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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 5. Oktober 2020, VGW-151/032/9246/2020-4, betreffend einen Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: G D, vertreten durch Mag. Dr. Ralf Heinrich Höfler, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Nachdem der Mitbeteiligte, ein serbischer Staatsangehöriger, am 17. August 2018 beim Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) einen Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gestellt hatte, erhob er am 9. Juni 2020 Säumnisbeschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 5. Oktober 2020 stellte das Verwaltungsgericht Wien gemäß § 54a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) fest, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte vorlägen. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach § 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für zulässig.
3 Seiner Entscheidung legte das Verwaltungsgericht auf das Wesentlichste zusammengefasst folgenden Sachverhalt zugrunde: Der Mitbeteiligte habe am 25. Jänner 2013 eine rumänische Staatsangehörige geheiratet. Mit 17. März 2016 sei die Ehe einvernehmlich rechtskräftig geschieden worden. Der Mitbeteiligte sei seit 2012 mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet und seit 15. Dezember 2014 durchgehend beim selben Dienstgeber beschäftigt. Ihm sei als Angehöriger einer EWR-Bürgerin eine Aufenthaltskarte mit Gültigkeit vom 13. September 2013 bis 13. September 2018 ausgestellt worden.
4 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Verwaltungsgericht zunächst fest, dass die Säumnisbeschwerde berechtigt und die Zuständigkeit auf das Verwaltungsgericht übergegangen sei.
5 Dem Mitbeteiligten - so das Verwaltungsgericht weiter - fehle es zwar seit der Scheidung von seiner Ehefrau im Jahr 2016 an der erforderlichen Angehörigeneigenschaft, allerdings sei § 54a Abs. 1 NAG unionsrechtskonform zu interpretieren. Nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, führe eine Scheidung vom zusammenführenden Ehegatten nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn - wie im Fall des Mitbeteiligten - die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden habe, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat. Auch die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG seien erfüllt, weil der Mitbeteiligte seit der Scheidung durchgehend als Arbeitnehmer in Österreich beschäftigt gewesen sei. § 54a Abs. 1 erster Satz NAG sei folglich dahingehend zu lesen, dass der Begriff „Angehörige“ auch geschiedene Ehegatten umfasse, welche die Voraussetzungen des § 54 Abs. 5 NAG (bzw. des Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG) erfüllen.
6 Das Verwaltungsgericht erachtete es allerdings als unklar, ob es berechtigt bzw. verpflichtet sei, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Mitbeteiligten während der Gültigkeitsdauer der ihm ausgestellten Aufenthaltskarte einer Überprüfung zu unterziehen. Zwar habe es der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis VwGH 4.10.2018, Ra 2017/22/0218, als nicht zu beanstanden erachtet, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthaltes (ungeachtet des Vorliegens einer Anmeldebescheinigung) selbständig überprüft habe. Aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes VwGH 16.5.2019, Ro 2019/21/0004, sei aber abzuleiten, dass so lange von der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes auszugehen sei, bis die rechtliche Existenz der Aufenthaltskarte - etwa durch Ausübung des Aufsichtsrechts gemäß § 3 Abs. 5 NAG oder durch Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 AVG - vernichtet werde. Fallbezogen bedeute dies, dass sich der Mitbeteiligte auf Grund der ihm ausgestellten Aufenthaltskarte jedenfalls fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und allfällige das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht in Zweifel ziehende Anhaltspunkte wie der hier vorliegende Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe nicht zu prüfen seien. Im Ergebnis erfülle der Mitbeteiligte daher die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 54a NAG.
7 Die Revision sei zulässig, weil die (in Rn. 6 angeführte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob dem Verwaltungsgericht eine Prüfbefugnis betreffend die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes im Zusammenhang mit der Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zukomme, uneinheitlich sei. In seinem Erkenntnis Ra 2017/22/0218 habe der Verwaltungsgerichtshof eine Prüfbefugnis bejaht, in seinem Beschluss Ro 2019/21/0004 eine solche hingegen verneint.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des Bundesministers für Inneres. Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht sei vom hg. Erkenntnis Ra 2017/22/0218 abgewichen, weil es - trotz des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe - nicht eigenständig beurteilt habe, ob der Aufenthalt des Mitbeteiligten durchgehend fünf Jahre rechtmäßig gewesen sei. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sei die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht uneinheitlich, weil dem hg. Beschluss Ro 2019/21/0004 die Lösung einer davon zu unterscheidenden Rechtsfrage zugrunde gelegen sei.
9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Abweisung der Revision beantragt.
10 Die belangte Behörde schloss sich den Ausführungen des Revisionswerbers an und nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Die Revision erweist sich im Hinblick auf das diesbezügliche Vorbringen des Revisionswerbers als zulässig.
12 Die maßgeblichen Bestimmungen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2011 (§ 54a) bzw. BGBl. I Nr. 145/2017 (§§ 54 und 55), lauten auszugsweise:
„Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers
§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. [...]
[...]
(5) Das Aufenthaltsrecht der Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie die für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 erfüllen und
1. die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet;
[...]
(7) Liegt eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30), eine Zwangsehe oder Zwangspartnerschaft (§ 30a) oder eine Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger vor, ist ein Antrag gemäß Abs. 1 zurückzuweisen und die Zurückweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt.
Daueraufenthaltskarten
§ 54a. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, erwerben das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie sich fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. § 53a Abs. 2 ist bei der Berechnung der Fünfjahresfrist zu berücksichtigen.
[...]
(3) Zum Daueraufenthalt berechtigten Angehörigen gemäß Abs. 1 und 2 ist auf Antrag bei Vorliegen der Voraussetzungen der Abs. 1 und 2 eine Daueraufenthaltskarte für die Dauer von zehn Jahren auszustellen. Dieser Antrag ist vor Ablauf der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltskarte zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.
Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate
§ 55. (1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs. 3 und 54 Abs. 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.
(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs. 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.
[...]
(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ quotenfrei zu erteilen.
[...]“
13 Die einschlägigen Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG lauten auszugsweise:
„Artikel 13
Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft
[...]
(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn
a) die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, oder
[...]
Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. [...]
[...]
RECHT AUF DAUERAUFENTHALT
[...]
Artikel 16
Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen
(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.
(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
[...]
Artikel 18
Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen
Unbeschadet des Artikels 17 erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 13 Absatz 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.
[...]
Artikel 35
Rechtsmissbrauch
Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug - wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen - zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“
14 Zu der seitens des Verwaltungsgerichtes bejahten Einstufung des Mitbeteiligten als Angehöriger im Sinn des § 54a Abs. 1 NAG ist Folgendes festzuhalten:
15 § 54a Abs. 1 NAG räumt das Recht auf Daueraufenthalt - bei Erfüllung der dort vorgesehenen zeitlichen Voraussetzung - Drittstaatsangehörigen ein, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind, wobei Ehegatten zu den Angehörigen zählen (§ 52 Abs. 1 Z 1 NAG). Hinsichtlich des Rechts auf Aufenthalt für mehr als drei Monate ist in § 54 Abs. 5 Z 1 NAG vorgesehen, dass das Aufenthaltsrecht des Ehegatten bei Scheidung der Ehe unter den dort genannten Bedingungen (Nachweis der Erfüllung der für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG sowie Bestehen der Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Aufhebungsverfahrens für mindestens drei Jahre, davon ein Jahr im Bundesgebiet) erhalten bleibt. Durch diese Regelung wird Art. 13 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt (siehe RV 330 BlgNR 24. GP 52). Nach Art. 18 dieser Richtlinie erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die (ua.) Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung findet und welche die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben. Auch wenn die Regelung des Art. 18 der Richtlinie 2004/38/EG in der Regelung des Daueraufenthaltsrechts für Angehörige in § 54a NAG keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden hat, sind die Regelungen unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass einem Drittstaatsangehörigen trotz Scheidung vom EWR-Bürger bei Erfüllung der in § 54 Abs. 5 Z 1 NAG vorgesehenen Bedingungen auch ein Recht auf Daueraufenthalt zukommen kann (vgl. auch VwGH 28.10.2015, Ro 2014/10/0083).
16 Im Hinblick auf die - in der Revision nicht bestrittene - Erfüllung dieser Voraussetzungen ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass dem Mitbeteiligten ungeachtet der im Jahr 2016 erfolgten Scheidung von seiner über die rumänische Staatsangehörigkeit verfügenden Ehefrau grundsätzlich die Möglichkeit zukommt, das Recht auf Daueraufenthalt nach § 54a Abs. 1 NAG zu erwerben.
17 Zusätzlich zur Angehörigeneigenschaft verlangt § 54a Abs. 1 NAG für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, dass sich der Drittstaatsangehörige fünf Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Das Vorliegen eines fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthaltes ist hier unstrittig.
18 Bezüglich der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es diese nicht zu prüfen habe, weil der Mitbeteiligte über eine gültige Aufenthaltskarte (gemäß § 54 NAG) verfügt habe. Allerdings hat das Verwaltungsgericht die ordentliche Revision zugelassen, weil es die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Frage (ob somit bei Vorliegen einer Aufenthaltskarte ohne weitere Prüfung von der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes auszugehen ist) als uneinheitlich erachtete. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:
19 Mit § 54a Abs. 1 NAG wird nach den Erläuterungen (insbesondere) Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt (siehe RV 330 BlgNR 24. GP 52). Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis VwGH 7.7.2021, Ra 2020/22/0252, mit der Frage eines rechtmäßigen Aufenthaltes im Sinn des § 54a Abs. 1 NAG bzw. des Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG auseinandergesetzt und dabei Folgendes festgehalten:
„11 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Zusammenhang mit dem Daueraufenthaltsrecht von Unionsbürgern bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaates stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Unionsrechts erfüllt, nicht als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinn des Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG angesehen werden kann; hat sich ein Unionsbürger allein auf der Grundlage des nationalen Rechts mehr als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG das Recht auf Daueraufenthalt erworben hat (vgl. etwa EuGH 2.5.2018, C-331/16 und C-366/16, K. ua., Rn. 74, mwN). Ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllt, kann daher nicht als „rechtmäßiger“ Aufenthalt im Sinn von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden (siehe etwa EuGH 21.12.2011, C-424/10 und C-425/10, Ziolkowski ua., Rn. 47; vgl. zur innerstaatlichen Umsetzungsregelung des § 53a Abs. 1 NAG VwGH 4.10.2018, Ra 2017/22/0218, Rn. 16 f, mwN).
12 Auch im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und somit für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt durch Familienangehörige eines Unionsbürgers hat der EuGH festgehalten, dass nur Aufenthaltszeiten, die die in der Richtlinie 2004/38/EG genannten Voraussetzungen erfüllen, berücksichtigt werden können (siehe EuGH 10.7.2014, C-244/13, Ogieriakhi, Rn. 31, mwN). Ausgehend davon kann aber auch als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinn des (den Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 umsetzenden) § 54a Abs. 1 NAG nur ein den Vorgaben der Richtlinie 2004/38 entsprechender Aufenthalt angesehen werden. [...]“
20 Für die Frage des rechtmäßigen Aufenthaltes im Sinn des § 54a Abs. 1 NAG kommt es daher nicht auf die Rechtmäßigkeit nach der innerstaatlichen Rechtslage an, sondern auf die Rechtmäßigkeit am Maßstab der Richtlinie 2004/38/EG (somit nach den §§ 51 ff NAG).
21 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem - vom Verwaltungsgericht für die von ihm angenommene Uneinheitlichkeit der hg. Rechtsprechung begründend herangezogenen - Beschluss Ro 2019/21/0004 ausgesprochen, dass eine Aufenthaltskarte nach § 54 Abs. 1 NAG (auch wenn damit lediglich ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht dokumentiert wird) - unabhängig vom Bestand eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts - einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn des § 31 Abs. 1 Z 2 FPG vermittelt, was dann bei Fehlen eines Bescheides nach § 3 Abs. 5 NAG (einer Nichtigerklärung der Ausstellung der Aufenthaltskarte) ohne Vorliegen einer wesentlichen Sachverhaltsänderung einer Vorgangsweise nach § 66 Abs. 1 FPG in Verbindung mit § 55 Abs. 3 NAG entgegensteht (Rn. 12). Ohne wesentliche Sachverhaltsänderung - so der Verwaltungsgerichtshof weiter - können die Wirkungen einer von der Niederlassungsbehörde ausgestellten Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (rechtmäßiger Aufenthalt nach § 31 Abs. 1 Z 2 FPG) nicht im Wege einer Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG in Verbindung mit § 55 Abs. 3 NAG, sondern nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des § 3 Abs. 5 NAG vom Bundesminister für Inneres beseitigt werden.
22 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits darauf hingewiesen, dass ein Aufenthalt ungeachtet des Wegfalls des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts dennoch nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig sein kann. In jenem Umfang, in dem ein Drittstaatsangehöriger zwar über eine Aufenthaltskarte, aber kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht verfüge, basiere sein rechtmäßiger Aufenthalt auf dem NAG (vgl. VwGH 9.9.2020, Ro 2020/22/0010, Rn. 11).
23 Aus den Ausführungen im hg. Beschluss Ro 2019/21/0004 lässt sich somit für den vorliegenden Fall nichts ableiten, weil es - wie oben dargelegt - für die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 54a Abs. 1 NAG nicht entscheidungserheblich ist, ob der Aufenthalt rechtmäßig im Sinn des § 31 Abs. 1 Z 2 FPG war, sondern ob er als im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG stehend anzusehen war (vgl. erneut VwGH Ra 2020/22/0252, Rn. 11). Dass der Prüfung des Bestehens eines fünfjährigen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts durch (hier) das Verwaltungsgericht im Rahmen der Beurteilung eines Antrags auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte nach § 54a Abs. 1 NAG eine aufrechte Aufenthaltskarte entgegenstünde (und insoweit zuerst eine Beseitigung dieser Dokumentation erfolgen müsste), lässt sich dem zitierten hg. Beschluss Ro 2019/21/0004 nicht entnehmen. Somit liegt schon aus diesem Grund die vom Verwaltungsgericht angenommene uneinheitliche hg. Rechtsprechung hinsichtlich der hier zu klärenden Frage nicht vor.
24 Allerdings enthält auch die zweite vom Verwaltungsgericht insoweit ins Treffen geführte hg. Entscheidung VwGH 4.10.2018, Ra 2017/22/0218, keine unmittelbar zur hier vorliegenden Konstellation getroffene Aussage. Diesem Erkenntnis lag - auf das Wesentlichste zusammengefasst - ein Fall zugrunde, in dem zwar das Bestehen eines durchgehenden rechtmäßigen Aufenthaltes in der erforderlichen Dauer von fünf Jahren strittig war (konkret ging es um das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel im Sinn des § 51 Abs. 1 Z 2 NAG während eines in der Vergangenheit liegenden Zeitraumes), nicht aber - wie im vorliegenden Fall - (auch) das aktuelle Vorliegen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. Der Verwaltungsgerichtshof hat es in einer derartigen Konstellation als nicht zu beanstanden angesehen, dass das Verwaltungsgericht ungeachtet des Vorliegens einer Aufenthaltskarte das Bestehen eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthaltes eigenständig beurteilt hat, zumal die einem Verfahren nach § 55 Abs. 3 NAG (nach Ansicht der [dortigen] Revisionswerberin wäre nur das BFA in einem Verfahren nach § 55 Abs. 3 NAG berechtigt gewesen, die unionsrechtliche Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes zu prüfen) immanente mögliche Aufenthaltsbeendigung in Fällen, in denen das aktuelle Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts außer Frage steht, von vornherein nicht in Betracht kommt.
25 Demgegenüber geht es im vorliegenden Fall darum, ob das Verwaltungsgericht dem aus dem Verwaltungsakt ersichtlichen Verdacht des Bestehens einer Aufenthaltsehe trotz Bestehens einer aufrechten Aufenthaltskarte nachgehen hätte müssen. Bei Vorliegen einer Aufenthaltsehe wäre allerdings nicht nur die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes während eines in der Vergangenheit liegenden Zeitraumes fraglich, sondern das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts an sich. Es ist daher zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht auch diese Beurteilung ohne Bindung an die aufrechte Aufenthaltskarte aus eigenem - unter Beachtung des § 37 Abs. 4 NAG (dass, wie in der Revisionsbeantwortung behauptet, bereits eine Verständigung der Landespolizeidirektion nach dieser Bestimmung erfolgt wäre, lässt sich dem vorgelegten Verwaltungsakt nicht entnehmen) - vornehmen hätte müssen.
26 Wenn allerdings - wie im hg. Erkenntnis Ra 2017/22/0218 zum Ausdruck kommt - das Vorliegen einer aufrechten Aufenthaltskarte der eigenständigen dahingehenden Prüfung durch das Verwaltungsgericht nicht entgegensteht, ob der Aufenthalt über einen (von der Aufenthaltskarte gleichsam abgedeckten) Zeitraum nach Unionsrecht rechtmäßig war, dann kann für die hier zu klärende Frage, ob dem Mitbeteiligten überhaupt ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukommt, nichts Anderes gelten. In beiden Fällen geht es darum, dass ein unionsrechtliches Daueraufenthaltsrecht das Bestehen eines (wiederum) unionsrechtlich rechtmäßigen Aufenthaltes voraussetzt, und nicht darum, ob während des Aufenthaltes eine aufrechte Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bestand und der Aufenthalt somit allenfalls nach innerstaatlichem Recht (§ 31 Abs. 1 Z 2 FPG) rechtmäßig war.
27 Das Verwaltungsgericht ist somit zu Unrecht davon ausgegangen, dass ihm keine Befugnis zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes im Sinn des § 54a Abs. 1 NAG (hier: des Mitbeteiligten) zukommt, solange eine aufrechte Aufenthaltskarte vorliegt.
28 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Wien, am 20. Dezember 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62010CJ0424 Ziolkowski VORABSchlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Gemeinschaftsrecht Richtlinie Umsetzungspflicht EURallg4/2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020220020.J00Im RIS seit
26.01.2022Zuletzt aktualisiert am
01.02.2022