TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/18 L514 2236933-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.11.2021
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Entscheidungsdatum

18.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L514 2236933-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.10.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste spätestens am XXXX 2020 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierzu wurde der Beschwerdeführer am Tag der Antragstellung von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Name XXXX laute, er sei am XXXX 1998 geboren, bekenne sich zum Islam und sei Kurde. Er sei ledig, habe in der Türkei acht Jahre die Grundschule besucht und sei zuletzt als Viehzüchter tätig gewesen. Seine Muttersprache sei Kurdisch-Kurmanci, er spreche jedoch auch türkisch. Seine Eltern, sowie seine beiden Schwestern würden in der Türkei leben. Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, dass er die Türkei am XXXX 2020 über den Luftweg in Richtung Serbien verlassen habe und mittels Schleppung auf dem Landweg weiter nach Österreich gelangt sei. Sein türkischer Reisepass sei ihm vom Schlepper abgenommen worden. Sein eigentliches Zielland sei Deutschland gewesen, weil er dort über Verwandtschaft verfüge.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass die Türken ihn immer wieder schikanieren würden, er werde einmal die Woche für zwei Stunden auf das Polizeirevier mitgenommen und bezichtigt die PKK zu unterstützen. Das ginge regelmäßig so weiter. Er sei Viehbauer und habe mit dem Ganzen nichts zu tun. Deswegen habe er die Türkei verlassen und möchte zu seiner Verwandtschaft nach Deutschland. Das seien alle seine Fluchtgründe. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor dem Staat und der Unterdrückung als Kurden.

2.       Am 08.10.2020 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Er gab nunmehr an, dass er seit zwei Jahren fahnenflüchtig sei und deswegen ihm der Staat die notwendigen Unterlagen nicht geben würde, weshalb er keine Personaldokumente aus der Türkei vorlegen könne. Einen Musterungsbefehl könne er ebenfalls nicht vorlegen, denn der würde nicht mehr ausgehändigt werden. Zu seinen persönlichen Verhältnissen in der Türkei führte der Beschwerdeführer weiter aus, dass er bis zu seiner Ausreise in seinem Geburtsort im Haus seiner Eltern gelebt habe, dies gemeinsam mit seinen beiden Schwestern und beiden Brüdern. In der Türkei befänden sich weitere Verwandte, wie Onkel und Tanten, und würden diese in der ganzen Türkei leben. Der Familie des Beschwerdeführers ginge es in der Türkei sehr gut, sie seien Viehzüchter mit 400 bis 500 Tieren und sei der Beschwerdeführer auch in der familiären Landwirtschaft tätig gewesen. Die Familie besitze im Dorf einige Felder und weitere Grundstücke.

Zu seiner Flucht nach Europa befragt, gab der Beschwerdeführer an, bereits im Jahr 2015 den Entschluss zur Ausreise gefasst zu haben, weil es Unruhen und Kämpfe gegeben habe. Vor zwei Monaten habe er dann aber den endgültigen Entschluss gefasst. Er habe nach Europa gewollt, um ein sicheres Leben in Frieden führen zu können. Zum damaligen Zeitpunkt sei es ihm psychisch schlecht gegangen, weil er Vorfälle hinsichtlich der PKK gesehen habe. Weiter befragt gab der Beschwerdeführer an zwar kein Parteimitglied, jedoch Sympathisant der HDP zu sein und habe er einmal bei einer Demonstration teilgenommen. Auf Nachfragen machte der Beschwerdeführer weitere detaillierte Angaben zu seinen Ausreisegründen.

In Deutschland befänden sich zwei Onkel des Beschwerdeführers und habe er auch schlepperunterstützt nach Deutschland gewollt, aber der Schlepper habe ihn in Österreich aussteigen lassen.

3.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 15.10.2020, 1268836907/200891374-RD Niederösterreich, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass eine Verfolgung des Beschwerdeführers im Herkunftsland nicht festgestellt werden konnte. Die Ausführungen zu den Fluchtgründen seien nicht glaubhaft gewesen. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Konventionssinn glaubhaft machen können und sei er auch im Falle der Rückkehr keiner konventionsrelevanten Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt. Im Gegensatz zu den in der Erstbefragung vorgebrachten Schikanen seitens der türkischen Regierung, habe er bei seiner Befragung vor dem BFA verschiedene neue Fluchtvorbringen geschildert. Das zentrale Vorbringen der Fahnenflucht in der Türkei sei wegen der aufgetretenen Ungereimtheiten und widersprüchlichen Aussagen nicht glaubhaft und drohe dem Beschwerdeführer deshalb keine Verfolgung. Auch bei dem Vorbringen bezüglich der Errichtung eines Märtyrerfriedhofs seien Widersprüche aufgetreten und gehe die Behörde deshalb nicht von einem Wahrheitsgehalt dieser Geschichte aus. Hinsichtlich der vorgebrachten psychischen Probleme wurde ausgeführt, dass die Behandlung psychischer Erkrankungen auch im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers möglich sei. Auch in der Türkei gebe es psychiatrische Fachkliniken und sei die medizinische Versorgung gewährleistet. Bei einer Rückkehr verfüge der Beschwerdeführer schließlich über familiäre Anknüpfungspunkte.

Spruchpunkte II. und V. begründete das BFA zusammengefasst damit, dass dem Beschwerdeführer keine Verletzung der von der EMRK gewährleisteten Rechte im Heimatland drohe.

Zu Spruchpunkt IV. hielt das BFA fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine Hinweise gefunden werden könnten, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde.

Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer gem. § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtwegig zur Seite gestellt.

4.       Gegen den, dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß zugestellten Bescheid, erhob dieser vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich mit Schreiben vom 12.11.2020 fristgerecht Beschwerde bzgl. Spruchpunkte I., II., IV., V. und VI. an das Bundesverwaltungsgericht.

Begründend wurde vorgebracht, dass die Behörde dem Beschwerdeführer vorwerfe bei der Erstbefragung nichts von einer Wehrdienstverweigerung vorgebracht zu haben, sondern lediglich die Schikanen der Türken wegen einer unterstellten Bindung zur PKK. Der Beschwerdeführer habe bei der Erstbefragung tatsächlich mehr erzählen wollen, jedoch sei er von der Polizei angehalten worden dies erst beim BFA zu tun. Auch würde gem. §19 AsylG die Erstbefragung nicht der Ermittlung der näheren Fluchtgründe dienen. Auch habe der Beschwerdeführer angegeben, den bei der Einvernahme anwesenden Dolmetscher nicht verstanden zu haben. Auch sei dem Protokoll zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer die Einvernahme lieber in Kurdisch hätte führen wollen, da er sich selbst besser in der Sprache ausdrücken könne. Mit Verweis auf aktuelle, wie auch vom BFA im angefochtenen Bescheid herangezogene Länderberichte wurde ferner konstatiert, die türkische Gesetzgebung habe eine sehr weite Definition von „Terrorismus“; ferner sei die Unabhängigkeit der Justiz in Frage zu stellen und tausende Richter seien des Amtes enthoben und durch loyale Richter ersetzt worden. Dem Beschwerdeführer werde im Herkunftsstaat eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht, da die Verfolgung vom Staat selbst ausgehen würde, der über das gesamte Staatsgebiet die Kontrolle ausübe. Der Beschwerdeführer sei von der Polizei misshandelt worden. Jedenfalls drohe ihm im Herkunftsstaat die Verletzung der durch die EMRK gewährleisteten Rechte und hätte ihm zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen.

Beantragt werde daher den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz Folge gegeben und ihm der Status des Asylberechtigten oder hilfsweise der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werde; in eventu die Rückkehrentscheidung aufzuheben sowie in eventu dahingehend abzuändern, dass die Abschiebung (dauerhaft) unzulässig erklärt werde und in eventu den Bescheid dahingehend abzuändern, dass eine 14-tägige oder sonst angemessene Frist zur Ausreise gewährt werde. Ferner wurde der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

5.       Mit Note vom 18.11.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht von der GVS-Betreuungsstelle Ost/Traiskirchen mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer unstet ist, er befinde sich seit 48 h nicht mehr in der Betreuungsstelle, bleibe jedoch der EAST zugewiesen.

6.       Mit einer elektronischen Nachricht vom 18.02.2021 erkundigte sich XXXX im Namen des Beschwerdeführers nach dem Stand im gegenständlichen Verfahren.

7.       Aufgrund nicht vorhandener aufrechter Meldeadresse wurde XXXX mit Note vom 19.10.2021 ersucht einerseits bekanntzugeben, ob das als Vertretung bezeichnete Verhältnis zum Beschwerdeführer noch aufrecht ist und gegebenenfalls um Mitteilung einer ladungsfähigen Adresse. Bis zum Entscheidungszeitpunkt ist keine Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht eingegangen.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1. Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest. Der Beschwerdeführer wird im Verfahren unter der Identität XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, geführt. Der Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er beherrscht die Sprachen Kurdisch-Kurmanci und Türkisch.

Der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise mit seinen Eltern sowie seinen zwei Schwestern und zwei Brüdern im Dorf XXXX in der Provinz XXXX , wo die Familie ein Einfamilienhaus, Felder und mehrere Grundstücke besitzt. Die Familie des Beschwerdeführers betreibt eine Land- und Viehwirtschaft mit 400 bis 500 Tieren und lebt in finanziell sehr guten Verhältnissen. Der Beschwerdeführer, welcher acht Jahre die Grundschule besuchte, arbeitete zuletzt in der Landwirtschaft seiner Eltern. In der ganzen Türkei wohnen weitere Verwandte, wie Tanten und Onkeln des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie.

In Österreich leben keine näheren Verwandten des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer verließ mit seinem türkischen Reisepass am XXXX 2020 auf dem Luftweg von Istanbul Richtung Serbien sein Heimatland. Er reiste sodann schlepperunterstützt in einem Lkw über die Balkanroute illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX 2020 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Der Beschwerdeführer beabsichtigte nach Deutschland zu reisen, da dort zwei Onkel väterlicherseits aufhältig sind.

Der Beschwerdeführer erhielt von 21.09.2020 bis zum 18.11.2020 Leistungen aus der Grundversorgung. Er hielt sich von 21.09.2020 bis zum 30.09.2020 in der Betreuungsstelle Schwechat und sodann bis zum 18.11.2020 in der Betreuungseinrichtung OST Traiskirchen auf wo er aufgrund 48-stündiger Abwesenheit abgemeldet wurde. Der Beschwerdeführer verfügt seit 30.09.2020 über keinen aufrechten Wohnsitz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Er ist weder Mitglied in einem Verein, noch ehrenamtlich tätig und hat keine Ausbildungen oder Deutschkurse in Österreich absolviert. Der Beschwerdeführer ist der deutschen Sprache nicht mächtig.

Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung und hat weder psychische Probleme zu gewärtigen noch gehört er einer COVID-19 Risikogruppe an. Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Seinen Wehrdienst in der türkischen Armee leistete der Beschwerdeführer bislang nicht ab. Er hat bis dato weder einen Musterungs- noch einen Einberufungsbefehl erhalten. Als männlicher türkischer Staatsangehöriger unterliegt er der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei und wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen, wenn er für tauglich befunden werden sollte.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.2. Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsland Türkei Schwierigkeiten aufgrund seiner politischen Ansichten, der Religion, der Volksgruppenzugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hatte.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Das Vorbringen, der Beschwerdeführer wäre in der Türkei einer staatlichen Verfolgung durch die Behörden aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung, einer ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung, der Teilnahme an einer Demonstration im Jahr 2016 oder aufgrund von seinen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Aufbau eines Märtyrerfriedhofes im Jahr 2014 ausgesetzt war nicht glaubhaft bzw. ist nicht asylrelevant.

1.3.    Feststellungen zur Rückkehr in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

Es war nicht feststellbar, dass er bei einer Rückkehr in seine Heimat keine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden würde oder er einer gravierenden individuellen Gefährdung angesichts einer allgemeinen Gefahrenlage vor Ort ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, junger, arbeitsfähiger Mann mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Viehzüchter und ist ihm die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe.

Die Heimatstadt des Beschwerdeführers ist über den Flughafen Istanbul und weiter über den Flughafen Mus oder auch über Bingöl oder Siirt sicher und gefahrlos erreichbar.

1.4.    Zur aktuellen Lage in der Türkei wird auf folgende Feststellungen verwiesen:

1.       Aktuelles

07.06.2021: Am 02.06.21 wurden in der nordwestlichen Provinz Edirne und weiteren Provinzen während mehrerer Razzien 22 Personen festgenommen, denen vorgeworfen wird Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Unter den Festgenommenen befinden sich neben Militärpersonal weitere Personen im Staatsdienst sowie Anwälte und Akademiker. Nach weiteren Verdächtigen wird gefahndet. Selaheddin Gülen, ein Neffe von Fethullah Gülen, wurde durch den türkischen Geheimdienst in Kenia gefasst und am 05.06.21 in die Türkei gebracht. Dem Gefangenen wird vorgeworfen führendes Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein, zudem soll er in der Türkei wegen Kindesmissbrauchs gesucht worden sein.

Am 01.06.21 gab die Staatsanwaltschaft Istanbul bekannt, dass sie Ermittlungen im Mord gegen den türkisch zypriotischen Journalisten Kutlu Adali eingeleitet hat, der im Juli 1996 erschossen wurde. Die Untersuchungen wurden eingeleitet, nachdem der ins Ausland geflüchtete Mafiaboss Sedat Peker in einem Youtube-Video erklärt hatte, dass er von dem ehemaligen türkischen Minister Mehmet A?ar zu dem Mord beauftragt worden war. Pekers Bruder, Atilla Peker, der in den Fall verwickelt sein soll, wurde wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Videos festgenommen und nach seiner Aussage unter Auflagen entlassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte 2005, dass die Türkei keine ausreichende Untersuchung des Mordfalls eingeleitet habe.

Am 03.06.21 verurteilte ein Gericht in der Provinz Mugla, im Südwesten der Türkei, 36 Soldaten wegen Raubes, die bereits für ihre Beteiligung am Putschversuch im Jahr 2016 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden waren. Die Soldaten sollen am 15.07.16 in ein Hotel in Mugla eingedrungen sein, in dem sich Erdo?an aufgehalten haben soll und Waffen sowie persönliche Gegenstände von Polizisten gestohlen haben. Dabei wurden zwei Polizisten getötet.

Am 03.06.21 gab das Innenministerium bekannt, dass in der Anti-Terror-Operation Eren-11, in der südöstlichen Provinz Bitlis, mindestens drei mutmaßliche PKK-Mitglieder von türkischen Sicherheitskräften getötet oder festgenommen wurden.

14.06.2021: Erneut reichte die Oberstaatsanwaltschaft am 06.06.21 eine angepasste Klageschrift für ein Parteiverbot der prokurdischen HDP wegen „Verbrechen gegen die Unabhängigkeit des Staates und seiner untrennbaren Einheit mit Nation und Volk“ ein. Die Klageschrift war zuvor im März vom Verfassungsgerichtshof aufgrund technischer Mängel zurückgewiesen worden. Zudem beantragte die Oberstaatsanwaltschaft am 10.06.21 ein Verbot der politischen Betätigung für 451 HDP-Mitglieder. Auch die Bankkonten der HDP sollen eingefroren werden. Der Verfassungsgerichtshof soll innerhalb von 15 Tagen eine Entscheidung fällen.

Ein mutmaßliches Mitglied der TIKKO, der Miliz der kommunistischen TKP/ML, die von der Türkei als Terrororganisation gelistet ist, wurde am 10.06.21 in der Provinz Mugla verhaftet. Der Inhaftierte wird beschuldigt, 1979 an einem Anschlag beteiligt gewesen zu sein, bei dem ein Polizist getötet wurde.

Am 12.06.21, dem Welttag gegen Kinderarbeit erklärte der oppositionelle CHP-Abgeordnete Candan Yüceer, dass von 23 Mio. Kindern in der Türkei zwei Mio. zu Kinderarbeit gezwungen seien. Laut dem staatlichen Statistikinstitut der Türkei sollen dabei in den letzten acht Jahren 513 Kinder getötet worden sein. Zwischen Januar und Mai 2021 seien 19 Kinder getötet worden.

Der Verfassungsgerichtshof fällte am 10.06.21 eine Entscheidung im Fall von Cahit Tamur, Eyyup Ya?ar, Fuat Bor and Hüseyin Duman, die 2007 wegen „bewaffneter Aktionen gegen den Staat“ vom Strafgericht in Diyabakir verurteilt worden waren. Die Beschuldigten reichten gegen das Urteil 2008 Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, der 2017 urteilte, dass ihre Rechte auf einen Verteidiger in der Haft und auf einen Prozess innerhalb angemessener Zeit verletzt wurden. Ein Antrag zur Wiederaufnahme des Verfahrens auf Grundlage des EGMR-Urteils wurde jedoch vom Strafgericht in Diyarbakir 2018 abgelehnt. Der Verfassungsgerichtshof bestätigte das EGMR-Urteil, wies zudem auf die Verbindlichkeit von EGMR-Urteilen hin und erklärte, die Türkei sei verpflichtet, die Grundrechte und -freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu garantieren und Urteile des EGMR zu Rechtsverletzungen umzusetzen. Die Wiederaufnahme des Verfahrens der Beschuldigten wurde angeordnet.

21.06.2021: Ein bewaffneter Mann stürmte am 17.06.21 ein örtliches HDP-Parteibüro in der westtürkischen Stadt Izmir und erschoss eine 20-jährige Mitarbeiterin der Partei. Türkischen Medienberichten zufolge soll der Schütze zuvor versucht haben, das Gebäude in Brand zu setzen. Der HDP-Co-Vorsitzende Mithat Sancar äußerte gegenüber Reportern, dass ein geplantes Treffen von 40 Parteifunktionären im Büro kurze Zeit vor dem Angriff abgesagt worden sei. Nach Angaben des Gouverneursamtes von Izmir befindet sich der Täter bereits in Gewahrsam. Während seiner Vernehmung bei der Polizei soll er angegeben haben, dass er den Angriff aus Hass auf die PKK verübt habe. Die HDP machte in einer offiziellen Stellungnahme die AKP/MHP-Regierung, die die Partei in der Öffentlichkeit mit der PKK in Verbindung setze und somit Angriffe gegen sie provoziere, für die Tat verantwortlich.

Am 18.06.21 wurden mindestens sieben Personen auf einem Boot an der Küste vor Ayvalik in der Provinz Balikesir verhaftet, denen vorgeworfen wird, der Gülen-Bewegung anzugehören. Unter ihnen befanden sich fünf ehemalige Polizisten. Sie sollen versucht haben, über die Insel Lesbos überzusetzen, um nach Griechenland zu fliehen.

Am 18.06.21 wurden während einer Anti-Terror-Maßnahme in zwölf Provinzen mehr als 40 mutmaßliche IS Sympathisanten verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, das Netzwerk finanziell zu unterstützen. Die Staatsanwaltschaft in Ankara hatte 61 Haftbefehle ausgestellt, nach weiteren Verdächtigen wird gesucht.

28.06.2021: Am 21.06.21 stimmte das Verfassungsgericht der Eröffnung eines Parteiverbotsverfahrens gegen die HDP zu. Die Entscheidung erfolgte nachdem die Oberstaatsanwaltschaft am 06.06.21 eine zweite Fassung der Klageschrift eingereicht hatte, da die erste aufgrund von technischen Fehlern vom Verfassungsgericht abgelehnt worden war. (vgl. BN v. 14.06.21)

Die Menschenrechtsorganisation Türkiye ?nsan Haklar? Vakf? (T?HV) veröffentlichte am 24.06.21 ihren jährlichen Bericht über die Menschenrechtslage in der Türkei. Laut dem Bericht wurden während des letzten Jahres 404 Menschen gefoltert und zehn entführt. Das Recht auf Leben soll in 3.291 Fällen verletzt worden sein, darunter in 68 Fällen die Kinder und 101 Fällen die Geflüchtete betrafen.

Am 24.06.21 wurden in 24 Provinzen im Westen der Türkei 58 Personen verhaftet, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Sie sollen die Messenger-App „ByLock“ verwendet haben, eine verschlüsselte Smartphone-App, die mutmaßlich von Gülen-Mitgliedern verwendet wird. Unter den Verhafteten befinden sich Soldaten im aktiven Dienst.

05.07.2021: Am 26.06.21 wurden während des Pride-Marsches in Istanbul ca. 50 Personen wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration und Widerstand gegen die Polizei verhaftet. Die Polizei ging gewaltsam gegen Demonstrierende vor und verwendete Tränengas um die Demonstration aufzulösen. Im Vorfeld des Marsches hatten die Behörden den Marsch verboten und Straßensperren mit der Begründung errichten lassen, dass die Demonstration gegen ein Verbot von Protesten, die die öffentliche Moral verletzen, verstoße. Bereits während der vergangenen sieben Jahre wurden LGBTQI-Pride-Veranstaltungen in Istanbul aufgrund mutmaßlicher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verboten. Während der Veranstaltung wurde auch ein Fotograf der Agence France Presse, Bülent Kilic, verhaftet, jedoch am Abend wieder entlassen. In den sozialen Medien geteilte Bilder, auf denen zu sehen ist, dass Polizisten Kilic zu Boden drücken und auf ihm knien, sorgten für breite Kritik in den Medien und am 29.06.21 zu weiteren Protestaktionen gegen Gewalt an Journalisten und Journalistinnen in Istanbul und Ankara.

Am 28.06.21 kam es in der südöstlichen Provinz Siirt während einer Schießerei zwischen der türkischen Gendarmerie und dem Fahrer eines LKWs, in dem sich 84 Geflüchtete aus Afghanistan und Pakistan befanden, zu einer bewaffneten Auseinandersetzung. Der Fahrer soll das Feuer eröffnet haben, nachdem er von der Gendarmerie aufgefordert worden war, den Wagen anzuhalten. Im darauffolgenden Schusswechsel wurden zwei Geflüchtete getötet und zehn weitere verletzt. Der Fahrer des LKW wurde nach einem Fluchtversuch gefasst und verhaftet.

Zwischen dem 28.06.21 und dem 03.07.21 wurden in landesweit durchgeführten Razzien mindestens 146 Personen verhaftet, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Die sogenannten „Münztelefon Ermittlungen“ basieren auf Gesprächsaufzeichnungen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung dasselbe Münztelefon benutzt hat, um alle seine Kontakte nacheinander anzurufen. Basierend auf dieser Annahme wird, wenn ein mutmaßliches Mitglied der Bewegung in den Anrufaufzeichnungen gefunden wird, angenommen, dass andere Nummern, die direkt vor oder nach diesem Anruf angerufen wurden, ebenfalls zu Personen mit Gülen-Verbindungen gehören. Unter den Verhafteten befinden sich Soldaten im aktiven Dienst, Auszubildende des Militärs und Behördenangestellte.

Am 29.06.21 lehnte das oberste Verwaltungsgericht der Türkei mit drei zu zwei Stimmen den Einspruch gegen den vom Staatspräsidenten per Dekret verfügten Austritt aus der Istanbul-Konvention zum 01.07.21 ab. Das Gericht stützte seine Entscheidung auf Art. 104 der Verfassung, laut dem der Präsident die Befugnis hat, internationale Abkommen zu ratifizieren und zu annullieren. Am 01.07.21 kam es in Städten landesweit zu Demonstrationen gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention. Die Polizei ging gegen die Demonstrierenden vor und setzte Straßensperren ein. Mehrere Organisationen erklärten, dass Femizide in der Türkei bereits weit verbreitet und Frauen durch den Austritt aus der Konvention einem größeren Risiko von Gewalt ausgesetzt seien.

Die Vereinigten Staaten setzten am 01.07.21 die Türkei auf die Liste von Ländern, die 2020 in den Einsatz von Kindersoldaten verwickelt waren. Damit wurde zum ersten Mal ein NATO-Mitgliedstaat auf eine solche Liste gesetzt. Laut dem Trafficking in Persons Report von 2021, unterstützt die Türkei die Sultan-Murad-Division in Syrien, eine Abteilung der syrischen Opposition, die laut dem US-Außenministerium Kindersoldaten rekrutiert und einsetzt. Die Vorwürfe wurden seitens der Türkei bestritten.

Am 03.07.21 bestätigte das Oberste Kassationsgericht das Urteil gegen 18 Militärangehörige, die 2014 LKWs des türkischen Geheimdienstes MIT an der syrischen Grenze, entgegen einem Befehl aufgehalten hatten. Die Angeklagten wurden beschuldigt, versucht zu haben, die Regierung durch Anwendung von Gewalt zu stürzen oder sie an der Erfüllung ihrer Aufgaben zu hindern. Im Gerichtsurteil wird impliziert, dass die Beschuldigten Verbindungen zur Gülen-Bewegung hätten und dass die Tat auf Anweisung der Bewegung erfolgt sei. Die Tat wurde als erster Schritt des Putschversuchs von 2016 bezeichnet. Die Beschuldigten erhielten Gefängnisstrafen zwischen 18 und 26 Jahren.

Am 01.07.21 entschied das Verfassungsgericht im Fall des abgesetzten HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu, dass dessen Rechte durch seine Inhaftierung aufgrund von Terrorismusvorwürfen verletzt wurden, und machte damit laut Medienberichten den Weg für seine Freilassung und die Wiederherstellung seines parlamentarischen Status frei. Gergerlioglu wurde im März 2021 der parlamentarische Status entzogen und im April wurde er inhaftiert, nachdem eine zweieinhalbjährige Haftstrafe wegen Verbreitung terroristischer Propaganda rechtskräftig geworden war. Die Anklage bezog sich auf einen Link, den er auf Twitter zu einer Nachrichtenmeldung geteilt hatte, die Kommentare der PKK enthielt. Das Verfassungsgericht entschied, dass Gergerlioglus Recht, gewählt zu werden und sich politisch zu betätigen, sowie sein Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt worden seien.

12.07.2021: Der HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde am 06.07.21 aus der Haft entlassen, nachdem das Verfassungsgericht sein diesbezügliches Urteil (vgl. BN v. 05.07.21) an das zuständige Strafgericht in Kocaeli geschickt hatte.

Anfang Juni 2021 wurde Orhan Inandi, ein mutmaßlich hochrangiges Mitglied der Gülenbewegung (FETÖ), bei einer vom türkischen Geheimdient (MIT) koordinierten Aktion in Kirgisistan festgenommen und inzwischen in die Türkei gebracht. Genauere Umstände der Festnahme und des Transports sind nicht bekannt. Nach türkischen Angaben sei Inandi 2001 zum Imam des Gülen-Netzwerks für Kirgisistan ernannt worden und seit 2017 FETÖ- Hauptverantwortlicher für die zentralasiatischen Staaten. Nach Medienberichten lebte Inandi seit Anfang der 1990er Jahre in Kirgisistan und sei seit 2012 kirgisischer Staatsbürger. Er ist dort Gründer des Sapat-Schulnetzwerks das in Kirgisistan mehr als zwei Dutzend Schulen beteibt und an das globale Netzwerk von Schulen mit ideologischen Verbindungen zu Fethullah Gülen angeschlossen ist.

Nach Medienberichten hat das türkische Parlament am 09.07.21 eine Reform verabschiedet, die die Verfolgung von Vergewaltigungen erschweren könnte. Laut einer Gesetzesreform müssen für eine Strafanzeige und die Verhaftung mutmaßlicher Täter nach einer Vergewaltigung künftig konkrete Beweise vorliegen. Bisher reichte ein dringender Tatverdacht für eine Verhaftung und Strafverfolgung aus.

Staatspräsident Erdo?an kündige eine umfassende Umbildung in der Führung der Polizei an und tauschte am 07.07.21 per Präsidialdekret die Polizeichefs in 33 von 81 Provinzen aus. Zudem ernannte er 27 neue Berater für Sicherheitsangelegenheiten in Auslandsvertretungen.

19.07.2021: Medienberichten zufolge wurden zwischen dem 12.07.21 und dem 17.07.21 in 47 Provinzen mindestens 256 Personen verhaftet, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Die Beschuldigten sind größtenteils Militärangehörige.

Am 14.07.21 verübte ein inzwischen festgenommener Täter in der Stadt Marmaris einen Anschlag auf ein örtliches HDP-Büro. Medienberichten zufolge soll er das Büro mit einer Schrotflinte beschossen haben. Es gab keine Todesopfer oder Verletzten, aber das Gebäude erlitt Sachschäden.

Am 15.07.21 wurde Melih Bulu, der umstrittene Rektor der Istanbuler Bogazici-Universität seines Amtes enthoben. Die Entscheidung folgte nach monatelangen Protesten gegen die erstmalige Ernennung von Bulu, wiederum per Präsidialdekret. Die Akademiker der Universität wählen traditionell die Rektoren von Bogazici. Die Polizei hatte viele Demonstrationen von Studenten und Akademikern gegen Erdogans Entscheidung, Bulu zu als Rektor einzusetzen, gewaltsam aufgelöst sowie eine große Anzahl von Demonstrierenden verhaftet. Das harte Durchgreifen der Polizei hatte im In- und Ausland Kritik ausgelöst.

Das türkische Parlament hat am 16.07.21 den parlamentarischen Status des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlio?lu wiederhergestellt. Das Verfassungsgericht hatte zuvor entschieden, dass seine Rechte durch seine Inhaftierung wegen Terrorismusvorwürfen verletzt worden waren (s. BN v. 12.07.21). Laut Medienberichten erfolgte die Entscheidung vier Monate nachdem der Status ihm aufgrund der politisch motivierten Anschuldigungen entzogen worden war.

Am 18.07.21 stimmte das türkische Parlament einer Verlängerung der nach dem Putschversuch von 2016 verhängten Sicherheitsmaßnahmen zu. Das Gesetz wurde zunächst für ein weiteres Jahr verlängert. Die Sicherheitsmaßnahmen enthalten u.a. Bestimmungen, die die Dauer von Verhaftungen regeln, so können Verdächtigte bis zu zwölf Tage inhaftiert werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Auch die Entlassung von Beamten ist weiterhin möglich.

26.07.2021: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte am 20.07.21, dass die Untersuchungshaft des ehemaligen Polizeibeamten Tekin Akgün eine Verletzung seiner Menschenrechte nach Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt. Er befindet sich seit 2016 in Untersuchungshaft und wird verdächtigt, einer terroristischen Organisation anzugehören, weil während seines Verhörs festgestellt wurde, dass er die verschlüsselte Messenger-App ByLock verwendet hatte. Die Verwendung der App wurde von der türkischen Staatsanwaltschaft als Indiz für die mutmaßliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gewertet. Der EGMR urteilte, dass die türkischen Gerichte nicht über genügend Informationen über die ByLock-App verfügten, um festzustellen, dass diese ausschließlich von Mitgliedern Gülen-Bewegung genutzt wurden. Die Nutzung der App reiche nicht aus, um einen hinreichenden Verdacht für die mutmaßliche Straftat zu belegen. Der EGMR ordnete die Türkei an, eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 12.000 EUR an Akgün zu zahlen.

02.08.2021: Am 30.07.21 wurden sieben Mitglieder einer kurdischen Familie in der Provinz Konya durch bewaffnete Täter in ihrem Wohnhaus getötet, die das Haus anschließend in Brand setzten. Mitglieder der Familie waren bereits im Mai 2021 bei einem gewaltsamen Übergriff durch einen Mob von ca. 60 Personen verletzt worden. Eines der Opfer hatte wenige Tage zuvor gegenüber Reportern erklärt, dass die Familie aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit angegriffen worden sei und dass Behörden nicht gegen die Täter vorgehen würde. Regierungsvertreter bestritten eine rassistische Motivation und bezeichneten diese stattdessen als Ergebnis einer Familienfehde. Am 31.07.21 fanden in mehreren Städten Proteste statt. Eine Demonstration in Ankara wurde durch die Polizei gewaltsam aufgelöst. Medienberichten zufolge wurden am 31.07.21 im Zusammenhang mit der Tat zehn Verdächtige festgenommen, am 01.08.21 wurden weitere vier Verdächtige verhaftet.

09.08.2021: Am 06.08.21 wurden während Razzien in 24 Städten mindestens 46 Personen verhaftet, denen vorgeworfen wird, der Gülen-Bewegung anzugehören. Nach weiteren 34 Personen wird in diesem Zusammenhang gefahndet

16.08.2021: Am 11.08.21 griff ein Mob von mehreren Hundert Personen Häuser, Geschäfte und Autos von Syrern in Ankara an. Auslöser soll der Tod eines 18 Jahre alten Türken gewesen sein, der nach Medienberichten mutmaßlich von einem Syrer erstochen worden war, als am Vortag zwei Gruppen miteinander in Streit geraten waren. Er starb am 11.08.21 an seinen Verletzungen, kurze Zeit später begannen die Ausschreitungen in einem Gebiet von Ankara, in dem eine große Anzahl von syrischen Migranten und Flüchtlingen lebt. Das Gouverneursamt erklärte im Laufe der Nacht, die Situation sei unter Kontrolle und es seien mehrere Dutzend Menschen festgenommen worden. Die Stimmung gegenüber Flüchtlingen innerhalb der türkischen Gesellschaft verschlechtert sich bereits seit Jahren zunehmend. Insbesondere die wirtschaftlich angespannte Situation hat zuletzt die anfangs große Hilfsbereitschaft und Toleranz zurückgehen lassen.

Nach Medienberichten nahmen Sicherheitskräfte am 10.08.21 eine Reihe von Personen in der östlichen Provinz Kars wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK fest, darunter auch fünf Mitglieder der oppositionellen Demokratischen Volkspartei (HDP).

Die Bundesregierung erklärt die Türkei wegen stark steigender Corona-Infektionszahlen ab 17.08.21 zum Hochrisikogebiet. Die Corona-Fallzahlen steigen dort seit Ende Juli 2021 sehr schnell an, es werden derzeit täglich teilweise über 20.000 neue Fälle registriert.

23.08.2021: Während der Militäroperation Eren-14 wurden nach Angaben der Regierung am 17.08.21 acht mutmaßliche PKK Mitglieder in der Provinz Hakkari durch Sicherheitskräfte getötet. Am 18.08.21 wurden sechs Personen in Ankara verhaftet, denen vorgeworfen wird, in Aktivitäten der PKK involviert gewesen zu sein und terroristische Propaganda in sozialen Medien verbreitet zu haben. Nach einer weiteren Person wird gefahndet.

Der Staatsaufsichtsrat Devlet Denetleme Kurulu (DDK) wurde laut Medienberichten am 20.08.21 von Staatspräsident Erdo?an beauftragt, NGOs einschließlich Genossenschaften, Stiftungen und gemeinnützige Vereine, sowie deren Partner zu überprüfen. Die Überprüfung erfolgt im Rahmen des neuen Anti-Terror-Gesetzes über die Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, das am 31.12.20 in Kraft trat.

Das Fünfte Hohe Strafgericht in Ankara ordnete am 18.08.21 die Inhaftierung von 14 Angeklagten, darunter mehrere ehemalige Generäle an, die in den Putsch von 1997 involviert gewesen sein sollen. Die Angeklagten waren bereits 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zwei der Angeklagten hatten unter Berufung auf ihr fortgeschrittenes Alter und gesundheitliche Probleme beim Verfassungsgericht beantragt, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen, zudem gaben sie an, dass Beweise im Verfahren gefälscht worden seien.

30.08.2021: Am 27.08.21 wurden bei gemeinsamen Operationen der Polizei und des Geheimdienstes (MIT) in 32 Provinzen 30 Militärangestellte und ehemalige Militärangestellte verhaftet, denen vorgeworfen wird an konspirativen Aktivitäten der Gülen-Bewegung beteiligt gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft Ankara stellte weitere elf Haftbefehle gegen mutmaßliche Anhänger der Bewegung aus, nach denen gefahndet wird. Am 28.08.21 nahm die Küstenwache sechs Personen auf einem Boot vor der Stadt Bodrum in der Provinz Mugla fest, denen vorgeworfen wird, der Gülen-Bewegung anzugehören. Am 28.08.21 begann das Gerichtsverfahren gegen Selahaddin Gülen, nachdem er am 07.06.21 durch den türkischen Geheimdienst in Kenia gefasst und in die Türkei gebracht wurde. Selahaddin Gülen, ein Neffe von Fethullah Gülen, wird beschuldigt, ein führendes Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein und innerhalb der Gruppe für eine mutmaßliche Infiltration des Militärs durch Gülen-Mitglieder verantwortlich gewesen zu sein. Nach der Anhörung mehrerer Zeugen wurde das Verfahren auf den 18.11.21 vertagt.

Am 27.08.21 entschied der Verfassungsgerichtshof im Fall von Hüseyin Ali Kudret, der im Jahr 2017 in der Provinz Hatay ohne seine Einwilligung von Polizisten einer Leibesvisitation durch Abtasten unterzogen und aufgrund seines Widerstands gewaltsam festgenommen worden war. Das Gericht entschied für Kudret und ordnete die Zahlung von 10.000 TRY Schadensersatz an. Nach Ansicht des Gerichts hatten die Polizeibeamten es versäumt, die Abtastung in ihren Polizeibericht aufzunehmen. Zusätzlich habe die Staatsanwaltschaft es versäumt, die Vorwürfe der Misshandlung (wirksam) zu untersuchen und die Aufzeichnungen von Sicherheitskameras zu prüfen.

Am 23.08.21 entschied der Kassationsgerichtshof im Falle eines Twitter-Nutzers, der einen beleidigenden Beitrag über einen Beamten auf der Plattform geteilt hatte. Das Gericht entschied, dass durch das Teilen des Beitrags mehr Menschen erreicht und dadurch die Wirkung der Beleidigung verstärkt worden war und entschied, dass auch das Teilen eines fremden Beitrags mit beleidigenden Inhalten eine Straftat darstelle.

06.09.2021: Am 01.09.21 erklärte Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), dass die regierende Volksallianz, ihre Entscheidung bestätigt habe, die Wahlhürde für das Parlament von zehn auf sieben Prozent zu senken. Zuvor wurde laut Medienberichten eine Fünf-Prozent-Hürde angestrebt.

Nach Medienberichten nehmen die örtlichen Behörden in Ankara seit dem 02.09.21 keine neuen Registrierungen für den vorübergehenden Schutzstatus von Geflüchteten mehr an. Die neue Regelung verpflichtet auch alle Syrer, die in anderen Orten in der Türkei registriert sind und sich in Ankara aufhalten, die Stadt zu verlassen. Laut Medienberichten stehen die Maßnahmen im Zusammenhang mit den Angriffen gegen syrische und afghanische Migranten am 11.08.21 (vgl. BN v. 16.08.21). Das Innenministerium verkündete zudem, dass die Polizei in Ankara Kontrollen durchführen und Migranten ohne lokale Registrierung in die Provinzen zurückschicken wird, in denen sie registriert wurden. Migranten ohne Flüchtlingsstatus oder Aufenthaltsgenehmigung sollen festgenommen und in Abschiebezentren gebracht werden.

Der türkische Verfassungsgerichtshof hat am 02.09.21 einem Antrag der kurdischen Oppositionspartei, Demokratische Partei der Völker (HDP), auf zusätzliche Zeit für ihre Verteidigung im laufenden Parteiverbotsverfahren stattgegeben. Die gesetzliche Frist für die Verteidigung wird damit um weitere vier Monate verlängert.

Am 03.09.21 wurden 18 Personen in Istanbul und weiteren Provinzen verhaftet, denen Verbindungen zur Gülen Bewegung vorgeworfen werden. Nach weiteren zehn Verdächtigten wird gefahndet. Der Verdacht beruht auf der Nutzung der Mobiltelefon-App Bylock.

13.09.2021: Zwischen dem 06.09.21 und dem 10.09.21 ordneten türkische Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 08.09.21 erließ die Staatsanwaltschaft in den Provinzen Adana, Ankara, Istanbul und Konya in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben. Am 10.09.21 wurden weitere neun Personen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden, bei dem Versuch verhaftet, in der Provinz Edirne die Grenze zu Griechenland zu passieren.

Während Razzien in den Provinzen Istanbul, Manisa, und Hatay verhafteten türkische Sicherheitskräfte am 10.09.21 acht Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Terrorgruppe IS zu haben, darunter auch einen Verdächtigen, gegen den ein Haftbefehl vorlag. Laut Medienberichten seien sieben Verdächtigte in verschiedene Aktivitäten für die Terrorgruppe verwickelt gewesen und hätten diese auch finanziell unterstützt. Unabhängig von den Razzien wurden an der südlichen Grenze von Hatay vier Personen bei dem Versuch festgenommen, in die Türkei einzureisen.

Am 10.09.21 verhafteten türkische Polizeieinheiten 17 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP). Die Verdächtigten wurden in der Hauptstadt Ankara im Rahmen einer vom Büro für die Untersuchung von Terrorverbrechen eingeleiteten Untersuchung verhaftet, hieß es in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft. Die in der Türkei als linke Terrororganisation gelistete Gruppe wird für zahlreiche Anschläge in der Türkei verantwortlich gemacht, darunter der Bombenanschlag auf einen Linienbus in Istanbul 2004, bei dem drei Zivilisten getötet wurden. Nach weiteren sechs Verdächtigten wird gefahndet.

Der türkische Verfassungsgerichtshof urteilte am 08.09.21, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmara? das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Der Verfassungsgerichtshof ordnete eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 Lira an jeden der vier Kläger an. ?smail Sar?kabaday?, Songül Da?han, Zafer Kaçmaz und Mehmet Deliter reichten 17 2016 eine Klage beim Verfassungsgericht ein, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmara?, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde. Mit dem Verbot sollten die Proteste der Einwohner gegen den Bau einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Kahramanmara? unterdrückt werden.

20.09.2021: Am 13.09.21 wurde 13 pensionierten Generälen, die wegen ihrer Beteiligung am Militärputsch im Jahr 1997 verurteilt worden waren, der Rang aberkannt, nachdem das Oberste Kassationsgericht im August 2021 ihre Verurteilung zu lebenslangen Haftstrafen bestätigt hatte (vgl. BN v. 23.08.21).

Am 14.09.21 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bak?rhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit und Meinungsfreiheit. Bak?rhan, ein Mitglied der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), 15 wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt.

Am 14.09.21 erließ die Staatsanwaltschaft in 43 Provinzen mindestens 143 Haftbefehle gegen mutmaßliche GülenAnhänger. Die Verdächtigten werden beschuldigt, Mitglieder einer geheimen Gülen-Gruppe innerhalb der Sicherheitskräfte des Landes zu sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden die Verdächtigten durch den türkischen Geheimdienst (MIT) und die Polizei identifiziert. 102 Verdächtigte sollen mutmaßlich als „geheime Imame“ in der Bewegung tätig gewesen sein.

Am 14.09.21 wurden zwölf Personen während mehrerer Razzien, die in den Städten Ankara, Istanbul, Konya, Adana und der Provinz Sanliurfa durchgeführt wurden, festgenommen. Die Festgenommenen stehen im Verdacht, Verbindungen zur Terrorgruppe IS zu unterhalten und werden beschuldigt, den IS zwischen 2018 und 2019 finanziell unterstützt zu haben.

27.09.2021: Am 21.09.21 urteilte der Verfassungsgerichtshof, dass die Rechte eines Lehrers, der nach dem Putschversuch 2016 inhaftiert und von der Polizei gefoltert worden war, verletzt wurden. Der Verfassungsgerichtshof erklärte in seinem Urteil, dass das Misshandlungsverbot auch nicht im Falle einer Situation, die die Existenz der Nation bedrohe, aufgehoben werden könne. Misshandlungen seien selbst unter schwierigsten Bedingungen, wie dem Kampf gegen den Terrorismus und das organisierte Verbrechen, verboten.

Am 22.09.21 gab der Verfassungsgerichtshof dem Antrag einer Transfrau statt, deren Antrag auf Namensänderung in der ersten Instanz von einem Gericht mit der Begründung abgelehnt worden war, dass sie sich keiner geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hätte und die Gesellschaft „falsche Vorstellungen“ haben könnte, wenn sie einen femininen Vornamen tragen würde. Der Verfassungsgerichtshof urteilte, dass es zu den Verpflichtungen des Staates gehöre, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren Namen zu ändern, solange dies nicht die öffentliche Ordnung störe. Zudem urteilte der Verfassungsgerichtshof, dass der Antrag auf Namensänderung nicht mit den in Art. 40 des türkischen Zivilgesetzbuchs genannten Bedingungen für Transsexualität zusammenhänge.

Am 22.09.21 nahmen türkische Sicherheitskräfte bei simultanen Razzien in Istanbul acht Personen fest, denen vorgeworfen wird, Verbindungen zur linksextremen Gruppe Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (Devrimci Halk Kurtulu? Partisi-Cephesi, DHKP-C) zu unterhalten. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul stellte Haftbefehle gegen insgesamt 16 Personen aus, die Propaganda für die Organisation betrieben haben sollen.

Am 24.09.21 haben türkische Sicherheitskräfte bei landesweiten Operationen gegen die Gülen-Bewegung 35 Personen festgenommen, nachdem von der Generalstaatsanwaltschaft in Ankara gegen 51 Personen Haftbefehle ausgestellt wurden. Nach den übrigen Verdächtigen wird gefahndet. Ihnenwird vorgeworfen, Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte zu sein. Die Beschuldigten wurden durch die Nutzung von Münztelefonen an öffentlichen Orten identifiziert. Bei den Verdächtigten handelt es sich sowohl um ehemalige und aktive Soldaten als auch um Zivilisten.

Die Rubrik „Aktuelle Ereignisse“ wird laufend anhand der Briefing Notes des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ergänzt (die Briefing Notes sind im Internet frei abrufbar unter https://www.bamf.de/DE/Behoerde/Informationszentrum/informationszentrum-node.html).

2.       Politische Lage

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 03.06.2021; vgl. DFAT 10.9.2020).

Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).

Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Bei der Kommunalwahl vom 31.03.2019 gewann die oppositionelle CHP unter anderem die Bürgermeisterwahlen in Ankara und Istanbul. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Nach der umstrittenen Entscheidung des Hohen Wahlrats, die Bürgermeisterwahl in Istanbul aufgrund angeblicher Manipulationen zu annullieren, gewann der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu bei der Neuwahl am 23.06.2019 erneut – mit fast 800.000 Stimmen Vorsprung deutlich (NZZ 23.6.2019, AA 03.06.2021). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).

Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).

Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlio?lu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsf

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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