TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/6 L514 2211475-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.07.2021
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Entscheidungsdatum

06.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L514 2211475-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Timo GERERSDORFER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 15.03.2021, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am XXXX 2018 legal mit einem touristischen Schengen-Visum in Österreich ein, wobei ihm das Touristenvisum für den Zeitraum von XXXX 2018 bis XXXX 2018 erteilt wurde. Am XXXX 2018 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierzu wurde der Beschwerdeführer am Tag der Antragstellung von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt

Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass er nach Österreich gekommen sei, um seine beiden Brüder ( XXXX ) zu besuchen und zunächst nicht vorgehabt habe, um Asyl anzusuchen.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass sein Bruder am XXXX 2018 einen Anruf von seiner in der Türkei lebenden Schwester erhalten habe. Er sei danebengestanden als sie angerufen habe. Es sei von seiner Schwester mitgeteilt worden, dass die Polizei bei ihnen zuhause gewesen sei und den Beschwerdeführer gesucht habe, weil er Sympathisant der HDP Partei sei. Diese Partei gelte als terroristische Bewegung. Seitdem der Beschwerdeführer diese Information bekommen habe, fürchte er sich davor in die Türkei zurückzukehren und suche deshalb hier in Österreich um Asyl an.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass er Kurde sei und dem alevitischen Glauben angehöre. Er sei geschieden und habe keine Kinder. Der Beschwerdeführer stamme aus der Stadt XXXX , in der gleichnamigen Provinz, und würden noch seine Eltern ( XXXX ), sein Bruder XXXX und seine Schwester XXXX in der Türkei leben. Der Beschwerdeführer habe zwölf Jahre lang die Schule besucht und eine Ausbildung zum Elektriker absolviert.

Die türkische ID-Card des Beschwerdeführers, XXXX , ausgestellt am XXXX 2011, wurde von der LPD XXXX gemäß §39 Abs. 3 BFA-VG sichergestellt.

2.       Am 08.11.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab befragt zu seiner Gesundheit an, dass er keine Medikamente nehme und auch nicht in ärztlicher Behandlung sei.

Hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnissen wiederholte der Beschwerdeführer seine bisherigen Angaben. Ergänzend führte er aus, dass er in der Türkei ca. 17 oder 18 Jahre lang als Elektriker gearbeitet habe. Seit 2011 sei er geschieden und habe er keine Kinder. Seine Eltern, seine Schwester und ein Bruder würden nach wie vor in der Türkei leben. Mit diesen stehe er regelmäßig in telefonischen Kontakt. Darüber hinaus würden noch mehrere Onkel und Tanten in der Türkei leben. Sein Vater sei im Ruhestand und seine Mutter sei Hausfrau, diese würden in der Stadt XXXX leben. Sein ältester Bruder arbeite als Buchhalter, sei verheiratet und lebe in XXXX . Seine Schwester sei ebenfalls berufstätig und lebe in XXXX . Er selbst habe keine Besitztümer in der Türkei, seine Eltern würden jedoch über ein Haus in XXXX , eine Wohnung in XXXX und ein Geschäft verfügen. In Österreich würden seine beiden jüngeren Brüder leben. Er selbst sei ursprünglich nach Österreich gereist, um seine beiden Brüder zu besuchen und einige Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.

Hinsichtlich seiner aktuellen Ausreisegründe führte der Beschwerdeführern aus, dass er die Türkei nicht verlassen habe wollen, um in Österreich um Asyl anzusuchen. Am XXXX 2018 sei die türkische Polizei zu seiner Schwester in der Stadt XXXX gegangen und habe nach ihm gefragt. Seine Schwester habe der Polizei gesagt, dass er nicht in der Stadt sei und sich im Ausland befinde, woraufhin die Polizei wieder gegangen sei. Er denke, dass dies kein normaler Zustand sei. Vor den Nationalratswahlen am 17.06.2018 habe er für die HDP Partei in den Städten XXXX und XXXX Flugblätter verteilt, in welchen auf die Unterdrückung der Kurden aufmerksam gemacht worden sei. Er denke, dass der Besuch der Polizei bei seiner Schwester aufgrund seiner politischen Aktivität stattgefunden habe. Nach den Wahlen seien viele HDP Sympathisanten in Polizeigewahrsam genommen worden. Mitglied der HDP Partei sei er nicht. Da in seinem Wohnort viele Menschen Vorurteile gegenüber Kurden haben würden und er seinen Job nicht verlieren habe wollen, habe er seine Sympathie gegenüber der HDP geheim gehalten. Nachdem er die Information bezüglich des Besuchs der Polizei von seiner Schwester bekommen habe, habe er seinen Reisepass vernichtet und sich mit seinen Brüdern beraten. Der Beschwerdeführer selbst habe jedoch nicht mit seiner Schwester gesprochen, sondern habe sein Bruder mit dieser telefoniert und der habe es ihm mitgeteilt. Ein Haftbefehl gegen ihn bestehe in der Türkei nicht und habe er auch noch nie Probleme mit der Polizei oder den türkischen Behörden gehabt. Weder gebe es aktuell eine Verfolgung gegen seine Person, noch habe es eine solche Verfolgung in der Vergangenheit geben.

3.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 22.11.2018, Zl. XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer keinen Sachverhalt vorgebracht habe, welcher eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung untermauere. Die Angaben des Beschwerdeführers zu den Fluchtgründen seien äußerst vage geblieben und habe er sein Vorbringen auch auf entsprechende Nachfragen nicht maßgeblich konkretisieren können. Weiters habe der Beschwerdeführer zuerst angegeben, mit seiner Schwester telefoniert zu haben und dies kurze Zeit später bestritten und ausgeführt, dass sein Bruder mit seiner Schwester telefoniert habe. Überhaupt würde es sich bei dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Zusammenhang zwischen dem Polizeibesuch und dem Verteilen der Flugblätter um reine Spekulationen des Beschwerdeführers handeln. Die von ihm erwähnte Sympathie für die HDP Partei sei nicht geeignet, begründete Furcht vor Verfolgung iSd GFK glaubhaft zu machen, zumal selbst die Mitgliedschaft in einer politischen Partei alleine nicht reiche, um eine Asylgewährung zu rechtfertigen. Das Asylgesetz verlange vielmehr die begründete Furcht vor einer konkret gegen Asylwerber selbst gerichtete Verfolgungshandlungen von gewisser Intensität. Eine solche sei jedoch den Ausführungen des Beschwerdeführers nicht zu entnehmen. Bezüglich seiner kurdischen Abstammung und seiner Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Alewiten, habe der Beschwerdeführer zwar auf die allgemeine schlechte Lage hingewiesen, was sich zum Teil auch mit den Länderinformationen der Staatendokumentation decke, konkrete Vorfälle habe er jedoch nicht vorbringen können. Die Zugehörigkeit eines Asylwerbers zu einer ethnischen oder religiösen Volksgruppe allein sowie deren schlechte allgemeine Situation sei jedoch nicht geeignet, eine Asylgewährung zu rechtfertigen.

Spruchpunkt II. begründete das BFA zusammengefasst damit, dass dem Beschwerdeführer keine Verletzung der von der EMRK gewährleisteten Rechte im Heimatland drohe.

Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung hielt das BFA fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise gefunden werden könnten, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde.

Mit Verfahrensanordnung vom 23.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtwegig zu Seite gestellt.

4.       Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schriftsatz vom 17.12.2018, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In der Beschwerde wurde im Wesentlichen das vom Beschwerdeführer Gesagte wiederholt und ausgeführt, dass die Behörde es unterlassen habe, den Bruder des Beschwerdeführers als Zeugen zu laden, obwohl dessen Aussage das Vorbringend es Beschwerdeführers hätte bestätigen können. Die nunmehr durch die polizeiliche Suche ihren bisherigen Höhepunkt erreicht habende Verfolgungssituation habe schon in der Vergangenheit ihren Anfang genommen, allein deswegen, weil der Beschwerdeführer Kurde und Alevit sei und auch viele Freunde habe, die in der HDP als Parteimitglieder tätig seien. Bei näherer Befragung hätte der Beschwerdeführer angeben können, dass er immer, wenn er aus der Türkei ausreise, seine Telefonkontaktliste lösche, sodass keine Freunde oder Kontakte zur HDP mehr aufscheinen würden. Dies würden alle Personen, die in irgendeiner Weise regimekritisch seien, so machen. Die vom BFA angeführten Widersprüche bezüglich des Telefonates mit der Schwester des Beschwerdeführers seien unverständlich, zumal der Beschwerdeführer schon in der Erstbefragung angegeben habe, dass er nicht selbst mit seiner Schwester telefoniert habe, sondern sein Bruder. Richtig sei, dass der Beschwerdeführer zwar nur vermute, wegen der Verteilung von Flugzetteln vor den Parlamentswahlen dieses Jahres von der Polizei aufgesucht worden zu sein, allerdings würde sich dieser Verdacht des Beschwerdeführers erhärten, da er sonst keine Begründung für ein derartiges Vorgehen der Polizei wüsste. Der Beschwerdeführer habe auch nie behauptet, alleine wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe bisher Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein, sondern sei seinen Angaben zu entnehmen, dass das Zusammenspiel von kurdischer Abstammung, Alevitentum und Aktivitäten vor den Parlamentswahlen in der gegenwärtigen politischen Lage in der Türkei zu seiner Verfolgung geführt habe. Dass die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers in der Türkei nicht verfolgt werden würden, würde nichts über eine etwaige Verfolgung des Beschwerdeführers selbst aussagen.

5.       Mit Schriftsatz vom 05.03.2019 ersuchte der Standesamts- und Staatsbürgerschaftsverband XXXX um Bekanntgabe des Verfahrensstandes, da der Beschwerdeführer am Standesamt XXXX eine Ehe schließen wolle. Am XXXX 2019 langte eine Mitteilung über die Ermittlung der Ehefähigkeit ein.

Am XXXX 2019 heiratete der Beschwerdeführer die österreichische Staatsbürgerin XXXX .

Mit Schriftsatz vom 11.06.2019 wurde dem Bundesverwaltungsgericht das Vollmachtverhältnis von RA Mag. Timo Gerersdorfer bekanntgegeben und um Anberaumung einer mündlichen Verhandlung sowie um zeugenschaftliche Einvernahme der Ehegattin des Beschwerdeführers angesucht. Dem Schriftsatz wurde ein Konvolut an Unterlagen beigelegt. Neben Dokumenten betreffend die Integration des Beschwerdeführers, wurden auch viele Unterlagen bezüglich der Ehegattin des Beschwerdeführers und deren minderjährigem Kind in Vorlage gebracht. Zur Ehe des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass die vorliegende Konstellation dazu beitrage, einen gesellschaftlichen und sozialen Notstand hintanzuhalten; dies sowohl in Bezug auf die Ehegattin des Beschwerdeführers, als auch in Bezug auf das minderjährige Kind. Da die Ehegattin des Beschwerdeführers „türkisch-stämmig“ sei, gebe es keine Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Ehegatten. Da eine legale Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers derzeit nicht möglich sei, müsse dessen Ehegattin samt mj. Kind von sozialamtlicher Unterstützung abhängig sein.

Mit Schriftsatz vom 01.08.2019 erfolgte eine Dokumentenvorlage seitens des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers. Vorgelegt wurden die Ausbildungszeugnisse des Beschwerdeführers sowie eine Liste der „Mangelberufe 2019“, unter welcher auch Berufe aus dem Gebiet der Elektrotechnik aufgelistet seien. Weiters wurde eine Einstellungszusage vorgelegt und neuerlich um Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und zeugenschaftliche Einvernahme der Ehegattin des Beschwerdeführers angesucht.

Mit Schriftsatz vom 04.03.2021 erfolgte eine Vertagungsbitte bezüglich der für den 05.03.2021 anberaumten mündlichen Verhandlung und wurde eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung des Beschwerdeführers vorgelegt.

Am 04.03.2021 wurde die RA-Kanzlei des Rechtsvertreters telefonisch kontaktiert und der dortigen Mitarbeiterin mitgeteilt, dass die übermittelte Arbeitsunfähigkeitsmeldung des Beschwerdeführers nicht ausreichend sei. Sollte der Beschwerdeführer aufgrund seiner Erkrankung nicht zur Verhandlung erscheinen können, so sei umgehend eine ärztliche Bestätigung über dessen Reiseunfähigkeit dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen. Ansonsten finde die Verhandlung statt und werde ggf. in Abwesenheit des Beschwerdeführers verhandelt.

Mit Schriftsatz vom 04.03.2021 erfolgte eine Ergänzung der Vertagungsbitte und wurde ein Arztbrief vorgelegt, in welchem die Unterlassung von geplanten Reisetätigkeiten bzw. Einhaltung von Bettruhe und körperliche Schonung empfohlen wird.

Mit Schriftsatz vom 05.03.2021 wurde der Beschwerdeführer zur Mitnahme seines türkischen Reisepasses im Original zur Verhandlung aufgefordert.

6.       Am 15.03.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Ehegattin sowie seines rechtsfreundlichen Vertreters durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, die der Antragstellung zugrundeliegenden Umstände neuerlich umfassend darzulegen.

Mit der Ladung wurden dem Beschwerdeführer bzw seinem rechtsfreundlichen Vertreter die Länderfeststellungen der Türkei (LIB Stand 08.04.2020) übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt in der Verhandlung dazu Stellung zu nehmen, wovon auch Gebrauch gemacht wurde.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt XXXX und wurde am XXXX in XXXX in der Türkei geboren.

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger der Türkei, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist Alevit. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von XXXX . Der Beschwerdeführer lebte mit seinen Familienangehörigen in den Sommermonaten im Haus seiner Eltern in XXXX und in den Wintermonaten in einer Mietwohnung seiner Eltern in der Stadt XXXX . Seine Muttersprache ist kurdisch und er beherrscht auch die türkische Sprache.

Der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise mit seiner Schwester in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX . Er hat zwölf Jahre lang die Schule besucht und eine Ausbildung zum Elektriker abgeschlossen. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Beschwerdeführer in der Türkei als Elektriker, diesen Beruf übte der Beschwerdeführer ca. 17 oder 18 Jahre lang aus. In seiner Kindheit half der Beschwerdeführer darüber hinaus seinen Eltern in der Viehwirtschaft.

Ein Großteil der Familie des Beschwerdeführers, seine Eltern, seine Schwester und einer seiner Brüder, lebt nach wie vor in der Türkei. Darüber hinaus befinden sich auch noch zahlreiche weitere Verwandte in der Türkei. Seine Eltern und seine Schwester leben in der Stadt XXXX in einem gemeinsamen Haushalt, sein Bruder ist verheiratet und lebt in XXXX . Der Vater des Beschwerdeführers bezieht eine staatliche Pension, die Mutter ist Hausfrau. Diese besitzen ein Haus in XXXX sowie ein Geschäft in XXXX . Der Bruder des Beschwerdeführers ist Buchhalter und seine Schwester hat einen Universitätsabschluss und arbeitet als Sekretärin/Beraterin in einem Krankenhaus. Der Beschwerdeführer hat regelmäßigen telefonischen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in der Türkei.

Der Beschwerdeführer reiste am XXXX 2018 legal mit einem touristischen Schengen-Visum in Österreich ein, wobei ihm das Touristenvisum für den Zeitraum von XXXX 2018 bis XXXX 2018 erteilt wurde. Am XXXX 2018 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz. Seinen türkischen Reisepass, welchen er bei der Einreise in das österreichische Bundesgebiet mit sich führte, zerstörte der Beschwerdeführer vor seiner Antragstellung auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer verfügt über einen türkischen Reisepass, Nr. XXXX , welcher am XXXX 2019 ausgestellt wurde. Trotz seiner Mitwirkungspflicht und der ausdrücklichen Aufforderung zur Mitnahme seines Reisepasses im Original zur mündlichen Verhandlung am 15.03.2021, unterließ es der Beschwerdeführer diesen dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen.

Der Bruder des Beschwerdeführers XXXX reiste im Jahr 2001 in das österreichische Bundesgebiet ein und lebt seither hier. Ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers XXXX lebt und studiert seit ca. sieben Jahren in XXXX . Der Beschwerdeführer lebt aktuell in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem Bruder XXXX und erhält von seinen beiden Brüdern finanzielle Unterstützung. Ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Brüdern besteht jedoch nicht. In Österreich leben des Weiteren zwei Onkel, XXXX und XXXX , sowie ein Cousin des Beschwerdeführers. In Deutschland und in den Niederlanden lebt jeweils eine Tante des Beschwerdeführers. Auch zu diesen Familienangehörigen besteht kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis.

Der Beschwerdeführer ist seit XXXX 2019 mit der österreichischen Staatsbürgerin XXXX verheiratet. Die Gattin ist Mutter von fünf Kindern, wobei drei der Kinder bei Pflegeeltern aufgewachsen sind und zwei der Kinder (ca. 17 und 20 Jahre alt) bei ihr. Gemeinsame Kinder haben sie keine. Die Ehegattin ist auch nicht schwanger. Der Beschwerdeführer lebte vom XXXX 2019 bis zum XXXX 2021 mit seiner Gattin und deren minderjähriger Tochter im gemeinsamen Haushalt. Aktuell lebt er von seiner Ehegattin getrennt, besucht diese jedoch täglich unter Tags und hilft auch im Haushalt mit. Zwischen dem Beschwerdeführer und der Tochter seiner Gattin kam es widerholt zu Streitigkeiten, was ein Grund dafür war, dass der Beschwerdeführer aus der gemeinsamen Wohnung auszog.

Die Ehegattin des Beschwerdeführers steht wegen psychischen Erkrankungen (Panikstörung, rezidivierende depressive Störung, Benzodiazepinabhängigkeit) seit ca. 16 Jahren in fachärztlicher Therapie und unter Medikation. Im XXXX 2017 absolvierte sie einen stationären Aufenthalt zum Benzodiazepinentzug und sie hat auch bereits einige Jahre Psychotherapie in Anspruch genommen. Aktuell besucht sie einmal im Monat einen Neurologen und nimmt Antidepressiva, Schlaftabletten und angstlösende Tabletten ein. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ist sie arbeitsunfähig und erhält eine Pension.

Der Beschwerdeführer und seine Ehegattin bestreiten ihren Lebensunterhalt aus der Pension der Gattin. Zwischen den beiden besteht kein finanzielles oder anderweitiges (wechselseitiges) Abhängigkeitsverhältnis, insbesondere auch kein Pflegeverhältnis. Eine ausgeprägte emotionale Nähe zwischen den beiden trat im Verfahren nicht zutage. Im Falle der Rückkehr in die Türkei könnte der Beschwerdeführer den Kontakt zu seiner Gattin auf unterschiedlichem Wege aufrechterhalten (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch Urlaubsaufenthalte etc.). Es steht dem Beschwerdeführer zudem frei, einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege der Beantragung eines Aufenthaltstitels und einer anschließenden rechtmäßigen Einreise herbeizuführen. Der Beschwerdeführer und seine Gattin waren sich beim Eingehen der Beziehung und allen nachfolgenden Schritten, insbesondere der erfolgten Eheschließung, des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst.

Am XXXX 2020 wurde der Ehegattin des Beschwerdeführers am Amtstag von einer Richterin des BG XXXX die Rechtsauskunft erteilt, dass die Einbringung einer Unterhaltsklage gegen den Beschwerdeführer derzeit aussichtslos sei und ein Verfahrenshilfeantrag zur Einbringung einer Unterhaltsklage wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen werden würde.

Der Beschwerdeführer ist bisher noch keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit im Bundesgebiet nachgegangen. Leistungen aus der österreichischen Grundversorgung hat er lediglich wenige Tage, von 01.08.2018 bis 03.08.2018, bezogen. Er ist nicht krankenversichert. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage der Firma „ XXXX “ in XXXX . Er ist kein Mitglied eines Vereines in Österreich und auch ansonsten nicht ehrenamtlich tätig. Nennenswerte soziale Bindungen in Österreich – abgesehen von seinen Familienangehörigen – hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht. Er verfügt über einige Bekannte, bei welchen es sich um Freunde seines Bruders bzw. seiner Ehegattin handelt. Er selbst verfügt über nicht viele Freunde. Zu diesen Personen besteht kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis und wurde auch eine besonders enge Beziehung nicht vorgebracht oder nachgewiesen. Der Beschwerdeführer hat an Deutschkursen auf dem Niveau A1 und A2 teilgenommen und spricht die deutsche Sprache auf gutem Niveau. Einen Sprachnachweis hat er bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht erbracht.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsland Türkei Schwierigkeiten aufgrund seiner politischen Ansichten, der Religion, der Volksgruppenzugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hatte.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Bei dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach ihm aufgrund seiner Sympathie zur HDP und dem Verteilen von Flugblättern Repressalien durch die türkischen Behörden drohen würden, handelt es sich um eine bloße Mutmaßung.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatstaat Türkei einer staatlichen Verfolgung aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, seines alevitischen Glaubens und seiner Sympathie für die HDP („Halklar?n Demokratik Partisi“) ausgesetzt ist.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

1.3.    Zur aktuellen Lage in der Türkei wird auf folgende Feststellungen verwiesen (Kurzinformation der Staatendokumentation vom 29.11.2019, aktualisiert am 08.04.2020 die Türkei betreffend):

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlaments und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).

Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischerweise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Stimmen stärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31. März hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6. Mai schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert von der Macht in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt XXXX (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustands sind viele seiner Verordnungen in die ordentliche Gesetzgebung aufgenommen worden. Das neue Präsidialsystem hat etliche der bisher bestehenden Elemente der Gewaltenteilung aufgehoben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Dies hat zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Verwaltung und der Justiz geführt. Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen; gegen Gesetze Veto einzulegen, und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z.B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind inzwischen dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Zunehmende politische Polarisierung, insbesondere im Vorfeld der Gemeinderatswahlen vom März 2019, verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft. Laut europäischer Kommission muss die parlamentarische Immunität gestärkt werden, um die Meinungsfreiheit der Abgeordneten zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018).

Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands in Gewahrsam genommen und mehr als 78.000 wegen Terrorismusbezug verhaftet, von denen 50.000 noch im Gefängnis sitzen (EC 29.5.2019). Die rund 50.000 wegen Terrorbezug Inhaftierten machen 17% aller Gefängnisinsassen aus (AM 4.12.2018).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_ %C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T %C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 4.10.2019

?        Anadolu Agency (23.6.2019): CHP's Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https://www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/ 1513613, Zugriff 4.10.2019

?        AM – Al Monitor (4.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded prisons-face-serious-problems.html, Zugriff 4.10.2019

?        bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (9.7.2018): Das "neue" politische System der Türkei, https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/255789/das neue-politische-system-der-tuerkei, Zugriff 3.10.2019

?        CoE-VC – council of europe - european commission for democracy through law (venice commission) (13.7.2017): Turkey - Opinion - The Amendments to the Constitution adopted by the Grand National Assembly on 21 January 2017 and to be submitted to a National Referendumon 16 April 2017 [Opinion No. 875/2017], S.29, Abs.130, https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=cdl ad(2017)005-e, Zugriff 3.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?        FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage fuer-erdogans-akp-in-istanbul-16250529.html, Zugriff 4.10.2019

?        HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 4.10.2019

?        HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 4.10.2019

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 4.10.2019

?        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer-erdogans-akp-chp-kandidat imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.1490981, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 4.10.2019

?        OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report,https://www.osce.org/odihr/ elections/turkey/397046?download=true, 3.10.2019

?        Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die tuerkischen-Grossstaedte, Zugriff 4.10.2019

?        Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https:// derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung in-Istanbul-in-Fuehrungin-Istanbul, Zugriff 4.10.2019

?        ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 4.10.2019

Sicherheitslage

Im Juli 2015 flammte der bewaffnete Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder auf; der sog. Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Türkei musste zudem von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK (bzw. ihrer Ableger), des sogenannten Islamischen Staates sowie – in sehr viel geringerem Ausmaß – auch linksextremistischer Gruppierungen, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), ausgesetzt. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 14.6.2019). Dennoch ist die Situation im Südosten trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds weiterhin angespannt. Die Regierung setzte die Sicherheitsmaßnahmen gegen die PKK und mit ihr verbundenen Gruppen fort (EC 25.9.2019). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (IHD) kamen 2018 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 502 Personen ums Leben, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (IHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (IHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (IHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte 2018 sogar 603 Personen, die ums Leben kamen. Von Jänner bis September 2019 kamen 361 Personen ums Leben (ICG 4.10.2019). Bislang gab es keine sichtbaren Entwicklungen bei der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erreichung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 29.5.2019).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 4.10.2019). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. In den genannten Gebieten werden immer wieder „zeitweilige Sicherheitszonen“ eingerichtet und regionale Ausgangssperren verhängt. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre (Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak), aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Ar? (AA 8.10.2019a). Das BMEIA sieht ein ? hohes Sicherheitsrisiko in den Provinzen A?r?, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbak?r, Gaziantep, Hakkâri, Kilis, Mardin, ?anl?urfa, Siirt, ??rnak, Tunceli und Van, wo es immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten kommt. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko gilt im Rest des Landes (BMEIA 4.10.2019).

Die Sicherheitskräfte verfügen auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen (EDA 4.10.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw %C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl _und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_ %28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 8.10.2019

?        AA – Auswärtiges Amt (8.11.2019a): Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/ tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 8.10.2019

?        BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (8.11.2019): Türkei – Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 8.10.2019

?        EC - European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 3.10.2019

?        EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (4.10.2019): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 4.10.2019ICG – Internal Crisis Group (4.10.2019): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 7.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-report-on-human-rights-violations-in-eastern-and southeastern-anatolia/, Zugriff 4.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_balance-sheet-1.pdf, Zugriff 4.10.2019

?        IHD – Human Rights Association - ?nsan Haklar? Derne?i (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/ 2019/05/2018-SUMMARY -TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN TURKEY.pdf, Zugriff 4.10.2019

Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei, PKK, die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt. Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Seit 1984 haben PKK-Attentate und Operationen mehr als 40.000 militärische und zivile Opfer gefordert. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2019). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 6.2019) 2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch HDP-Politiker zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der AKP im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2019). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2019). Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich im Berichtszeitraum (2018) fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH-D 6.2019).


Quellen:

?        BMIBH-D - Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (6.2019): Verfassungsschutzbericht 2018, https://www.verfassungsschutz.de/embed/ vsbericht-2018.pdf, Zugriff 9.10.2019

?        BMI-D - Bundesministerium des Innern [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download manager/_vsbericht-2015.pdf, Zugriff 25.10.2019 ? ÖB - Österreichische Botschaft - XXXX (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 25.10.2019

Rechtsschutz/Justizwesen

Der zwei Jahre andauernde Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hat zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit geführt (EP 13.3.2019; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vgl. EC 29.5.2019, USDOS 11.3.2020). Negative Entwicklungen bei der Rechtsstaatlichkeit, den Grundrechten und der Justiz wurden nicht angegangen (EC 29.5.2019). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme wie der Missbrauch der Untersuchungshaft verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). Neben der Aushöhlung der verfassungsrechtlichen und strukturellen Garantien zur Wahrung der Unabhängigkeit der Richter und Maßnahmen, die sich direkt auf diese Unabhängigkeit ausgewirkt haben, wie z.B. fristlose Entlassungen und Einstellungen, gibt es Hinweise auf eine zunehmende Parteilichkeit der Justiz gegenüber politischen Interessen, was durch die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt wurde (CoE-CommDH 19.2.2020). Das Europäische Parlament (EP) verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind (EP 13.3.2019). Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen im Jahr 2019 manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise in den Fällen, in denen Akademiker ein Ende der staatlichen Gewalt in kurdischen Gebieten im Jahr 2016 gefordert hatten (FH 4.3.2020). Die Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems trug zu den Bedenken bei, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden. Die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz ist nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) zu stärken. An der Einrichtung der Friedensrichter in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i), die zu einem parallelen System werden könnten, wurden keine Änderungen vorgenommen (EC 29.5.2019). Die Entlassung von mehr als 4.800 Richtern und Staatsanwälten führt auch zu praktischen Problemen, da für die notwendigen Nachbesetzungen keine ausreichende Zahl an entsprechend ausgebildeten Richtern und Staatsanwälten zur Verfügung steht (Erfordernis des zwei-jährigen Trainings wurde abgeschafft). Die im Dienst verbliebenen erfahrenen Kräfte sind infolge der Entlassungen häufig schlichtweg überlastet. In einigen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonierten Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa denjenigen, betreffend Terrorismusvorwürfe, leidet die Qualität der Urteile häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und oberflächlicher Beweisführung (ÖB 10.2019). Die Gewaltenteilung ist in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Art. 138 der Verfassung regelt die Unabhängigkeit der Richter (AA 14.6.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die EU-Delegation in der Türkei kritisiert jedoch, dass diese Verfassungsbestimmung durch einfach-rechtliche Regelungen unterlaufen wird. U.a. sind die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2019). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf der 22 Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet, Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK teils vom Staatspräsidenten, teils vom Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen der Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde auf 13 reduziert (AA 14.6.2019). Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Dan??tay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyu?mazl?k Mahkemesi) (ÖB 10.2019). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 14.6.2019). 2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde in der Hauptsache auf Strafkammern übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (sulh ceza hakimli?i) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen (ÖB 10.2019). Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (EC 29.5.2019; vgl. ÖB 10.2019). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019). Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2019). Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte. So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Auch andere höhere Gerichte werden von untergeordneten Instanzen der Rechtsprechung ignoriert. Entgegen dem Urteil des Obersten Kassationsgerichtes bestätigte im November 2019 ein untergeordnetes Gericht in Istanbul seine Verurteilung von zwölf Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet, denen unterschiedliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorgeworfen wurden (AM 21.11.2019). Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Beweisanträge dazu werden zurückgewiesen. Insgesamt kann – jedenfalls in den Gülenisten-Prozessen – nicht von einem unvoreingenommenen Gericht und einem fairen Prozess ausgegangen werden (AA 14.6.2019). Private Anwälte und Menschenrechtsbeobachter berichteten von einer unregelmäßigen Umsetzung der Gesetze zum Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere in Bezug auf den Zugang von Anwälten. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 11.4.2020). So wird gegen Anwälte strafrechtlich ermittelt, sie werden willkürlich inhaftiert und in Verbindung mit den angeblichen Verbrechen ihrer Mandanten gebracht. Die Regierung erhebt Anklage wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen gegen Anwälte, die Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Hierbei gibt es keine oder nur spärliche Beweise für eine solche Mitgliedschaft. Die Gerichte beteiligen sich an diesem Angriff gegen die Anwaltschaft, indem sie die Betroffenen zu langen Haftstrafen aufgrund von Terrorismusvorwürfen verurteilen. Die Beweislage hierbei ist meist dürftig und das Recht auf ein faires Verfahren wird ignoriert. Dieser Missbrauch der Strafverfolgung gegen Anwälte wurde von Gesetzesänderungen begleitet, die das Recht auf Rechtsbeistand für diejenigen untergraben, die willkürlich wegen Terrorvorwürfen inhaftiert wurden (HRW 10.4.2019). Seit dem Putschversuch 2016 gibt es eine Verhaftungskampagne, die sich gegen Anwälte im ganzen Land richtet. In 77 der 81 Provinzen der Türkei wurden Anwäl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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