TE Bvwg Erkenntnis 2021/12/13 L510 2228939-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.12.2021
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Entscheidungsdatum

13.12.2021

Norm

AsylG 2005 §3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


L510 2228939-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Irak, vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.01.2020, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.10.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrenshergang

1. Die beschwerdeführende Partei (bP), eine Staatsangehörige des Irak, reiste am 22.12.2019 in Begleitung ihres Vaters sowie in Besitz eines österreichischen Visums legal nach Österreich ein und stellte am 27.12.2019 durch ihre Mutter als gesetzliche Vertretung einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am selben Tag erfolgte eine Erstbefragung der Mutter der bP als gesetzliche Vertreterin und gab diese im Wesentlichen an, dass die bP keine eigenen Fluchtgründe haben würden und gegenständlicher Antrag gestellt worden sei, damit die bP denselben Schutz wie ihre Eltern erhalte.

2. Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 14.01.2020, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen, der bP jedoch im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 8 iVm § 34 Abs 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 18.08.2021 erteilt.

Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde der bP ein Rechtsberater von Amts wegen zur Seite gestellt.

3. Gegen Spruchpunkt I. des genannten Bescheides wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

4. Mit Schreiben vom 17.09.2021 ersuchte der Rechtsvertreter der bP um Übermittlung von Aktenbestandteilen sowie um Auskunft, warum die Beschwerde der älteren Schwester der bP nicht Gegenstand der Verhandlung ist.

In Entsprechung des Ersuchens übermittelte das Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 27.09.2021 die angeforderten Aktenbestandteile und teilte mit, dass beim Bundesverwaltungsgericht kein Beschwerdeverfahren betreffend die ältere Schwester der bP anhängig sei.

5. Am 07.10.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der Eltern der bP und ihres Rechtsvertreters eine mündliche Verhandlung durch.

Mit der Ladung zu dieser Verhandlung wurden die Eltern der bP umfassend auf ihre Mitwirkungsverpflichtung im Beschwerdeverfahren hingewiesen und zudem auch konkret aufgefordert, insbesondere ihre persönlichen Fluchtgründe und sonstigen Rückkehrbefürchtungen durch geeignete Unterlagen bzw. Bescheinigungsmittel glaubhaft zu machen.

Zugleich mit der Ladung wurden den Eltern der bP ergänzend Berichte zur aktuellen Lage im Irak übermittelt, welche das BVwG in die Entscheidung miteinbezieht. Eine schriftliche Stellungnahmefrist bis zum Verhandlungstermin oder eine Stellungnahmemöglichkeit in der Verhandlung wurden dazu eingeräumt. Eine schriftliche Stellungnahme wurde nicht abgegeben und auch in der mündlichen Verhandlung wurde den Berichten nicht entgegengetreten.

6. Am 07.10.2021 langten beim Bundesverwaltungsgericht Vollmachtsbekanntgaben der BBU GmbH sowie mehrere Dokumente ein.

Bezugnehmend auf ein Ersuchen des Bundesverwaltungsgerichts um Berichtigung der Vollmachten vom 28.10.2021 langten am 29.10.2021 die berichtigten Vollmachten der bP und ihrer Familienangehörigen ein.

7. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag wurde die Beschwerde der Mutter der bP gegen Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheides, mit welchem ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, als unbegründet abgewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:

Die bP ist irakischer Staatsangehöriger, führt den im Spruch angeführten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum. Ihre Identität steht fest.

Die bP wurde im Irak geboren und lebte dort zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester in der Kleinstadt XXXX , in der Nähe von XXXX . Nach der Ausreise ihres Vaters nach Österreich im April 2015 übersiedelte die bP gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zu der Familie ihrer Mutter nach XXXX in der Provinz XXXX . Nach der Ausreise ihrer Mutter im Juli 2016 kümmerte sich ihre Tante um sie und ihre Schwester. Ende Dezember reiste die bP aus dem Irak aus und am 22.12.2019 in Begleitung ihres Vaters sowie in Besitz eines österreichischen Visums legal nach Österreich ein und stellten am 27.12.2019 durch ihre Mutter als gesetzliche Vertretung einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid des BFA vom 14.01.2020, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen, der bP jedoch im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 8 iVm § 34 Abs 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 18.08.2021 erteilt.

Die bP ist die Tochter der seit XXXX 2010 verheirateten irakischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX . Sie verfügt über zwei Geschwister: XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX . Die bP lebt gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in einer Mietwohnung im Familienverband.

Der Vater der bP reiste bereits Mitte April 2015 aus dem Irak aus und am 16.05.2015 in Österreich ein, wo er am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit Bescheid des BFA vom 19.08.2016, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, ihm jedoch gemäß § 8 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 18.08.2017 erteilt. Dieser Bescheid erwuchs am 21.09.2016 in Rechtskraft. Aufgrund einer Verurteilung des Vaters wegen dem Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1 und Abs 3 FPG wurde diesem mit Bescheid des BFA vom 17.06.2021, Zl. XXXX , der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 2 AsylG von Amts wegen aberkannt und festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gem. § 9 Abs 2 AsylG iVm § 52 Abs 9 FPG unzulässig sei. Es wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gem. § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs 2 Z 4 FPG erlassen. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag als unbegründet abgewiesen.

Die Mutter der bP reiste im Juli 2016 aus dem Irak aus, wenige Tage später unrechtmäßig in Österreich ein und stellte am 25.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des BFA vom 25.05.2018, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, ihr jedoch im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 8 iVm § 34 Abs 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Die bP verfügt im Irak über Familie/Verwandte. Ihre Großeltern sowie mehrere Onkel und Tanten leben nach wie vor im Irak, wie auch weitere Verwandte.

Aktuell liegen keine relevanten behandlungsbedürftigen Krankheiten vor. Die bP ist gesund.

Strafrechtliche Verurteilungen liegen in Österreich nicht vor.

1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Die beschwerdeführende Partei lebt mit ihren Eltern und ihren Geschwistern im Familienverband und hat kein eigenes Vorbringen erstattet. Das Verfahren wird als Familienverfahren gemäß § 34 AsylG geführt. Das Vorbringen der Eltern der bP erachtete das BFA bzw. das Bundesverwaltungsgericht zur Gänze als unglaubwürdig bzw. nicht asylrelevant (siehe dazu detaillierter Bescheid des BFA vom 19.08.2016, Zl. XXXX und L510 2199349-1).

Es konnte nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Ausreise in den Irak einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre oder in eine lebens- bzw. existenzbedrohliche Notlage geraten würde.

1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ

1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, XXXX und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a). An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018). Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a). Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020).

Die im Irak anhaltenden sektiererischen Spannungen führten zum Aufstieg von Da'esh (auch als islamischer Staat bekannt), einer militanten Salafi Dschihadistengruppe, die einer fundamentalistischen Version des sunnitischen Islam folgt. Der IS besetze große Teile des Irak im Jahr 2014. Auf seinem Höhepunkt besaß der IS ungefähr 40 Prozent des irakischen Territoriums. Während seiner Besatzung verübte er zahlreiche Gräueltaten, insbesondere gegen Minderheitengruppen, einschließlich Massenmord und sexuelle Versklavung. Der IS besiegte die irakischen Sicherheitskräfte in mehreren Schlachten und kam 50 Kilometer bis an Bagdad heran, bevor er von den regulären irakischen Streitkräften gestoppt werden konnte, unterstützt von einer durch die USA geführten Internationalen Koalition und irregulärer Volksmobilisierungskräfte (PMF). Nach drei Jahren Konflikt erklärte die Regierung im Dezember 2017 den endgültigen Sieg über den IS, nachdem die letzten vom IS kontrollierten Gebiete entlang der syrischen Grenze zurückerobert worden waren. Der Konflikt mit dem IS hat die irakische Wirtschaft erheblich geschädigt und der IS stellt weiterhin eine Sicherheitsbedrohung innerhalb des Landes dar (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 9).

Demografische Daten für den Irak sind unzuverlässig, aber die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung des Landes zwischen 38 und 40 Millionen liegt. Das geschätzte Bevölkerungswachstum des Landes liegt bei rund 2,8 Prozent pro Jahr und liegt damit in den Top 20 der am schnellsten wachsenden Länder weltweit. Der Irak ist ein junges Land: Fast 60 Prozent der Iraker sind den Berichten zufolge unter 25 Jahre alt. Ungefähr 70 Prozent der Iraker leben in städtischen Gebieten. Der Irak hat eine 3-prozentige jährliche Urbanisierungsrate. Bagdad ist die Hauptstadt und größte Stadt mit einer Bevölkerung zwischen 6 und 7 Millionen Einwohner. Die Städte Basra und Mosul haben beide mehr als 2 Millionen Einwohner, während XXXX , Kirkuk, Sulaymaniyah und Hilla jeweils mehr als 1 Million Einwohner haben. Die irakische Bevölkerung ist stark konzentriert im Norden, in der Mitte und im Osten des Landes, mit vielen größeren städtischen Ballungsräumen entlang der ausgedehnten Teile des Tigris und des Euphrat. Ein Großteil der westlichen und südlichen Gebiete des Irak ist Wüste und dünn besiedelt oder unbewohnt (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 10).

Die irakische Verfassung garantiert grundlegende Menschenrechten einschließlich Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Chancengleichheit, Privatsphäre, Unabhängigkeit der Justiz, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Religionsausübung und Schutz der Kultstätten, Vereinigungs- Gedanken- und Meinungsfreiheit. Zahlreiche Gesetze schützen diese verfassungsmäßige Freiheiten. Artikel 2 Absatz 1 der Verfassung besagt, dass der Islam die offizielle Religion des Staates ist. Der zweite Teil von Artikel 2 garantiert das Recht auf Glaubens- und Religionsfreiheit, insbesondere unter Erwähnung von Christen, Jesiden und Sabäer-Mandäer (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 18, 26).

Artikel 102 der Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der irakischen Hohen Kommission für Menschenrechte (IHCHR), die vom Repräsentantenrat überwacht wird. Das Gesetz über die Tätigkeit des IHCHR sieht 12 Vollzeitkommissare und drei Reservekommissare mit einer Laufzeit von vier Jahren vor. Das Gesetz überträgt der IHCHR eine breite Befugnis, einschließlich des Rechts auf Empfang und Untersuchung von Menschenrechtsbeschwerden, Durchführung unangekündigter Besuche in Justizvollzugsanstalten und Überprüfung der Gesetzgebung. Die Unabhängige Menschenrechtskommission der Region Kurdistan (IHRCKR) führt ein ähnliches Verfahren durch. Beide Organisationen veröffentlichen regelmäßig Berichte zu Menschenrechtsfragen und führen Schulungen für staatliche Sicherheitsbehörden durch (Australian Government – Department of Foreign Affairs and Trade, Country Information Report Iraq, 17.08.2020, S. 18, 19).

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen. Im Juli 2019 begann die „Operation Will of Victory“, an der irakische Streitkräfte (ISF), Popular Mobilizations Forces (PMF), Trival Mobilization Forces (TMF) und Kampfflugzeuge der US-geführten Koalition teilnahmen. Die mehrphasige Operation hat die Beseitigung von IS-Zellen zum Ziel. Die zivilen Todesopfer im gesamten irakischen Gebiet belaufen sich im Jahr 2017 auf 13.183, im Jahr 2018 auf 3.319 und von Jänner bis inkl. September 2019 auf 1.542. Es handelt sich dabei im vorläufige Zahlen, andere sind nicht verfügbar.

Der IS hat im April 2020 eine neue Gewaltoffensive gestartet, die in der dritten Woche des Mai ihren Höhepunkt erreichte. Es wurden dabei die gleich hohe Anzahl von Attacken wie zuletzt zur selben Zeit 2018. In der vierten Mai-Woche gingen die Attacken wieder zurück (Musings on Iraq, 01.06.2020).

Die Gewalt im Irak erreichte in der vierten Juniwoche einen Tiefpunkt. Die Angriffe des Islamischen Staates waren dort einstellig. Vom 22. bis 28. Juni 2020 wurden in den Medien im Irak insgesamt 10 Sicherheitsvorfälle gemeldet. Einer davon war ein Raketenangriff auf den Internationalen Flughafen Bagdad von pro-iranischen Gruppen, die hoffen, inmitten der amerikanisch-irakischen Verhandlungen um eine neue Sicherheitsvereinbarung, eine Nachricht an die USA zu senden. Das waren nur 9 Vorfälle des Islamischen Staates. Dies war die niedrigste Zahl seit 8 Vorfällen in der zweiten Woche im November 2019.

Gewalt trat nur in vier Provinzen auf. Es gab jeweils einen Vorfall in Kirkuk und Salahaddin, zwei in Bagdad und sechs in Diyala. 8 Menschen starben und 13 wurden verwundet. Das waren 2 Hashd al-Shaabi und 6 Polizisten, die ihr Leben verloren haben, zusammen mit 5 Polizisten und 8 Hashd, die verletzt wurden. Die Sicherheitskräfte waren weiterhin das Hauptziel der Militanten. Jetzt versucht der IS, seine militärische Dominanz über die ländlichen Gebiete, in denen er arbeitet, durch Einschüchterung der Armee, Polizei und Hashd zu behaupten. Alle Opfer gab es in Salahaddin mit 10 und Diyala mit 11. Anbar bleibt ein Schwerpunkt der Regierung. In der vergangenen Woche gab es 7 Sicherheitsoperationen. In der folgenden Woche gab es gerade eine in der Wüstenregion Nukhaib im Süden an der Grenze zu Nadschaf. Die Provinz sieht relativ wenig aufständische Aktivitäten, ist aber die Hauptschmuggelroute des IS.

Es gab zwei Zwischenfälle in Bagdad. Neben dem Raketenangriff warf ein Polizist zwei Granaten auf sein Haus im Adhamiya Distrikt im Norden. Im Juni wurden fast alle Angriffe, 8 von 10, im Gouvernement der Hauptstadt von proiranischen Gruppen durchgeführt, die Raketen in Bereichen abfeuerten, in denen amerikanisches Personal untergebracht ist. Dies führte dazu, dass die Regierung die Büros der Kataib Hisbollah überfiel, die dafür verantwortlich gemacht wurde.

Diyala ist die Hauptbasis für den Aufstand im Irak. Es war diesen Monat relativ ruhig, weil die Regierungstruppen anwesend waren. Während der Woche gab es sechs Vorfälle, die meisten in diesem Monat. Dazu gehörten zwei Städte im Waqf-Becken, welche von Mörsern getroffen wurden, zwei Angriffe auf Kontrollpunkte, ein Angriff auf ein Dorf und es wurde ein Polizist erschossen. All dies geschah im Muqdadiya Bezirk in der Mitte. Die Regierung startete außerdem sechs Operationen im Norden, Süden, Nordosten und Zentrum. Die Hälfte davon war auf wenige Dörfer beschränkt, während die anderen größere Regionen abdeckten. Die Kerngebiete des Islamischen Staates in Muqdadiya und Khanaqin wurden jede Woche durchsucht, was erklärt, warum die Vorfälle relativ gering waren. Die stetigen Operationen in letzter Zeit haben dazu geführt, dass nicht so viele Angriffe wie üblich ausgeführt werden konnten.

Im südlichen Makhmour-Distrikt von XXXX gab es eine Sicherheitsoperation. Seit einigen Monaten trifft der IS diesen Bereich, weil es ein umstrittenes Gebiet ist und es Lücken in der Berichterstattung zwischen den irakischen Streitkräften und Peshmerga gibt.

Die dritte Phase der Heroes of Iraq-Kampagne begann Anfang der Woche in Salahaddin. Vier verschiedene Bereiche in der Mitte und im Osten waren betroffen. Es wurden mehrere IEDs entdeckt, die 2 Hashd töteten und 8 weitere verwundeten.

Es gab keine Zwischenfälle in Kirkuk oder Ninewa und keine Regierungsaktivitäten. Dies war ein weiteres Zeichen dafür, dass sich der IS im Juni reduzierte. Der Rückgang der Ereignisse im Juni zeigt, dass der Aufstand militärisch immer noch sehr begrenzt ist und große Operationen nicht lange aufrechterhalten werden können. Die Regierung war auch sehr aggressiv (Musings on Iraq, 30. Juni 2020).

Die Gewalt im Irak ist auf ein sehr niedriges Niveau zurückgekehrt. In der dritten Woche in Folge gab es kaum Vorfälle. Das kam nachdem der Islamische Staat von April bis Mai eine neue Offensive angekündigt hatte, bei der die Angriffe auf das Niveau von 2018 stiegen. Die Regierung startete auch eine aggressive Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, die auch die Operationen der Aufständischen niedrig gehalten haben.

Vom 15. bis 21. Juni wurden in den Medien nur 16 Sicherheitsvorfälle gemeldet. Das war die gleiche Zahl wie in der Woche zuvor. Zwei von den Vorfällen waren pro-iranische Gruppen, die Raketen auf Ziele in Bagdad abfeuerten, in denen Amerikaner untergebracht waren, sowie ein Dritter, bei welchem Raketen entdeckt wurden, bevor sie ins Leben gerufen wurden. Diese Art von Angriffen entstand, als die irakische Regierung Gespräche über eine neue Sicherheitsvereinbarung mit den Vereinigten Staaten aufgenommen hat. Teheran versucht die Botschaft zu senden, dass die Amerikaner jederzeit ins Visier genommen werden können und das Land verlassen sollten. Damit blieben 13 Vorfälle durch den IS wahrscheinlich, gegenüber 12 in der Woche zuvor und 17 in der ersten Juniwoche.

Die Vorfälle verteilten sich auf nur fünf Provinzen, eine in Kirkuk, vier in Bagdad und Diyala, zwei in Ninewa und fünf in Salahaddin. Diese führten zu 11 Todesfällen und 19 Verwundeten. 1 Zivilist, 4 irakische Sicherheitskräfte (ISF) und 6 Hashd al-Shaabi kamen ums Leben, weitere 5 Sicherheitskräfte, 7 Zivilisten und 7 Hashd wurden verletzt. Salahaddin hatte mit 19 die meisten Verluste, gefolgt von 6 in Diyala, 4 in Ninewa und 1 in Bagdad. Obwohl die Verluste gering waren, litten die Sicherheitskräfte mehr als die Zivilbevölkerung darunter, was in den letzten zwei Monaten eine entscheidende Veränderung war. Es scheint, dass der IS versucht, die militärische Überlegenheit gegenüber den ländlichen Gebieten, in denen sie tätig sind, zu etablieren, indem sie danach streben die Polizei, Armee und Hashd einzuschüchtern. Seit der IS letztes Jahr sein letztes Stück Territorium in Syrien verloren hat, zieht er Männer und Material aus dem Land in den Irak, weitgehend über Anbar. Als Reaktion darauf tätigt die Regierung ständige Sicherheitsoperationen in den großen unbewohnten Gebieten der Provinz. Dort gab es sieben solche während der Woche durch die Wüstengebiete, die Grenze und das Hit-Viertel.

In Diyala gab es während der Woche vier Zwischenfälle. Eine Militärpatrouille wurde von einem IED getroffen, eine Gruppe von Zivilisten wurde angegriffen, ein IS-Scharfschütze tötete einen Hashd und verwundete einen Soldaten, alles im Bezirk Muqdadiya im Zentrum. Ein Infiltrationsversuch wurde im Bezirk Khanaqin im Nordosten vereitelt. Diese Provinz ist das Zentrum der IS-Aktivitäten im Irak, weshalb es regelmäßig zu einer hohen Anzahl von Vorfällen kommt.

3 Personen, die Wochen zuvor entführt worden waren, wurden von den Sicherheitskräften in einem Dorf im Bezirk Daquq im Süden von Kirkuk gerettet. Der IS wurde nie aus der südlichen Region des Gouvernements vertrieben, weshalb sich dort fast alle Vorfälle ereignen. In Ninewa führten zwei IEDs, die sich gegen Zivilisten richteten, zu insgesamt vier Verwundeten. Beide ereigneten sich im Bezirk Qayara südlich von Mosul. Salahaddin war das gewalttätigste Gebiet im Irak. Es gab fünf Vorfälle, darunter IEDs, die auf einen Armeekonvoi und eine Hashd-Patrouille abzielten. Der Anführer von Hashd wurde ermordet und es wurde auf einen Kontrollpunkt geschossen. Das größte Ereignis war jedoch ein Angriff auf ein Hashd-Hauptquartier im Samarra Bezirk, der 6 Opfer hinterließ. Der IS hat in den letzten Wochen seine Aktivitäten in der Provinz stark aufgenommen. Als Antwort gab es eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, drei im Osten, eine im Westen von Samarra im Zentrum und die letzte in Yathrib im Süden (Musings on Iraq, 23. Juni 2020).

Die Winterruhe setzte sich bis März fort. Von 08. bis 14. März wurden insgesamt nur 12 Vorfälle gemeldet. Zwei davon waren von pro-iranischen Gruppen, die nur 10 vom Islamischen Staat. Seit November sind IS-Vorfälle im einstelligen Bereich. Mit dem Iran verbündete Fraktionen trafen zwei Konvois, die Vorräte für die USA transportierten. Einer war in Anbar und der andere in Diwaniya. Es war das erste Mal, dass ein IED-Angriff in Anbar stattfand. Dies zeigte, dass pro-iranische Gruppen ihre Operationen auf den Irak ausweiten. Die 10 IS-Vorfälle ereigneten sich in Bagdad (1), Kirkuk (2), Ninewa (2), Salahaddin (2) und Diyala (3). 13 Menschen wurden getötet, bestehend aus 1 Hashd al-Shaabi, 4 irakischen Sicherheitskräften und 8 Zivilisten. Weiter 15 wurden verwundet, bestehend aus 7 Zivilisten und 8 ISF. Salahaddun hatte mit 10 die meisten Opfer. In Bagdad wurde eine Granate auf eine Menschenmenge auf einer Brücke in Khadimiya geworfen, wo sich ein schiitischer Schrein befindet. 1 Person wurde getötet und drei wurden verletzt. Es ist unklar, wer dafür verantwortlich war, aber wenn es der IS war, wäre es das zweite Mal, dass er einen Angriff innerhalb der Stadt in den letzten Wochen durchgeführt hat. Normalerweise trifft es nur die Städte am Rande der Provinz. Es gab 3 Vorfälle in Diyala. Ein Anwalt überlebte ein Attentat, ein Soldat wurde von einem Scharfschützen getötet und wurde eine Granate auf ein Haus geworfen. In Kirkuk verwundete ein IED 7 Polizisten. Die Militanten griffen auch einen Armee-Regimestützpunkt an und ließen 1 Soldaten tot und 1 verletzt zurück. Der IS hat ein Lager im Süden des Gouvernements, aber es war ruhig in den letzten Monaten. Es gab einen IED und eine Schießerei mit der Armee in Ninewa, als eine Gruppe von IS-Kämpfern versuchte, aus Syrien zu infiltrieren. Wie Kirkuk hat auch diese Provinz einen dramatischen Rückgang der Gewalt erlebt. In Salahaddin drang eine Gruppe von ISF-Kämpfern in ein Haus ein und massakrierte 7 Menschen, tötete einen Polizisten und verletzte einen weiteren. Ein Hashd-Kämpfer wurde ebenfalls von einem Scharfschützen getötet (Musings on Iraq, 16.März 2021).

ACLED weist im aktuellsten Bericht vom 28.10.2020 betreffend das 2. Quartal für das Gouvernement Bagdad, mit seinen ca. 11.8 Millionen Einwohner insgesamt 71 sicherheitsrelevante Vorfälle auf, wobei über 19 Todesopfer berichtet wurde. Folgende Gebiete waren betroffen: Al Wahdah, Al Yusufiyah, Ar Rashidiyah, At Tarmiyah, Az Zaydan, Baghdad, Baghdad - Adhamiya, Baghdad - Al Rashid, Baghdad - Kadhimiya, Baghdad - Karadah, Baghdad - Karkh, Baghdad - Mansour, Baghdad - Rusafa, Baghdad - Sadr City, Baghdad International Airport, Madain, Nahrawan, Taji, Zawbaa.

Dem Country Fact Sheet Iraq 2019 der IOM zufolge führt die irakische Regierung Berufsbildungsprogramme durch, um die Arbeitslosigkeit zu senken, das Qualifikationsniveau zu heben und „den Bedarf des entstehenden Privatsektors“ zu decken. Rückkehrer können beim Ministerium für Arbeit und Soziales Unterstützung beantragen; hierzu müssen sie ihre Identitätskarte und ihre Lebensmittelkarte sowie verschiedene andere Dokumente vorlegen, um sich beim Ministerium registrieren zu lassen (EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und XXXX , Sept 2020).

Im November 2019 berichtete REACH über offizielle Pläne und Strategien für den Schutz und die Förderung der Beschäftigung von Frauen. Hierzu zählten der nationale Aktionsplan für die Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die nationale Strategie zur Verbesserung des Status irakischer Frauen für den Zeitraum 2014 bis 2018 und das irakische Arbeitsgesetz aus dem Jahr 2015. REACH gelangte zu dem Schluss, das ungeachtet dieser Bemühungen insbesondere im Privatsektor erhebliche Diskrepanzen bei der Umsetzung dieser Strategien zu beobachten waren. Im nationalen Entwicklungsplan 2018–2022 des Irak wurden zahlreiche Probleme genannt, die einer wirksamen Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt entgegenstehen. Hierzu zählten die „unzureichende Durchführung der Gesetze zur Befähigung von Frauen zur Selbstbestimmung“ aufgrund gesellschaftlicher und kultureller Faktoren, die Abschaffung der Ministerien für Frauen und Menschenrechte und die zahlreichen gegen das Personenstandsgesetz verstoßenden Praktiken, wie beispielsweise die Kinderehe. Als weitere Hindernisse für die Beschäftigung von Frauen wurden die unzureichende Berücksichtigung geschlechterspezifischer Aspekte im Staatshaushalt, die Diskriminierung von Frauen im Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rollen, die steigende Zahl der Witwen und Waisen sowie das niedrige Bildungsniveau und die unzureichenden Qualifikationen von Frauen genannt.

Zu den im Plan festgelegten Zielsetzungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Frauen zählten unter anderem die Steigerung der Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen und die Erleichterung der Kreditaufnahme.

Mit Blick auf den Privatsektor wurde das Ziel vorgegeben, die Vergabe von Kleinkrediten an Frauen zu fördern und verstärktes Augenmerk auf die Durchführung des Frauen betreffenden Kapitels des irakischen Arbeitsgesetzes Nr. 37/2015 zu legen. Die UNAMI stellte fest, dass sich Faktoren wie Gewalt, Unsicherheit, die gesellschaftlichen Ansichten über Frauen und die unzureichende Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben nachteilig auf „die Rolle der irakischen Frauen beim Wiederaufbau des Landes“ ausgewirkt haben. Darüber hinaus waren irakische Frauen in der Regel stark von der unzuverlässigen Stromversorgung betroffen, die „das Einkommen und die Produktivität der von Frauen geführten kleinen Unternehmen beeinträchtigt und [...] Frauen davon abhält, sich weiterzubilden oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen“. In einer von der Weltbank in der RKI durchgeführten Erhebung gaben mehr als 70 % der befragten Männer und Frauen an, dass die Beschäftigung von Frauen im Privatsektor akzeptabel sei. Zudem erklärten mehr als 50 % der befragten arbeitslosen Frauen, arbeiten zu wollen. Was die Art der Beschäftigung betrifft, so waren in der Stadt XXXX 82,3 % der erwerbstätigen Frauen im öffentlichen Sektor und 10,5 % im privaten Sektor beschäftigt, 2,9 % waren selbstständig und 1,9 % verdienten ihren Lebensunterhalt als Tagelöhnerinnen. Dem Ausblick 2020 für die RKI zufolge sind etwa 80 % der erwerbstätigen Frauen in der RKI im öffentlichen Sektor beschäftigt. Weiter wurde eingeräumt, dass „kulturelle Aspekte den gleichberechtigten Zugang von Frauen zu Ressourcen und Führungspositionen in der Gesellschaft nach wie vor einschränken“. Dem Ausblick zufolge gab die Mehrheit der Frauen in der RKI an, nicht über die für eine Beschäftigung erforderliche Qualifikation zu verfügen. Als Zielsetzung für die KRG wurde festgelegt, „das Geschlechtergefälle bei der Lese- und Schreibkompetenz und den Schulbesuchsquoten zu verringern“ und „die Gleichberechtigung der Frauen bei allen gesellschaftlichen Aktivitäten zu gewährleisten“ (EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und XXXX , Sept 2020).

Stammeszugehörigkeit – sonstige Unterstützungsnetzwerke:

Im Irak gibt es ungefähr 150 Stämme, die unterschiedlich groß und einflussreich sind. Die traditionellen Stammesstrukturen im Irak sind grds. durch gesellschaftliche und politische Loyalitäten bestimmt. Irakische Stämme sind soziale Institutionen, die ihren Mitgliedern helfen können Arbeit zu finden, sich staatliche Dienstleistungen zu sichern, und sie vor externen Bedrohungen schützen. Solidarität, Loyalität und Schutz gehen jedoch auch mit Verpflichtungen gegenüber dem Stamm einher. Stämme haben ihre eigenen Mechanismen der Konfliktregelung (innerhalb des Stammes und zwischen zwei oder mehreren Stämmen) und eigene Konzepte von Ehre, Versöhnung und Reintegration (BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Stammeszugehörigkeit, Stammesausschluss, Strafe wegen Alkoholverkauf, 7. November 2018 (https://www.ecoi.net/en/file/local/1450510/5818_1542179189_irak-mr-min

stammeszugehoerigkeit-stammesausschluss-strafe-wegen-alkoholverkaufs-2018-11-07-ke.doc).

In einer Anmerkung zu dem 2019 veröffentlichten Bericht des EASO über die zentralen sozioökonomischen Indikatoren im Irak erklärte Dr. Chatelard, dass Patronage oder Klientelismus eine strukturierende Kraft in der irakischen Gesellschaft ist und die Inanspruchnahme nichtstaatlicher Unterstützungsnetzwerke die häufigste Bewältigungsstrategie darstellt, die sich alle Schichten der Bevölkerung zu eigen machen, um Zugang zu sozialem Schutz und wirtschaftlichen Ressourcen zu erhalten. Aufgrund des Fehlens von Rechtsstaatlichkeit und eines gerechten Systems für die Verteilung öffentlicher Güter (einschließlich der Gewährleistung der persönlichen Sicherheit) erfordert der Zugang zu diesen Gütern die Vermittlung politischer Machthaber, religiöser Persönlichkeiten und anderer einflussreicher Personen, die die Interessen ihrer Anhängerschaft vertreten und als Gegenleistung Loyalität einfordern. „Familiäre Bindungen (die sich auf Stammesebene fortsetzen), Verbindungen innerhalb der Religionsgemeinschaften, politischen Parteien, bewaffneten Gruppen oder Milizen sowie alle anderen Beziehungen, die Menschen mit einem gewissen Maß an Vertrauen (zu Nachbarn, Arbeitskollegen, früheren Klassenkameraden oder Angehörigen der ethnisch-religiösen Gemeinschaft) aufbauen, können genutzt werden, um eine Stelle zu finden, Verwaltungsverfahren zu vereinfachen, einen Antrag auf Sozialhilfe zu beschleunigen, Zugang zu einer besseren Gesundheitsversorgung zu erhalten, sich Geld zu leihen usw.“

„Wasta“ ist ein System, bei dem „unterschiedliche Akteure, die außerhalb des formalen politischen Systems Einfluss ausüben, wie etwa Geschäftsleute, in die Regierungsführung einbezogen werden“, wobei Loyalitäten und Verbindungen Geltung verschafft wird. Das Stammesdenken spielt landesweit im Rahmen des Wasta-Systems eine komplexe Rolle. Nach Angaben des Thinktank „The Conversation“ kam das Wasta-System, „innerhalb dessen man jenen Gefälligkeiten erweist, denen man wohlgesonnen ist und nahesteht, wie etwa Freunden und Familienangehhörigen“, weiterhin den irakischen Eliten zugute, die sich dieses System zulasten der Mehrheit der Bevölkerung, die nach wie vor zu kämpfen hatte, zunutze machten. REACH berichtete, dass in den zuvor vom ISIL kontrollierten Gebieten 407 der 499 an den Erhebungen und Fokusgruppendiskussionen beteiligten Frauen „angaben, Freunde, Familienangehörige und Netzwerke bei der Suche nach Arbeit um Hilfe gebeten zu haben“. Beziehungen waren unverzichtbar, um sich einen Arbeitsplatz im öffentlichen Sektor zu sichern, wobei Binnenvertriebene eher auf Freunde und Verwandte zurückgriffen als auf politische Verbindungen. In einem am 23. Oktober 2019 veröffentlichten Bericht, für den mehr als 1 250 Haushalte in Mossul und Tal Afar befragt wurden, stellte der DRC fest, dass der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken, unter anderem mit Familienangehörigen, Verwandten, Freunden, kulturellen/religiösen Gruppen und den örtlichen Unternehmen, wichtig war, „um die grundlegenden Bedürfnisse zu decken, oftmals durch kleine Barkredite oder Kredite für den Erwerb von Waren und Dienstleistungen“. Weiter heißt es in dem Bericht, dass die Pflege dieser Netzwerke die Einhaltung gewisser gesellschaftlicher Konventionen voraussetzte, wie etwa die Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen, die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Pflichten und das Erbringen von Gegenleistungen. Die Pflege dieser Netzwerke durch gesellschaftliche Kontakte war zudem Voraussetzung für den Zugang zu Krediten. Jedoch stellte die Humanitarian Policy Group fest, dass in Mossul „die Netzwerke, in deren Rahmen Vertriebene oder die unter der ISIL-Herrschaft lebende Bevölkerung unterstützt wurden, mittlerweile aufgelöst und Berichten zufolge durch eine Atmosphäre des Misstrauens ersetzt wurden“. Darüber hinaus waren Vetternwirtschaft und Korruption bei der Arbeitsplatzsuche und im Rahmen der Entschädigungsverfahren an der Tagesordnung, und selbst die Arbeit für NRO setzte Beziehungen voraus. (EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und XXXX , Sept 2020).

Wohlfahrtsleistungen:

Dem Country Fact Sheet Iraq 2019 der IOM zum Irak ist zu entnehmen, dass die irakische Regierung grundlegende Leistungen wie kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebensmittelrationen ohne Diskriminierung für alle Bürger, darunter auch für Rückkehrer, bereitstellte. Zwischen den Wohlfahrtssystemen der einzelnen Kommunen und Gouvernements bestanden Unterschiede, und es wurden Kriterien herangezogen, um die Situation schutzbedürftiger Personen, wie beispielsweise von Menschen mit Behinderungen und Familien verwitweter Frauen, einzuschätzen. Diese Kriterien wurden auch auf Rückkehrer angewandt, die sich bei den Ämtern des Ministeriums für Arbeit und Soziales registrieren lassen und ihre Identitätskarte, ihre Lebensmittelkarte und andere vom Ministerium verlangte Dokumente vorlegen mussten. Dem Global Humanitarian Overview 2020 des UNOCHA zufolge werden neben der Regierung auch „humanitäre Organisationen Unterstützung leisten, um das Wohlergehen und den Lebensstandard akut gefährdeter Rückkehrer zu verbessern“. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass der Schwerpunkt im Jahr 2020 auf den 1,8 Millionen Personen liegen wird, die von den insgesamt 4,1 Millionen Hilfsbedürftigen im Irak am stärksten gefährdet sind. In einem im November 2019 veröffentlichten Bericht meldete das UNOCHA, dass minderjährige Binnenvertriebene, die außerhalb der Lager leben, sowie gefährdete Kinder in den Aufnahmegemeinschaften „stärker in die Netze der sozialen Fürsorge eingebunden werden müssen, um ihren Zugang zum Bildungswesen zu gewährleisten“ (EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und XXXX , Sept 2020).

Medizinische Versorgung:

Dem Country Fact Sheet Iraq 2019 der IOM zufolge ist das Gesundheitssystem des Irak allen Bürgern zugänglich. Erwachsene müssen lediglich ihre Identitätskarte vorlegen, um sich in einer Klinik oder einem Krankenhaus registrieren zu lassen. Bei Impfungen von Säuglingen und Kleinkindern werden den Eltern ein Informationsblatt und eine Checkliste ausgehändigt, die bei jedem Besuch des Krankenhauses mitgebracht werden müssen. Im Informationsblatt sind Angaben aus der Geburtsurkunde und den Identitätskarten der Eltern aufgeführt. Bezüglich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung stellte Human Rights Watch fest, dass Personen ohne die erforderlichen Dokumente keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten und sich keine Geburtsurkunden für ihre Kinder ausstellen lassen konnten (EASO, Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren für Bagdad, Basra und XXXX , Sept 2020).

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert (IOM, Country Fact Sheet Iraq 2019).

In Bagdad wurde ein neues deutsch-irakisches Beratungszentrum für Jobs, Migration und Reintegration eröffnet. Es ist das zweite seiner Art im Irak neben dem Beratungszentrum in XXXX , das seine Arbeit bereits im April 2018 aufgenommen hatte. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Schaffung attraktiver und langfristiger Bleibeperspektiven. Zu den angebotenen Leistungen gehören Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie die Unterstützung bei Existenzgründungen. Das Zentrum steht Rückkehrenden ebenso offen wie Binnenvertriebenen und der lokalen Bevölkerung und fördert damit auch die Stärkung des irakischen Privatsektors. In den kommenden Jahren soll das Beratungszentrum schrittweise in die lokalen Strukturen überführt werden, um den langfristigen und nachhaltigen Betrieb zu sichern (Neues deutsch-irakisches Beratungszentrum in Bagdad eröffnet, BMZ 13.06.2019).

Bis Ende April 2020 wurden etwa 4,7 Millionen Personen im Irak gezählt, die nach Vertreibung an ihren gewöhnlichen Wohnsitz rückkehrten; diese verteilten sich auf 8 Gouvernements, 38 Distrikte und über 2.000 Orte. In den Monaten März und April 2020 wurden über 44.000 neue Rückkehrer registriert. Diese Anzahl ist niedriger als zuletzt, was auf die von den Behörden erlassenen Mobilitätbeschränkungen aufgrund des Coronavirus zurückzuführen ist. Die meisten Rückkehrer wurden in den Gouvernements Anbar, Ninewa und Salah al-Din gezählt. Die Gesamtzahl der gezählten Binnenvertriebenen belief sich im März und April 2020 auf etwa 1,4 Millionen Personen, aufgeteilt auf 18 Gouvernements, 104 Bezirke und knapp 3.000 Orte. Trotz des kontinuierlichen Rückgangs von Binnenvertriebenen (etwa -9.600 Personen im Vergleich zur Zählung in den Monaten Jänner und Februar 2020) wurden in den Monaten März und April 2020 knapp 2.700 neue Binnenvertriebene gezählt, welche überwiegend bereits zum zweiten Mal vertrieben wurden. 60% der in den Monaten März und April 2020 gezählten Binnenvertriebenen stammten aus dem Gouvernement Ninewa (die meisten aus Mossul, Sinjar und Al-Ba’aj), jeweils 11% stammten aus den Gouvernements Salah al-Din und Anbar (Displacement Tracking Matrix, Iraq Master List Report 115, March-April 2020).

Die meisten der Schutzmauern, die in den letzten zehn Jahren errichtet wurden, um öffentliche und private Gebäude zu sichern, wurden abgerissen. Stattdessen finden sich dort jetzt Parks und Grünflächen. Im Zuge der Veränderungen wurde in Bagdad auch das erste Frauencafé eröffnet. Dort können sich Frauen ohne Begleitung von Männern treffen und ihre Kopftücher und die lange Abaya ablegen, die auf den Straßen so verbreitet sind.

Im Café "La Femme" werden Wasserpfeifen angeboten und von einer Frau zubereitet. Es werden alkoholfreie Champagnercocktails, Softgetränke und Snacks serviert. Bisher haben sich noch keine Männer in dieses weibliche Heiligtum gewagt - obwohl sich das Café in einem Hochhaus zusammen mit anderen Restaurants, einer Sporthalle für Männer und nur einem Aufzug befindet. Der Kundenkreis von Adel-Abid umfasst vor allem Frauen aus der Mittel- und Oberschicht. Für ihre jungen Kundinnen organisiert sie reine Frauenfeste zu Geburtstagen, Verlobungen und Abschlussfeiern. Die ältere Generation trinkt lieber Kaffee und hört den alten irakischen Sängern zu, die auf der Musikanlage bevorzugt gespielt werden.

Frauen können jetzt Unternehmen führen. Da der "Islamische Staat" verdrängt und die gegenwärtige politische Stabilität zu spüren ist, fordern irakische Frauen immer mehr ihren Anteil am öffentlichen Raum der Stadt. In Mansour, dem Stadtviertel, in dem sich "La Femme" befindet, sind die meisten Cafés und Restaurants heute gemischt, und auch Frauen rauchen dort Wasserpfeife. Der frische Wind des Wandels hat auch das Straßenbild verändert.

Frauen kleiden sich wieder bunter, anstatt sich hinter schwarzen Schleiern zu verstecken. Die Entwicklung geht so weit, dass junge Frauen sich immer seltener ein Kopftuch umbinden. Ehen zwischen Sunniten und Schiiten erleben ein Comeback im Irak; unter den Jugendlichen in Bagdad sind sie sogar zum neuen Standard geworden. So wie bei Merry al-Khafaji, die kürzlich Mustafa al-Ani geheiratet hat. Gemeinsam sitzen die beiden Mittzwanziger bei einer Wasserpfeife in einem beliebten Bagdader Garten, sie trägt ihr dunkles Haar offen und ein grünes T-Shirt mit Jeans. Traditionell wählen Eltern die Partner ihrer Kinder, aber Merry al-Khafaji und Mustafa al-Ani lernten sich in dem Telekommunikationsunternehmen kennen, für das sie beide arbeiten. Mittlerweile entwickeln sich immer mehr Liebesbeziehungen bei der Arbeit, im Studium oder in Workshops. Auch soziale Medien haben eine starke Wirkung. Sie eröffnen jungen Menschen einen neuen Weg, neue Freunde in der konservativen irakischen Gesellschaft zu finden (Die neuen Freiheiten von Bagdad, qantara.de 01.07.2019).

Mitglieder rivalisierender irakischer Motorrad-Clubs, die in Leder mit Nieten und schwarzen Baskenmützen gekleidet waren, tanzten Breakdance und ließen mit ihren tätowierten Armen Neon-Leuchtstäbe kreisen. Der Tanzkreis des Mongols Motorcycle Club war einer von mehreren bei der ‚Riot Gear Summer Rush‘, einer Automobilshow samt Konzert in einem Sportstadion im Herzen von Bagdad. Die Szene hatte etwas ganz anderes als jene Bilder, die üblicherweise aus der Stadt der Gewalt und des Chaos ausgestrahlt wurden. Aber fast zwei Jahre, nachdem der Irak den islamischen Staat besiegte, hat die Hauptstadt ihr Image stillschweigend verändert. Seit die Explosionsschutzwände – ein Merkmal der Hauptstadt seit der US-geführten Invasion im Jahr 2003, bei der Saddam Hussein gestürzt wurde – gefallen sind, hat sich eine weniger restriktive Lebensweise etabliert. „Wir haben diese Party veranstaltet, damit die Leute sehen können, dass der Irak auch über diese Art von Kultur verfügt und dass diese Menschen das Leben und die Musik lieben“, sagte Arshad Haybat, ein 30-jähriger Filmregisseur, der die Riot Gear Events Company gründete. Riot Gear hat bereits zuvor ähnliche Partys im Irak veranstaltet, aber dies war die erste, die für die Öffentlichkeit zugänglich war. Der Tag begann damit, dass junge Männer importierte Musclecars und Motorräder vorführten. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde die Show zu einer lebhaften Veranstaltung für elektronische Tanzmusik (EDM). Das irakische Hip-Hop-Kollektiv „Tribe of Monsters“ spielte eine Mischung aus EDM- und Trap-Musik, während junge Männer Verdampfer in ihren Händen hielten und neben Blitzlichter und Rauchmaschinen tanzten, während sie ihre Bewegungen live auf Snapchat und Instagram übertrugen. Es war eine berauschende Mischung aus Bagdads aufkeimenden Subkulturen: Biker, Gamer und EDM-Enthusiasten. Was die meisten gemeinsam hatten, war, dass sie im Irak noch nie einer solchen Veranstaltung beigewohnt hatten. Obwohl von jungen Männern dominiert, nahmen auch viele Frauen an der Veranstaltung teil. Einige von ihnen tanzten in der Nähe der Hauptbühne. Die Veranstalter stellten jedoch sicher, dass eine „Familiensektion“ zur Verfügung stand, damit Frauen, Familien und Liebespaare auch abseits der wilden Menschenmenge tanzen konnten (Tanzpartys kehren nach Bagdad zurück, mena-watch, 22.08.2019).

Wie andere Plätze im überwiegend schiitischen Süden des Irak, ist der Tahrir zu einem sozialen Experiment geworden, zu einem Freiraum, in dem konservative Normen gestürzt wurden. Die Jugend singt gegen eine einst unantastbare Gruppe von Politikern und paramilitärischen Befehlshabern an, und Frauen verbringen die Nächte in Zelten neben erwachsenen Männern. Studenten widersetzen sich dem Befehl, in die Hörsäle zurückzukehren, und in Vierteln, die einst als gefährlich galten, wimmelt es nur so von Menschen, die auf dem Weg zu den Demonstrationen sind. (…) Hiyyam Shayea, eine 50-jährige Lehrerin in der von Protesten heimgesuchten Provinz Diwaniyah, kann dies bezeugen. „Es gab einige große, überraschende Veränderungen in vielen sozialen Bereichen“, sagte Shayea, die bei einer Kundgebung in ihrer Heimatstadt eine traditionelle schwarze Robe trug. Das ist im Süden, wo Stammesbräuche über dem staatlichen Gesetz stehen und die öffentliche Rolle der Frauen einschränken, lange unvorstellbar gewesen. Aber die Veränderungen fordern einen hohen Preis.

Rund 550 Menschen wurden bei Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten getötet und 30.000 verwundet. „Das war alles für ein Heimatland – eines, das zivilisiert und bürgerlich ist, nicht rückständig und veraltet“, sagte Shayea. (…)

Nur wenige der derzeitigen Demonstranten sind alt genug, um sich an Saddam zu erinnern – 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – und machen die Älteren dafür verantwortlich, ihnen den Irak mit einem zerbrochenen politischen System hinterlassen zu haben. Die Kundgebungen offenbarten „eine riesige Kluft“ zwischen den beiden Generationen, sagte der irakische Forscher Khaled Hamza gegenüber der AFP. „Wir befinden uns mitten in einer spontanen Bewegung von Jugendlichen, von denen nicht erwartet wurde, dass sie dafür verantwortlich fühlen, das zu erreichen, was unsere Generation nicht erreichen konnte“, sagte Hamza, der in seinen 60ern ist. Die Demonstranten sehen das ähnlich. In Bagdad trug eine Frau mit einem rosa Kopftuch ein Schild mit der Aufschrift: „Letzten Endes habe ich eine Revolution gemacht. Was haben Sie getan?“ (mena-watch: Was die Protestbewegung im Irak bis jetzt erreicht hat, 20.02.2020)

Der IS wurde aus der irakischen Stadt vertrieben, aber viele Viertel liegen noch in Trümmern. Künstler wollen sich ihre Stadt nun zurückholen. Saleh Elias sitzt im Qantara, dem Büchercafé, das er vor ein paar Monaten eröffnet hat. Es liegt mitten an jener belebten Straße im zweiten Stock eines unauffälligen Gebäudes. Vom Fenster des Qantaras aus sieht man die Ruinen der Universität auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Frieden in Mossul ist noch jung und die Spuren des Krieges sind allgegenwärtig – vor allem auf der anderen Seite des Tigris. Hier am Ufer des Flusses liegt die Altstadt von Mossul, die frühere Seele der Stadt. Manche Viertel der Altstadt liegen komplett in Trümmern, darunter verwesen selbst ein Jahr nach der Befreiung noch Hunderte Leichen von IS-Kämpfern – manche mit scharfen Sprenggürteln um den Bauch. Der Wiederaufbau kommt kaum voran. Von den ursprünglich rund 200.000 Bewohnern der Altstadt kehrten erst 600 Familien zurück.

Im Universitätsviertel jedoch auf der östlichen Flussseite hat sich längst der Alltag die Straßen zurückgeholt. Und hier sind es nicht nur Shisha-Bars und Restaurants, die wieder eröffnet haben. Seit der Befreiung der Stadt im Sommer 2017 erlebte Mossul das Aufblühen einer Kulturszene, wie es in den letzten Jahrzehnten kaum möglich war. Aktivisten organisieren Festivals, Musiker Freilichtkonzerte, es gibt Lesungen und viele, vor allem junge Bewohner engagieren sich freiwillig: Sie räumen die Straßen frei vom Schutt, verteilen Lebensmittel an arme Familien oder bergen die verbliebenen Bücher aus der Zentralbibliothek der Universität (Alltag im Osten – Mossul nach der IS Herrschaft, taz.de, 02.11.2018).

Mossul und hier insbesondere die Altstadt ist stark zerstört und mit Blindgängern und Sprengfallen kontaminiert ist. Auch kommt es in der Provinz Ninawa immer wieder zu sicherheitsrelevanten Vorfällen mit Toten und Verletzten, wobei die Tendenz seit Anfang 2017 fallend ist. Die Sicherheitslage im Irak hat sich in den letzten Monaten generell als verhältnismäßig ruhig und stabil erwiesen. Der Prozess der Rückkehr von Binnenvertriebenen –während des Krieges sind etwa 800.000 Menschen aus der Stadt geflohen -hat in geringem Umfang begonnen, wird aber u.a. durch die enormen Schäden an Wohngebäuden und Infrastruktur massiv erschwert. Humanitäre Partner stellen Notfallnahrung, Wasser und lebenswichtige Güter zur Verfügung. Der Wiederaufbau der Stadt gestaltet sich als langwierig und schwierig. Die Versorgung mit fließendem Wasser (insbesondere in der Altstadt) und Strom weist trotz wesentlicher Verbesserungen in den vergangenen Monaten nach wie vor Lücken auf. Ein großes Problem stellt die Müllentsorgung dar. Humanitäre Partner stellen Notfallnahrung, Wasser und lebenswichtige Güter zur Verfügung. Mossul und Umgebung sind noch in größerem Umfang mit Blindgängern und Landminen aus dem Krieg kontaminiert; immer wieder kommt es zu Opfern infolge explodierender Kampfmittel. Dennoch merkt man, laut New York Times, dass die Stadt langsam wieder zur Normalität zurückkehrt. Bars und Geschäfte sind ebenso geöffnet wie die Universität. Der Zugang zu den essentiellen Waren des täglichen Lebens ist –wenn auch mit Engpässen und oft hochgradigen lokalen Unterschieden –laut einer von der NGO REACH bereits im Sommer 2017 durchgeführten Untersuchung im Wesentlichen gegeben. Die geprüften Waren waren durchaus weit verbreitet und verfügbar und auch auf den einzelnen Marktplätzen wurden nur begrenzte Engpässe festgestellt. Dennoch wirkte sich die anhaltende Krise -oft mit hochgradigen lokalen Unterschieden -auf das Angebot und den Marktzugang aus (ecoi.net: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation für den Irak vom 28.09.2018: Sicherheitslage, Wohnverhältnisse, Versorgung – Mossul).

Sicherheitslage in Mossul:

In Mossul gibt es noch IS-Schläferzellen. Vor allem der westliche Teil der Stadt ist komplett zerstört. Zur Provinz Ninewa wird festgehalten, dass das südliche Gebiet der Provinz eines von drei Hauptunterstützungsgebieten für den IS darstelle. In der Provinz hätten im Jahr 2018 durchschnittlich 20 Vorfälle pro Monat stattgefunden. Im gleichen Jahr wurden im Distrikt Mossul 186 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 567 Todesopfern dokumentiert. Im Dezember 2018 wurden in Mossul acht und im Jänner 2019 drei IS-Kämpfer festgenommen. Im März 2019 wurden sechs PMF-Kämpfer bei einem Hinterhalt unbekannter Angreifer auf dem Weg von Mossul nach XXXX getötet. Regierungssoldaten und lokale Milizen, die die Stadt kontrollieren, begehen Menschenrechtsverletzungen, darunter illegale Geschäfte, unrechtmäßige Inhaftierungen und Erpressung. Ein Großteil der älteren, westlichen Seite der Stadt liegt noch inTrümmern. Selbst in weniger zerstörten Stadtteilen haben die Bewohner Mossuls Schwierigkeiten, ihr Leben weiterzuführen. Nach Ansicht von Kritikern könnte ein Scheitern der Zentralregierung bei der Bewältigung der zunehmenden Unruhen in Mossul schwerwiegende Folgen haben. Während der dreijährigen Besetzung der Stadt verminte der Islamische Staat große Teile Mossuls und versah sie mit Sprengfallen. Durch militärische Operationen wurde die Stadt mit Minen und explosiver Kriegsmunition, wie Streumunition, Blindgängern von Artilleriegeschossen und Handgranaten, kontaminiert. Im Westen der Stadt, wo die Kämpfe besonders heftig waren, gibt es massive Schuttfelder, die mit Sprengstoff übersät sind, und die einen hohen technischen Aufwand zur Beseitigung und Räumung erfordern. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, um Mossul von allen Sprengsätzen zu befreien. Es wird von mehreren Sicherheitsvorfälle in der Stadt berichtet (s. Einzelquellen), und vor den Parlamentswahlen im Mai 2018 verschlechterte sich die Situation. Es wurden allerdings verschiedene Militärbehörden in der Stadt stationiert, was die Sicherheitslage deutlich verbessert hat. Die Gewalt geht von den verschiedenen bewaffneten Gruppen aus [die in der Stadt stationiert sind, Anm.], sowie von IS-Zellen. Eine Quelle habe betont, dass die Sicherheitsvorfälle willkürlich und meist auf organisierte kriminelle Aktivitäten zurückzuführen seien. Die kriminellen Gruppen bestehen aus ehemaligen Mitgliedern bewaffneter Gruppen. Manchmal schien es, dass Mitglieder der Volksmobilisierungseinheiten bei Tag für Sicherheit sorgten, und bei Nacht als Kriminelle agierten. Laut mehreren Berichten sind die IS-Schläferzellen wieder aktiver als zuvor und stellen eine potentielle Bedrohung für die irakischen Sicherheitskräfte dar. Der Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft in der Stadt Mossul ist unter den irakischen Parteiennach wie vor im Gange (ecoi.net: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation für den Irak vom 29.08.2019: Sicherheitslage, Wohnverhältnisse, Grund- und medizinische Versorgung in Mossul).

Wohnverhältnisse, (Grund)Versorgung und medizinische Versorgung in Mossul:

Der Wohnungsmangel in Mossuls Vorkriegszeit wurde noch verschärft, indem Häuser teilweise oder vollständig durch Plünderungen, Brände oder Granaten zerstört wurden. Die Bewohner der Stadt haben nicht nur unter den Folgen von Konflikten und Vertreibung zu leiden, sondern auch mit einem Mangel an Arbeitsplätzen und wenig Unterstützung für den Wiederaufbau zerstörter Wohnungen und Dienstleistungen zu kämpfen, trotz einer gut finanzierten internationalen humanitären Hilfe. Diese Probleme haben dazu beigetragen, dass die Zahl der ehemaligen Bewohner, die nach Mossul zurückkehren, geringer geworden ist. Zahlreiche Bezirke im Westen Mossuls seien nach wie vor unbewohnbar, da dort im Kampf gegen den IS 40.000 Häuser zerstört worden seien. Es gibt mehr als 63.000 Familien, die immer noch Vertriebene innerhalb und außerhalb der Stadt sind. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United NationsDevelopment Programme, UNDP) plant heuer insgesamt 10.000 Häuser im Westen Mossuls zu sanieren. Das Programm sei jedoch nur für Häuser vorgesehen, die weniger als zu 60% beschädigt seien.

Bislang seien keine in Mossul lebenden Familien für den Verlust ihrer Häuser entschädigt worden. Die Bewohner Mossuls hätten über die Wasser-und Stromversorgung und die schwache lokale Regierung geklagt. Sie hätten auch gesagt, dass sie sich vor IS-Schläferzellen fürchten würden, aber am wütendsten über den Mangel an Wohnungen seien. Dieser habe die Mietpreise in die Höhe getrieben, wodurch die Wohnungen für diejenigen, die gerade versuchen würden, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, unerschwinglich seien. Die Rückkehrer-Familien im Viertel Jabisat in West-Mossul hätten berichtet, dass sie nur eingeschränkte humanitäre Unterstützung erhalten hätten. Berichten zufolge würde eine Reihe vulnerabler Familien Unterstützung von anderen Familien in ihrer Gastgemeinde oder über die örtlichen Moscheen erhalten. Aufgrund der Zerstörung der Bildungseinrichtungen, Häuser und massiven Fluchtbewegungen gibt es für die irakische Regierung in Bezug auf das Bildungswesen große Herausforderungen. Es besteht im gesamten Land ein großer Mangel an Schulen und mindestens 3.000 neue Schulen müssten errichtet werden, um dem dringenden Bedarf gerecht zu werden.

In der Altstadt beginnen sich trotz der Zerstörung Zeichen des Lebens zu zeigen: Wagen mit Granatäpfeln und Wassermelonen, Friseurläden, Cafeterien, die gebratene Hühner anbieten, und kleine Geschäfte, die Werkzeuge und Öl verkaufen würden. Die Binnenflüchtlinge kehren nach Mossul zurück. Der westliche Teil der Stadt ist jedoch komplett zerstört, und es gibt keine Rückkehrer in dieses Gebiet. Wegen der Zerstörung gibt es Wohnraummangel. Einige öffentliche Dienste haben ihre Arbeit wieder aufgenommen, darunter auch einige Schulen. Auch wenn es dem Wiederaufbauprozess an Unterstützung und Finanzierung mangelt, hat sich der östliche Teil der Stadt revitalisiert. Dies hat dazu geführt, dass sich auch eine Reihe von Binnenflüchtlingen, die ursprünglich nicht von dort stammten, auf der Suche nach einer Lebensgrundlage in Mossul niedergelassen haben. Die Bewohner von Mossul kämpfen fast 18 Monate nach der Befreiung der Stadt immer noch damit, ihre Häuser und ihr Leben wiederaufzubauen. Es hindert sie mangelnde finanzielle Unterstützung durch die irakische Regierung und die anhaltende Bedrohung durch eine kleine, aber starke Präsenz des IS. Der langsame Wiederaufbau der Stadt wurde durch eine Reihe von jüngsten tödlichen Angriffen noch erschwert. Das Gouvernement Ninewa hat mit mehr als 1,4 Millionen die größte Anzahl an Rückkehrern; die meisten im Bezirk Mossul. Es ist jedoch ungewiss, ob sie dauerhafte Lösungen erreichen können. Hunderte Familien sind zurück gekehrt, nur um die Gebiete wieder zu verlassen. In ganz Ninewa leben Familien in unfertigen Häusern, informellen Siedlungen, religiösen Gebäuden und Schulen. Bestehende Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Haupthindernisse für dauerhafte Lösungen der Mangel an Wohnungen und Dienstleistungen, begrenzte Möglichkeiten den Lebensunterhalt zu verdienen und anhaltende Unsicherheit sind. Erpressung, Drohungen und Angriffe auf Rückkehrer wurden ebenfalls gemeldet. Nach dem Krieg gegen den IS und der anschließenden Befreiung der Gebiete unter seiner Kontrolle kehren die ersten Binnenflüchtlinge wieder zu ihren Heimatsorten zurück. Dies führt zu einer leichten Senkung der Mietpreise. Generell ist es vor allem für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten. Mit Hinblick auf (Einzel-) Wohnungen, sind die Abläufe unkomplizierter. Öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche besteht für Rückkehrende nicht. Der Wiederaufbau der Stadt hat begonnen, es gibt jedoch einige Hindernisse. Probleme sind unter anderem Armut, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, mangelnde Gesundheitsversorgung, zerstörte Gebäude und allgemeine Unsicherheit.

Die Gesundheitsversorgung in Mossul liegt noch in Trümmern und hat mit Schwierigkeiten in der Bewältigung der Herausforderungen die an sie gestellt werden zu kämpfen, während tausende Menschen in die Stadt zurückkehren. Während des Konflikts wurden neun von 13 öffentlichen Krankenhäusern in Mossul beschädigt, was die Kapazitäten des Gesundheitswesens und die Zahl der Krankenhausbetten um 70% senkte. Der Wiederaufbau der Gesundheitseinrichtungen verläuft äußerst schleppend, und es gibt immer noch weniger als 1.000 Krankenhausbetten für eine Bevölkerung von 1,8 Millionen Menschen. Dies ist die Hälfte des international anerkannten Mindeststandards für die Erbringung von Gesundheitsleistungen im humanitären Kontext. Die gefährlichen Lebensbedingungen in Mossul -schlechte Hygiene aufgrund von Wasser-und Strommangel, beschädigte Gebäude und das Vorhandensein von improvisierten Sprengsätzen und Sprengfallen -stellen ebenfalls ein Risiko für die Gesundheit der Menschen dar und erhöhen den Bedarf an Gesundheitseinrichtungen. Das medizini

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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