TE Bvwg Beschluss 2021/7/9 L511 2233869-1

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Veröffentlicht am 09.07.2021
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Entscheidungsdatum

09.07.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
GSVG §25
VwGVG §8a

Spruch


L511 2233869–1/5Z

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Sandra Tatjana JICHA als Vorsitzende über den Antrag von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch RA MMag. DOPPELBAUER, auf Bewilligung der Verfahrenshilfe zur weiteren Führung des Verfahrens gegen den Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen Landesstelle Oberösterreich vom 27.03.2020 Zahl: XXXX , beschlossen:

A)

Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird gemäß § 8a Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), stattgegeben und die Verfahrenshilfe in vollem Umfang bewilligt. Von der Verfahrenshilfe sind die Beigebung einer Rechtsanwältin / eines Rechtsanwaltes, die notwendigen Barauslagen der beigegebenen Rechtsanwältin / des beigegebenen Rechtsanwaltes sowie die Kosten und Gebühren des Verfahrens umfasst.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I.       Verfahrensgang:

1.1.    Der Antragsteller brachte mit Schreiben vom 28.05.2020 per 29.05.2020 (auf Grund des 2. COVID-19-Gesetzes BGBl. I Nr. 16/2020) fristgerecht eine Beschwerde gegen den Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen [SVS] vom 27.03.2020, zugestellt am 01.04.2020, ein (Aktenzahl der elektronisch übermittelten Aktenteile [im Folgenden: AZ] 169-178, 147-168, 113-114).

1.2.    Mit Schreiben vom 28.05.2020 stellte der Antragsteller auch den gegenständlichen Antrag auf Verfahrenshilfe (AZ 115-146).

2.       Die belangte Behörde legte am 31.07.2020 dem Bundesverwaltungsgericht [BVwG] den Antrag auf Bewilligung einer Verfahrenshilfe samt Auszügen aus dem Verwaltungsakt in elektronischer Form vor (OZ 1 [=AZ 1-180]).

II.      Zu A) Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       entscheidungswesentliche Feststellungen

1.1.    Der Antragsteller verdient EUR 1.669,00 im Monat, wohnt in einer Genossenschaftswohnung für die er EUR 449,57 an Miete zu zahlen hat und zahlt für 3 Kinder Unterhalt im Ausmaß von EUR 480,00. Er befindet sich im Abschöpfverfahren nach Konkurs bei einer Schuldenhöhe von EUR 110.790,60 und einem Unterhaltsrückstand von EUR 4088,14. (AZ 140-146).

1.2.    Im Verfahren das dem gegenständlichen Antrag zugrunde liegt, ist die monatliche Beitragsgrundlage sowie die Zahlungsverpflichtung von Beiträgen zur Kranken- und Pensionsversicherung nach dem GSVG für das Jahr 2017 strittig, insbesondere ob es sich dabei um Insolvenzforderungen gehandelt hatte, sowie der Abgrenzung derselben (AZ 169-178, 147-168).

1.3.    Sollte die Beschwerde des Antragstellers erfolgreich sein, würde sich die Zahlungsverpflichtung gegenüber der SVS verringern oder wegfallen.

2.       Beweisaufnahme und Beweiswürdigung

2.1.    Die Beweisaufnahme erfolgte durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Auszüge aus dem Verwaltungsverfahrensakt, aus dem sich auch der unter I. dargelegte Verfahrensgang ergibt (OZ 1-4 [=AZ 1-180]).

2.2.    Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich unmittelbar ohne weitere Interpretation aus den jeweils zitierten Aktenteilen.

3.       Rechtliche Beurteilung

3.1.1.  Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts und die Entscheidung durch Einzelrichterin ergeben sich aus § 6 Bundesgesetz über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes [BVwGG] iVm § 194 Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz [GSVG] und § 414 Abs. 1 und Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz [ASVG]. Das Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrens-gesetz (VwGVG) geregelt. Verfahrensgegenständlich sind demnach neben dem VwGVG auch die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, sowie jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen sinngemäß anzuwenden, die die SVA im erstinstanzlichen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (§ 17 VwGVG).

3.2.    Zur Gewährung der Verfahrenshilfe

3.2.1.  Gemäß § 8a Abs. 1 VwGVG ist, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, einer Partei Verfahrenshilfe zu bewilligen, soweit dies auf Grund des Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, oder des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389, geboten ist, die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

3.2.2.  Der EuGH greift in seiner Beurteilung des Art. 47 GRC, ebenso wie der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof in ihrer Judikatur zur Verfahrenshilfe, auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte [EGMR] zu Art. 6 Abs. 1 EMRK zurück (für viele: VfGH 25.06.2015, VfSlg 19989; VwGH 20.12.2016, Ro2015/03/0037; 03.09.2015, Ro2015/21/0032; EuGH 22.12.2010, DEB, C-279/09 Rz 31, 35), wonach es nicht erforderlich ist, dass Verfahrenshilfe in allen erdenklichen Verfahren zu gewähren ist (EGMR 26.02.2002 Del Sol, Appl. 46.800/99 Rz20).

Zur Beurteilung, ob auf Grund des Art. 6 EMRK bzw. des Art. 47 GRC die Beigebung eines Rechtsanwaltes geboten ist, kommt es darauf an, ob dies für den effektiven Zugang der Partei zum Gericht unentbehrlich ist. Dies ist in Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung jedenfalls dann zu verneinen, wenn die Voraussetzungen der Verfahrenshilfe nicht erfüllt sind, weil die Partei insbesondere die Kosten eines Rechtsanwaltes ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts bestreiten könnte oder die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung offenbar mutwillig oder aussichtslos ist. Sind diese Voraussetzungen aber erfüllt, ist maßgeblich, ob im Verfahren insbesondere in Hinblick auf die Komplexität des Falles Schwierigkeiten zu erwarten sind, die es der Partei verunmöglichen, ihre Interessen ohne Unterstützung eines Rechtsanwaltes wahrzunehmen. Dabei sind die persönlichen Umstände der Partei, wie ihr allgemeines Verständnis und ihre Fähigkeiten bzw. ihre Rechtskenntnisse zu berücksichtigen. Ergänzend ist in die Erwägungen auch die Bedeutung des Rechtsstreits für die Partei miteinzubeziehen. In diesem Sinne ist auch in Verfahren ohne Anwaltszwang – wie dem verfahrensgegenständlichen Verfahren – die Beigebung eines Verfahrenshelfers möglich, wenn dies nach Lage des Falles erforderlich ist (vgl. VwGH 11.09.2019, Ro2018/08/0008 Rs6 mwN).

3.2.3.  Im Sinn der nach § 8a Abs. 2 VwGVG relevanten Definition des § 63 Abs. 1 ZPO ist als notwendiger Unterhalt nach § 8a VwGVG derjenige Unterhalt anzusehen, den die Partei für sich und ihre Familie, für deren Unterhalt sie zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung benötigt. Bei Prüfung der Frage, ob die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts im Sinn des § 63 Abs. 1 ZPO aufgebracht werden können, ist eine Schätzung der für den Antragsteller voraussichtlich anfallenden Kosten erforderlich, wobei unter Berücksichtigung der zum Entscheidungszeitpunkt bestehenden Umstände des Einzelfalles ein durchschnittlicher Verfahrensablauf anzunehmen ist. Ob der in diesem Sinn notwendige Unterhalt beeinträchtigt ist, stellt eine Frage des Einzelfalls dar (VwGH 11.09.2019, Ro2018/08/0008 mwN, VwGH 25.01.2018, Ra2017/21/0205). Bei unselbständig Erwerbstätigen sind bei der Ermittlung ihres Einkommens alle ihnen zufließenden Nettobezüge heranzuziehen, insb auch Urlaubsgeld und Weihnachtsremuneration sowie etwaige Überstundenentgelte, alle Arten von Zulagen und allfällige Naturalleistungen. Im Bereich der Verfahrenshilfe ist von den tatsächlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen auszugehen, eine Anspannung auf ein fiktiv erzielbares Einkommen ist gesetzlich nicht vorgesehen. Ob Vermögen zu berücksichtigen ist, hängt von der Zumutbarkeit der Belehnung oder Veräußerung dessen ab. Eine Kontoüberziehung bis zur Höhe von etwa zwei Monatsbezügen kann zumutbar sein. Die Verfahrenshilfe ist auch nicht zu bewilligen, wenn die Partei die zu erwartenden Verfahrenskosten durch Aufnahme eines Kredits finanzieren könnte, den sie aus ihren Einkünften ohne Beeinträchtigung ihres notwendigen Unterhalts innerhalb eines zumutbaren Zeitraums zurückzahlen kann. Als Faustregel kann gelten, dass einem alleinstehenden Verfahrenshilfewerber etwa EUR 1.000 bis 1.400 (inkl. Wohnkosten) monatlich verbleiben müssen (vgl. dazu jeweils mit Judikaturnachweisen Weber/Poppenwimmer in Höllwerth/Ziehensack (Hrsg), ZPO Praxiskommentar (2019) § 63 Rz5, 12; Fucik in Rechberger/Klicka (Hrsg), Kommentar zur ZPO5 (2019), § 63 Rz3).

3.2.4.  Fallbezogen handelt es sich bei der Abgrenzung von Masseforderungen und deren Berücksichtigung im Rahmen der Berechnung der Beitragsgrundlagen nach dem GSVG um eine komplexe Sachverhalts- und Rechtsfrage.

Wenngleich über die Erfolgsaussichten derzeit keine Aussage getätigt werden kann, da diese vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens abhängen, so erscheint die beabsichtigte Rechtsverfolgung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, weder offenbar mutwillig, noch völlig aussichtslos. Das Verfahren hat für den Antragsteller auch eine erhebliche Bedeutung, da im Falle einer zu seinen Gunsten ausgehenden Entscheidung, die Zahlungspflicht geringer würde oder wegfiele.

3.2.5.  Das allgemeine Existenzminimum beträgt ab 01.01.2020 monatlich EUR 966,00 bzw. EUR 1.127,00 für Personen, die keine Sonderzahlungen erhalten. Diese Beträge erhöhen sich um monatlich EUR 193,00 für jede Person, der gesetzlicher Unterhalt gewährt wird (Quelle: Existenzminimum-Tabelle des Bundesministeriums für Justiz, Stand 01.01.2018). Im Falle des Antragstellers, dessen monatliches Nettoeinkommen 1669,00 EUR beträgt, und der über kein für den gegenständlichen Antrag relevantes Vermögen verfügt, sondern darüber hinaus Konkursforderungen in der Höhe von EUR 110.000,00 und einen Unterhaltsrückstand von EUR 4088,14 aufweist, ist davon auszugehen, dass er außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung einer bescheidenen Lebensführung zu bestreiten.

3.2.6.  Da somit die kumulativ erforderlichen Voraussetzungen der Mittellosigkeit des Antragstellers und die Interessen der Verwaltungsrechtspflege beide gegeben sind, ist dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe spruchgemäß gemäß § 8a Abs. 1 VwGVG stattzugeben.

3.2.7.  Die Bestellung eines Rechtsanwaltes/einer Rechtsanwältin als Verfahrenshelfer/in erfolgt gesondert durch die Rechtsanwaltskammer.

III.    ad B) Unzulässigkeit der Revision

Es liegt gegenständlich keine Rechtsfrage, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, vor, weil die Rechtslage zur Beigebung von Verfahrenshilfe durch den Verwaltungsgerichtshof gelöst ist. Zum notwendigen Unterhalt etwa VwGH 25.01.2018, Ra2017/21/0205; 18.05.2016, Ra2016/04/0041. Die gegenständliche Entscheidung weicht von dieser Rechtspreechung auch nicht ab, sondern stützt sich maßgeblich auf die darin entwickelten Kriterien. Es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.

Schlagworte

Barauslagen Mittellosigkeit Rechtsanwälte Verfahrenshilfe Vermögensverhältnisse

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:L511.2233869.1.00

Im RIS seit

27.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

27.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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