TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/13 L529 2200212-1

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Veröffentlicht am 13.12.2021
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Entscheidungsdatum

13.12.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L529 2200212-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RA Mag. Ingeborg HALLER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.05.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.07.2021, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als “BF“ bezeichnet) ist Staatsangehöriger des Irak und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Er wurde am 20.06.2015 im Zuge einer sicherheitspolizeilichen Kontrolle wegen unrechtmäßigem Aufenthalt in Österreich festgenommen.

I.2. Zur Verhängung der Schubhaft wurde der BF am 21.06.2015 niederschriftlich einvernommen. Der BF gab dabei an, am 20.06.2015 von Ungarn eingereist zu sein. Er wolle in Österreich studieren; im Irak sei ihm dies untersagt worden, weil er an einer amerikanischen Universität studiert habe. Zudem habe er wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit Probleme im Herkunftsland gehabt.

I.3. Der Beschwerdeführer stellte am 21.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde in der Folge aus der Schubhaft entlassen.

I.4. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 22.06.2015 gab der BF zum Fluchtgrund befragt an, er sei aufgefordert worden, schiitischen Milizen beizutreten und gegen eigene Landsmänner zu kämpfen. Er habe dies abgelehnt, da 2011 sein Bruder von diesen schiitischen Milizen entführt und getötet worden sei. Aus Angst um sein Leben habe er seine Heimat verlassen.

I.5. Am 03.07.2015 wurde dem BF mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gem. § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass eine Zuständigkeit des Dublinstaates UNGARN angenommen werde.

I.6. Am 19.09.2015 teilte der BF unter Anschluss einer Haftbestätigung dem BFA mit, dass er sich seit 19.09.2015 in Untersuchungshaft befinde. Den Termin am 30.09.2015 könne er daher nicht einhalten.

I.7. Am 09.10.2015 wurde der BF im Polizeianhaltezentrum von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen (Parteiengehör). Der BF wurde dabei in Kenntnis gesetzt, dass der Staat Ungarn im Konsultationsverfahren gemäß der Dublin-Verordnung zugestimmt habe und eine Rückführung des BF nach Ungarn geplant sei. Der BF gab dazu an, dass er in Ungarn gezwungen worden sei, einen Asylantrag zu stellen; sein Zielland sei Österreich gewesen und er wolle hier weiterstudieren.

I.8. Der BF wurde am 18.03.2016 aus der Haft entlassen und ersuchte am 22.03.2016 um Wiederaufnahme in die Grundversorgung.

I.9. Mit Aktenvermerk vom 13.02.2017 wurde das Asylverfahren gem. § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt, da der Aufenthaltsort des BF weder bekannt noch sonst leicht feststellbar sei.

I.10. Am 20.10.2017 sprach der BF beim BFA XXXX vor und stellte einen Antrag auf Akteneinsicht. Am 30.01.2018 nahm der BF im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim BFA Akteneinsicht.

I.11. Am 13.02.2018 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Der BF korrigierte zunächst sein Geburtsdatum, auch die in der Erstbefragung angegebenen Geburtsdaten der Eltern würden nicht stimmen. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, er habe neben seiner Ausbildung auch im Unternehmen seines Onkels gearbeitet. Dieser habe zusammen mit Amerikanern Brücken und Schulen gebaut. Zunächst sei sein Onkel von der Miliz Jaish Almahdi mit SMS bedroht worden, dann auch der BF selbst. Im Jahr 2011 sei sein jüngerer Bruder entführt und getötet worden. Im September/Oktober 2012 sei der BF mit der Familie des Onkels unterwegs gewesen und sie seien angehalten worden. Der BF sei weggelaufen, der Onkel entführt und fünf Tage später tot aufgefunden worden. Daraufhin habe sich der BF in XXXX versteckt. Er sei von diesen Leuten mehrmals im Elternhaus gesucht und seinem Vater sei dabei einmal ins Bein geschossen worden. Aus Angst um sein Leben habe er das Land verlassen.

I.12. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Das BFA stellte fest, dass sich aus dem Vorbringen des BF keine glaubhaften Hinweise für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung und daraus abgeleitete Fluchtgründe nach der GFK ergeben hätten. Der BF habe eine Verfolgungsgefahr in der Heimat nicht glaubhaft darlegen können.

I.13. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und dieser wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang angefochten.

I.14. Der Verwaltungsakt langte am 05.07.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L526 zugeteilt. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und mit 04.10.2018 der Gerichtsabteilung L528 neu zugewiesen. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 der vormals zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und mit 06.03.2019 der Gerichtsabteilung L529 neu zugeteilt.

I.15. Mit Beschwerdeergänzung vom 13.06.2019 wurde dem BVwG mitgeteilt, dass sich der BF in Österreich nunmehr über seine homosexuelle Neigung klar geworden sei.

I.16. Für den 20.07.2021 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden dem BF länderkundliche Informationen übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.

I.17. Dem BVwG wurde mit Schriftsatz vom 07.07.2021 die Vollmachtserteilung an die gewillkürte Rechtsvertretung bekannt gegeben.

I.18. Am 13.07.2021 langte beim BVwG eine Stellungnahme des BF samt Urkundenvorlage ein. Darin wurde insbesondere auf die Integrationsschritte des BF verwiesen sowie auf die prekäre Sicherheitslage im Irak und die Macht der schiitischen Milizen.

I.19. Am 20.07.2021 wurde von 08.45 – 14.15 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der der BF Gelegenheit hatte, zum Fluchtvorbringen, zu seiner Integration und seiner Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde dem BF aufgetragen, binnen einer Frist von drei Wochen die Sterbeurkunde des Bruders vorzulegen.

I.20. Mit Schreiben vom 10.08.2021 ersuchte der BF um Fristerstreckung, da ihm bis dato eine Kontaktaufnahme mit seinen Eltern nicht möglich gewesen sei. Dem BF wurde eine Frist bis zum 30.09.2021 eingeräumt.

I.21. Mit Schreiben vom 27.09.2021 legte der BF die Sterbeurkunde samt beglaubigter Übersetzung des Onkels vor und teilte gleichzeitig mit, dass es ihm nicht möglich sei, einen Totenschein vom Bruder vorzulegen, da sein Bruder 2011 entführt und bis dato sein Körper nicht gefunden worden sei.

I.22. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

II.1.1. Zur Person des BF:

Der BF ist Staatsangehöriger des Irak, führt den im Spruch genannten Namen und gehört der Volksgruppe der Araber und der sunnitischen Religionsgemeinschaft an. Seine Identität steht fest.

Der BF reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 21.06.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Asylverfahren des BF wurde am 13.02.2017 wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht eingestellt, da der Aufenthaltsort des BF weder bekannt noch sonst leicht feststellbar war.

Der BF wohnte bis zum Beginn seiner Reisebewegung in Richtung Europa in seinem Elternhaus in XXXX , dann etwa acht Monate bei Verwandten in XXXX und die letzten 10 Monate vor seiner Ausreise in XXXX . Er hat sein Heimatland zu einem nicht näher feststellbaren Zeitraum etwa 2013/2014 verlassen.

Der BF hat im Irak zwölf Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen, danach studierte er Bauingenieur (ohne Abschluss).

Familienmitglieder des BF (Eltern, Schwester) sind nach wie vor im Irak aufhältig, die Eltern des BF pendeln zwischen der Türkei und dem Irak. Der BF steht mit seiner Familie in Kontakt.

Der BF verfügt erst seit 14.08.2017 über einen Hauptwohnsitz in Österreich.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

Der BF verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2; seine Deutschkenntnisse sind für eine Verständigung im Alltag als ausreichend anzusehen. Er ist kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation.

Der BF ist ledig. Er hat in Österreich keine Verwandten oder sonstigen Angehörigen. Er lebt seit etwa Oktober 2020 in Lebensgemeinschaft mit einer slowakischen Staatsangehörigen.

Der BF ist selbsterhaltungsfähig und bezieht seit 29.10.2020 keine Leistungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung. Er war fallweise karitativ tätig.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14.10.2015 wurde der BF wegen des Versuchs der absichtlich schweren Körperverletzung (§ 15 StGB § 87 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt mit einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt. Er war von 19.09.2015 – 18.03.2016 in Haft.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Heimatland einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd GFK ausgesetzt war oder im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine solche zu erwarten hätte.

Es konnte zudem, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände, nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Es wird festgestellt, dass dem BF im Rückkehrfall keine lebens- bzw. existenzbedrohende Notlage droht. Dem BF ist eine Rückkehr in seine Herkunftsregion zum Entscheidungszeitpunkt zumutbar.


II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak wurden dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Länderinfo COI CMS Staatendoku Irak vom 02.06.2021, Version 3) übermittelt und auf die Berücksichtigung folgender Dokumente bei der Entscheidungsfindung hingewiesen:

* EASO Irak, gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019

* EASO Sicherheitslage im Irak, Oktober 2020

* EASO Irak - Zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019

* UNHCR – Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen; Mai 2019

* IBC, aktuelle Version

* BMF, Länderreport 25 Irak – Die Entstehung einer neuen Protestbewegung, Mai 2020

II.1.3.2. Es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen – einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din – wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranische PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro

Monat jeweils ein Balken).

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

Iraq Body Count, Teilausdruck vom 27.01.2021

Monatliche zivile Todesfälle durch Gewalt, ab 2003; Teilausdruck vom 23.06.2021

 

Jan

Feb

Mar

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dec

 

2003

3

2

3977

3438

545

597

646

833

566

515

487

524

12,133

2004

610

663

1004

1303

655

910

834

878

1042

1033

1676

1129

11,737

2005

1222

1297

905

1145

1396

1347

1536

2352

1444

1311

1487

1141

16,583

2006

1546

1579

1957

1805

2279

2594

3298

2865

2567

3041

3095

2900

29,526

2007

3035

2680

2728

2573

2854

2219

2702

2483

1391

1326

1124

997

26,112

2008

861

1093

1669

1317

915

755

640

30°

612

594

540

586

10,286

2009

372

409

438

590

428

564

431

653

352

441

226

478

5,382

2010

267

305

336

385

387

385

488

520

254

315

307

218

4,167

2011

389

254

311

289

381

386

308

401

397

366

288

392

4,162

2012

531

356

377

392

304

529

469

422

400

290

253

299

4,622

2013

357

360

403

545

888

659

1145

1013

1306

1180

870

1126

9,852

2014

1097

972

1029

1037

1100

4088

1580

3340

1474

1738

1436

1327

20,218

2015

1490

1625

1105

2013

1295

1355

1845

1991

1445

1297

1021

1096

17,578

2016

1374

1258

1459

1192

1276

1405

1280

1375

935

1970

1738

1131

16,393

2017

1119

982

1918

1816

1871

1858

1498

597

490

397

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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