwachung, Spionage und feindlichen Operationen zu entziehen. Ein weiterer Faktor ist die direkte Nähe zum Ziel. Der IS konzentriert sich beispielsweise auf Randgebiete um Städte und große Dörfer, die eine große Präsenz von einerseits Stammesmilizen oder lokalen Streitkräften und andererseits von nicht-lokalen loyalistischen PMF-Milizen aufweisen, sowie auf niederrangige Beamte, die mit der Regierung für die Vertreibung des IS zusammengearbeitet haben. Solche Gebiete sind häufig instabil aufgrund von Friktionen zwischen den verschiedenen Kräften. Einheimische, vor allem solche, die durch die anwesenden Kräfte geschädigt wurden, können dem IS gegenüber aufgeschlossener sein (CPG 5.5.2020).
Der IS hat die jüngsten Entwicklungen im Irak, wie die weitreichenden öffentlichen Proteste, den Rücktritt der Regierung und die daraus resultierende politische Stagnation, die Machtkämpfe um die Ermordung des Führers der Popular Mobilization Forces (PMF), Abu Mahdi al-Muhandis, durch die USA und den Abzug von US-Streitkräften aus dem Irak, operativ genutzt und in eher kleinen Gruppen von neun bis elf Männern Anschläge in Diyala, Salah ad-Din, Ninewa, Kirkuk und im Norden Bagdads verübt (CPG 5.5.2020).
Seit Sommer 2021 häufen sich Angriffe auf das irakische Stromnetz. Diese Angriffe werden von den Behörden terroristischen Kräften oder dem IS zugeschrieben (AN 14.8.2021). Der IS hat sich zu Dutzenden solcher Anschläge bekannt und bedroht auch andere lebenswichtige Infrastruktur. Es wird angenommen, dass der IS versucht Panik zu verbreiten, indem er das Elektrizitätsnetz angreift (Rudaw 8.8.2021).
Nach der Tötung des "Kalifen" Abu Bakr al-Baghdadi wurde Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi 2019 der neue Anführer des IS. Dieser wurde als Ameer Muhammed Sa'id al-Salbi al-Mawla identifiziert, ein langjähriger Anführer des IS aus Tal Afar im Nordirak (NI 19.5.2020; vgl. CISAC 2021). Dem neuen Kalifen sind zwei fünfköpfige Ausschüsse unterstellt: ein Shura (Beratungs-) Rat und ein Delegiertenausschuss. Jedes Mitglied des letzteren ist für ein Ressort zuständig (Sicherheit, sichere Unterkünfte, religiöse Angelegenheiten, Medien und Finanzierung). Die verschiedenen Sektoren des IS arbeiten auf lokaler Ebene dezentralisiert, halbautonom und sind finanziell autark (NI 19.5.2020). Ende Jänner 2021 wurde der Wali [Anm.: Gouverneur] für den Irak Jabbar Salman Ali Farhan al-Issawi, bekannt als Abu Yasser, in einer Operation als Vergeltung für den IS-Bombenanschlag in Bagdad vom 21.1.2021 im Süden Kirkuks getötet (WIng 4.2.2021; vgl. Al-Monitor 1.3.2021, VOA 7.2.2021). Abu Yasser hatte Berichten zufolge seit 2017 den IS-Aufstand im Irak angeführt (VOA 7.2.2021).
Quellen:
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Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Letzte Änderung: 15.10.2021
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den gesamten Irak im Lauf des Monats Jänner 2021 77 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 92 Toten (46 Zivilisten) und 176 Verwundeten (125 Zivilisten) verzeichnet. 64 dieser Vorfälle werden dem sog. Islamischen Staat (IS) zugeschrieben und 13 pro-iranischen Milizen. Die meisten Opfer gab es in Bagdad mit 145, gefolgt von 36 in Diyala, 28 in Ninewa und 26 in Salah ad-Din (Wing 4.2.2021). Im Februar 2021 waren es 63 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 39 Toten (elf Zivilisten) und 77 Verwundeten (elf Zivilisten). 47 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 16 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer gab es in Diyala mit 38, gefolgt von 26 in Kirkuk und 21 in Anbar (Wing 8.3.2021). Im März 2021 waren es 79 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 39 Toten (16 Zivilisten) und 44 Verwundeten (14 Zivilisten). 59 dieser Vorfälle werden dem IS zugesch