Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des H G, vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Mai 2020, W105 2181698-1/28E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 18. Juli 2015 - nach seiner illegalen Einreise in Österreich - einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 22. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 28. März 2019 hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Im Übrigen gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde statt; es stellte fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und erteilte dem Revisionswerber einen Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ (Spruchpunkt A.II.). Mit Spruchpunkt B. sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte - in Bezug auf den hier interessierenden Spruchpunkt A.II. - fest, der Revisionswerber sei in Afghanistan geboren und habe die überwiegende Zeit seines Lebens mit seiner Familie im Iran verbracht. Er verfüge über eine siebenjährige Schulbildung und habe im Iran als Lagerarbeiter und im Baugewerbe gearbeitet. Seit September 2019 absolviere er in Österreich eine Lehre als Maler und Beschichtungstechniker - Schwerpunkt Korrosionsschutz, die in der Mangelberufsliste 2019 des Sozialministeriums als Mangelberuf ausgewiesen sei. Der Revisionswerber habe das erste Lehrjahr des auf drei Jahre angelegten Lehrverhältnisses erfolgreich abgeschlossen. Er verfüge über eine Beschäftigungsbewilligung und über Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2. Der Revisionswerber sei arbeitsfähig, strafrechtlich unbescholten und habe an einer Reihe näher genannter Kurse teilgenommen. Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG kam das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einem geordneten Vollzug des Asyl- und Fremdenwesens im Vergleich zu den privaten Interessen des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet im Hinblick auf dessen Grad der Integration zurücktreten würden.
5 Auf Grund der gegen dieses Erkenntnis vom BFA erhobenen Amtsrevision hob der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Spruchpunkt A.II. mit Erkenntnis VwGH 10.4.2020, Ra 2019/19/0430, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit auf. Der Verwaltungsgerichtshof bezog sich in seiner Begründung auf die Entscheidung VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, wonach einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukomme. Liege - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, werde nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes „regelmäßig erwartet“, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich sei, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen. Im gegenständlichen Fall sei eine derart außergewöhnliche Konstellation - entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts - nicht gegeben. Die Interessenabwägung des Bundesverwaltungsgerichts erweise sich somit insgesamt als unvertretbar.
6 Im hierauf fortgesetzten Verfahren erließ das Bundesverwaltungsgericht das nunmehr angefochtene Erkenntnis vom 28. Mai 2020, mit dem die Beschwerde gegen die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides des BFA vom 22. November 2017 als unbegründet abgewiesen wurde.
7 Das Bundesverwaltungsgericht stellte (unter anderem) fest, dass im Fall der Rückkehr des Revisionswerbers „in eine der großen Provinzhauptstädte, wie etwa konkret Herat oder Mazar-e Sharif“ keine Indizien dafür erkannt werden könnten, dass er dort „individuell-konkrete Verfolgung“ zu erwarten hätte. Im Rahmen der Begründung der Rückkehrentscheidung legte das Bundesverwaltungsgericht dar, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers im Bundesgebiet sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiege und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliege. „Auch sonst“ seien keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre. Zur Feststellung nach § 52 Abs. 9 FPG führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das Vorliegen eines Sachverhaltes im Sinne des § 50 Abs. 1 oder Abs. 2 FPG jeweils „mit der vorliegenden Entscheidung“ verneint worden sei. Die Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat sei daher gegeben.
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende - nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (VfGH 22.9.2020, E 2382/2020-8) und ihrer Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 13.11.2020, E 2382/2020-10) - fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
9 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das Bundesverwaltungsgericht - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen der dafür vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
10 In Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 fehlt es gänzlich an einem entsprechenden Vorbringen in der vorliegenden Revision. Insoweit war sie daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
11 Im Übrigen - die Rückkehrentscheidung und die damit im Zusammenhang stehenden Aussprüche betreffend - zeigt die Revision in ihren Zulässigkeitsausführungen zutreffend auf, dass sich das Bundesverwaltungsgericht in seinen Erwägungen nicht ausreichend damit auseinandergesetzt hat, welche Situation der Revisionswerber bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere unter Berücksichtigung der aktuellen „COVID-19-Lage“, vorfinden würde. Sie ist daher zulässig und berechtigt.
12 Das Bundesverwaltungsgericht ging von einer Rückkehrmöglichkeit des im Iran aufgewachsenen Revisionswerbers nach Herat oder Mazar-e Sharif aus. Dieser Einschätzung scheint es - mangels eigener Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis - die in seinem Vorerkenntnis vom 28. März 2019 herangezogenen Länderberichte zugrunde gelegt zu haben. Offenbar unter Verwendung eines unpassenden Textbausteins führte das Bundesverwaltungsgericht dann auch aus, dass u.a. das Vorliegen eines Sachverhaltes im Sinne des § 50 Abs. 1 FPG (also insbesondere eine drohende Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK) „mit der vorliegenden Entscheidung“ verneint worden sei. Tatsächlich wurde das Vorliegen eines Sachverhaltes im Sinne des § 50 Abs. 1 FPG aber nicht im nunmehr angefochtenen Erkenntnis, sondern im Erkenntnis vom 28. März 2019, mit dem der Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen worden war, verneint. Seither hatte sich allerdings - bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses vom 28. Mai 2020 - die Lage in Afghanistan auf Grund der COVID-19-Pandemie geändert.
13 Darauf wäre zunächst bei der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 52 Abs. 9 FPG Bedacht zu nehmen gewesen. Im Hinblick auf den geänderten Sachverhalt konnte nicht automatisch von der sonst bei dieser Feststellung gegebenen Bindung an die vorangegangenen Entscheidungen nach §§ 3 und 8 AsylG 2005 ausgegangen werden (vgl. idS VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0232, Rn. 24, mwN). Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich somit auf Basis aktueller Länderfeststellungen damit auseinandersetzen müssen, welche Auswirkungen die COVID-19-Pandemie auf die Lage in den für eine Rückkehr ins Auge gefassten afghanischen Städten und auf die konkrete Rückkehrsituation des Revisionswerbers (Erreichbarkeit, Versorgungslage, Unterkunft, Arbeitsmarkt) hatte (vgl. dazu etwa auch VwGH 6.4.2021, Ra 2020/18/0506, Rn. 10/11, mwN; VwGH 7.5.2021, Ra 2020/18/0515, Rn. 11 bis 13, mwN).
14 Sollten die geänderten Umstände aber nicht zur Unzulässigkeit der Abschiebung im Grunde des § 50 Abs. 1 FPG führen, so wären sie jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu berücksichtigen (vgl. nochmals VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0232, nunmehr Rn. 25, mwN).
15 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Zugrundelegung aktuellen Berichtsmaterials und nach Auseinandersetzung mit der sich daraus ergebenden Lage zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, war das angefochtene Erkenntnis im Umfang der Rückkehrentscheidung und der damit zusammenhängenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 21. Dezember 2021
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde "zu einem anderen Bescheid"European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210487.L01Im RIS seit
27.01.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022