TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/18 W191 2212499-1

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Veröffentlicht am 18.11.2021
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Entscheidungsdatum

18.11.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2212499-1/35E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018, Zahl 1101395804-160038881, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.08.2019 zu Recht:

A)

I.       In Stattgebung der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.      Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 17.11.2015 gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am 10.01.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er komme aus XXXX , Kabul, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er spreche Paschtu, Dari und Urdu und habe in Peshawar (Pakistan) vier Jahre die Grundschule besucht. Zuletzt habe er als Hotelangestellter gearbeitet. Sein Vater und zwei weitere Brüder würden in Kabul leben. Er sei in Pakistan geboren worden und habe bis vor ca. fünf Jahren in Peshawar (Pakistan) gelebt.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sie von ihren Angehörigen in Afghanistan schlecht behandelt worden seien, weil seine Mutter Sunnitin sei. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei schlecht, Menschen würden entführt, beraubt und verletzt. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor der unsicheren Lage. Kein Menschenleben habe in Afghanistan eine Wertschätzung.

1.3. Am 17.11.2017 wurde die Mutter des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.

Sie gab an, Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitische Muslima zu sein, ihre Kinder seien aber Schiiten. Die BF berichtete von ihren innerfamiliären Problemen aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit (ihr Mann sei Hazara) und der Religion. Sie sei von ihrem Stiefsohn vergewaltigt worden und hier in psychologischer Behandlung.

Der Mutter des BF und seinem jüngeren Bruder wurden mit Erkenntnissen des BVwG vom 25.07.2019 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

1.4. Bei seiner Einvernahme am 01.02.2018 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben.

Er sei schiitischer Hazara und hätte zwölf Jahre lang in Pakistan, dann 13 Monate im Iran und zuletzt ca. sieben Jahre in Kabul (Afghanistan) gelebt. Er hätte dort in einer Konditorei gearbeitet. Sein Vater hätte außerhalb von Kabul ein Hotel geführt, wo er mit seinem Bruder mitgearbeitet hätte.

Der BF erzählte ausführlich über die Lebensumstände seiner Familie, insbesondere über die Probleme, dass die paschtunische sunnitische Mutter in eine hazarische schiitische Familie eingeheiratet hätte. Schließlich gab er an, dass ihn sein ältester Bruder intim belästigt hätte, woraufhin die Einvernahme von der Referentin abgebrochen und am 15.03.2019 mit einem gleichgeschlechtlichen Referenten fortgesetzt wurde.

1.5. Bei seiner fortgesetzten Einvernahme vor dem BFA am 15.03.2018 gab der BF an, sein älterer Bruder hätte ihn vergewaltigt. Nähere Angaben dazu wollte oder konnte der BF nicht machen. Er hätte es aus Scham niemandem anvertrauen können.

1.6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 10.12.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zum Fluchtvorbringen des BF führte das BFA aus, dass ihm aufgrund diverser Ungereimtheiten und der Steigerung seines Vorbringens die Glaubwürdigkeit hinsichtlich der behaupteten Probleme mit dem Vater abgesprochen werden müsse. Auch den Aussagen seiner Mutter hätte kein glaubhafter Kern entnommen werden können. Es könne ihm „eine innerstaatliche Fluchtalternative unterstellt werden“.

Subsidiärer Schutz wurde dem BF nicht zuerkannt, da im Falle seiner Rückkehr nach Kabul oder Bamyan eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht vorliege, da er über familiäre Anknüpfungspunkte (Vater und Brüder) verfüge, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut sei, Dari spreche, arbeitsfähig sei und Berufserfahrung besitze.

1.7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 03.01.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen des BF betreffend seine Fluchtgründe zusammengefasst wiederholt und moniert, dass der BF sein Vorbringen glaubhaft geschildert habe. Weiters folgten Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan.

Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

1.8. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.9. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29.03.2019, 161 Hv 28, wurde der BF wegen des Vergehens des – teilweise versuchten – unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2a Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

1.10. Mit Bescheid des BFA vom 23.04.2019 wurde festgestellt, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 07.03.2019 gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG verloren hatte.

1.11. Das BVwG führte am 19.08.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner Vertreterin erschien. Die belangte Behörde entschuldigte ihre Nichtteilnahme an der Verhandlung.

Dabei bestätigte bzw. wiederholte der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen seine bisher im Verfahren gemachten Angaben.

Auf die Frage, ob er aufgrund des behaupteten Eingriffes in seine sexuelle Selbstbestimmung den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 20 Abs. 4 AsylG wünsche, antwortete der BF: „Nein, das wäre mir egal. Nur, wenn meine Mutter oder mein Bruder da wären, sie wissen davon nichts, wollte ich nicht, dass sie das hören. Meine Mutter und mein Bruder sind nicht gekommen, da sie derzeit einen Integrations- und Wertekurs besuchen. Meine Mutter hat auch psychische Probleme.“

Der BF machte Angaben zu seinen Lebensumständen in Österreich, etwa zu seinem E-Gitarrenspiel. Er wohne in Wien gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer Wohnung. Seine Mutter sei in ärztlicher Behandlung, hätte viel Stress, hätte Anfälle gehabt, sei umgefallen und es sei ihr Schaum aus dem Mund getreten. Sie sei zu einer Einrichtung für psychisch traumatisierte Flüchtlinge gegangen, außerdem sei sie beim Psychologen und beim Arzt gewesen. Die Familie hätte aus finanziellen Gründen nicht gemeinsam weggehen können.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass sein Vater, wenn er von der Vergewaltigung erführe, vielleicht ihm und seinem Bruder etwas antun würde. Auf die Frage, ob er erzählen könne, wie das passiert sei, sagte der BF: „Ich kann es nicht sagen.“

Der BF war dabei offensichtlich bewegt und innerlich aufgewühlt. Bei einer psychotherapeutischen Betreuung oder bei einem Arzt sei er bisher noch nicht gewesen.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BF wurde die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb einer gewährten Nachfrist Belege über seinen Gesundheitszustand (psychologischer, psychotherapeutischer oder ärztlicher Natur) nachzubringen.

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.12. Mit E-Mail vom 09.03.2020 übermittelte der Vertreter des BF dem BVwG eine „Klinisch-Psychologische Untersuchung und Befund“ einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019, demzufolge der BF am 17.10.2019 untersucht worden war. Diagnostiziert wurde Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) sowie psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide mit Abhängigkeitssyndrom (F12.2).

Noch während des Termins sei mit der Institution PASS sowie einem Gesundheitsförderungszentrum für Männer bzw. der Diakonie telefoniert und Informationen und Termine für den Patienten eingeholt worden. Es wurde empfohlen, zuerst das Suchtthema mit entsprechenden Fachleuten zu behandeln und im Anschluss weitere Therapiemaßnahmen in Angriff zu nehmen.

Beigelegt war eine Teilnahmebestätigung des BF an einem Alphabetisierungskurs.

1.13. Mit Verfahrensanordnung vom 20.03.2020 wurde der BF im Wege seines Vertreters aufgefordert, binnen Frist darzulegen, welche konkreten Maßnahmen er gesetzt habe, und dies zu belegen.

Übermittelt wurde auch ein ergänzender Auszug aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan.

1.14. Nach Ablauf der gewährten Frist erging von Seiten des Vertreters des BF mit Schreiben vom 13.05.2020 ein Ersuchen auf Fristerstreckung zur Einbringung weiterer Belege. Beigelegt wurde eine Bestätigung eines Betreuungszentrums für Folter- und Kriegsüberlebende. Demnach befand sich der BF auf der Warteliste des Zentrums für ein Erstgespräch zur Abklärung eines allfälligen Therapiebedarfs.

1.15. Mit E-Mail vom 02.06.2020 teilte die zuständige Mitarbeiterin der den BF vertretenden Rechtsberatungsorganisation mit, dass dieser keine neuen Unterlagen vorlegen könne. Der letzte Stand sei, dass er – insbesondere wegen Terminproblemen aufgrund der COVID 19 Pandemie – nach wie vor auf ein Erstgespräch warte, um das er sich sehr lange bemüht habe.

1.16. Dem BFA wurden auch diese Eingaben übermittelt. Es nahm dazu keine Stellung und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG.

1.17. Mit Erkenntnis vom 01.12.2020, Zahl W191 2212499-1/22E, erkannte das BVwG dem BF den Status subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr (Spruchpunkte A) II. und A) III.). Die Beschwerde des BF gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A) I.).

Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung habe zusammengefasst ergeben, dass aufgrund individueller Umstände – den psychischen Problemen und einem damit einhergehenden allfälligen Therapiebedarf in Zusammenschau mit der COVID 19 Pandemie – zum Entscheidungszeitpunkt nicht davon ausgegangen werden könne, dass es dem BF nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten gelingen würde, in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen könnten. Bei einer dortigen Ansiedelung würde der BF vielmehr Gefahr laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

Eine Rückkehr nach Kabul zum Vater und dessen Familie sei im Hinblick auf das glaubhafte Vorbringen nicht möglich. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative sei ebenfalls nicht zumutbar. Der BF gehöre aufgrund seines Gesundheitszustandes einer vulnerablen Personengruppe im Sinne des UNHCR an.

Ausgeführt wurde ausdrücklich: „[…] Daher ist dem BF gemäß § 8 Abs. 4 AsylG gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen. Anlässlich der Antragstellung auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung wird zum einen die Entwicklung bezüglich der COVID 19 Pandemie zu berücksichtigen sein und zum anderen zu prüfen sein, ob der BF hinreichende Bemühungen zur Abklärung und Behandlung seiner gesundheitlichen Probleme unternommen haben wird. […]“

1.18. Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA das außerordentliche Rechtsmittel der außerordentlichen Revision („Amtsrevision“) gegen die Spruchpunkte A) II. sowie A) III. (Zuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigten, Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr) und monierte im Wesentlichen, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (in der Folge VwGH) zur Begründungspflicht abgewichen sei. Es gehe nicht hervor, aufgrund welcher Umstände dem BF eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen würde. Das BVwG wäre zudem nicht auf die Argumente des BFA eingegangen.

1.19. Der VwGH behob mit Erkenntnis vom 04.06.2021, Ra 2021/01/0008-8, das Erkenntnis des BVwG im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Dem angefochtenen Erkenntnis sei keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme zu entnehmen, dass dem BF im Fall seiner Rückkehr die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung drohen würde. Aus den Feststellungen gehe nicht hervor, ob sich die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf die allgemeine Versorgungs- oder Sicherheitslage stütze oder in welchen individuellen tatsächlichen Umständen des Einzelfalls eine Grundlage dafür zu erblicken sei. Auch sei keine erforderliche Schwere und Intensität der psychischen Erkrankung des BF ersichtlich; der Hinweis des BVwG auf die Klärung eines allfälligen Therapiebedarfs würde ein reales Risiko einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte nicht ausreichend darlegen.

1.20. Das Verfahren befand sich somit – mit Ausnahme des rechtskräftig entschiedenen Spruchpunktes A) I. – wieder im Stadium der Anfechtung des Bescheides des BFA vom 10.12.2018 und war vom BVwG fortzusetzen.

Am 21.09.2021 erging eine Verfahrensanordnung betreffend die Anberaumung einer Beweisaufnahme an den BF; mit Beschluss vom 22.09.2021 wurde gemäß § 52 Abs. 2 AVG in Verbindung mit § 17 VwGVG ein allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter sachverständiger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie zum Sachverständigen zur Erstellung eines medizinischen Gutachtens bestellt.

Zur Gewährleistung eines mängelfreien Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die amtswegige Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit (§ 39 Abs. 2 AVG), sei die Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens notwendig. Dem BVwG würden weder Amtssachverständige in der für das Gutachten erforderlichen Fachrichtung zur Verfügung stehen, noch könne es auf solche zurückgreifen. Die Beiziehung eines nichtamtlichen Sachverständigen sei aber auch in der Besonderheit des konkreten Falles begründet.

1.21. Das psychiatrisch-psychotraumatologische Sachverständigengutachten vom 21.10.2021 stellte zum Untersuchungszeitpunkt eine nicht organische Insomnie (F51.0) sowie eine psychische und Verhaltensstörung durch Cannabis (F12.2) fest. Eine Behandelbarkeit der beiden Krankheitsbilder sei zweifelsfrei möglich.

Im Rahmen der Anamnese gab der BF an, sein Stiefbruder habe ihn sexuell missbraucht und zum Konsum von Marihuana verleitet. Mittlerweile konsumiere der BF mehrmals am Tag Marihuana, versuche diesen Konsum jedoch zu reduzieren. Er stehe in keiner fachärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung.

Dem BFA sowie dem BF wurde dieses Gutachten nachrichtlich übermittelt. Es langten keine diesbezüglichen Stellungnahmen ein.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 10.01.2016 und der Einvernahmen vor dem BFA am 17.11.2017, 01.02.2018 und 15.03.2018 sowie die gegenständliche Beschwerde vom 03.01.2019

?        Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG betreffend den BF (beinhaltend das Erkenntnis des VwGH vom 04.06.2021, Ra 2021/01/0008-8), seine Mutter und seinen jüngeren Bruder

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 166 bis 261)

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 19.08.2019 sowie Einsicht in die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zur Integration und die strafgerichtliche Verurteilung des BF

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie die Lage Homosexueller (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)

o        Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Vergewaltigungen von Männern/Jungen durch Männer (Umgang der Gesellschaft mit diesem Thema; Konsequenzen für den vergewaltigten Mann/Jungen; Schutzwilligkeit/-fähigkeit der Polizei in solchen Fällen) [a-9353-1]

?        Einsicht in folgende Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA betreffend die Covid-19 Pandemie, regierungsfeindliche Gruppierungen und Lage der Hazara (Stand 02.04.2021)

o        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation des BFA vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan

o        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation des BFA vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan

o        UNHCR Position zur Rückkehr nach Afghanistan (August 2021)

?        Einsicht in folgende vom BF vorgelegte Belege zu seiner Gesundheit:

o        „Klinisch-Psychologische Untersuchung und Befund“ einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019

o        Bestätigung eines Betreuungszentrums für Folter- und Kriegsüberlebende vom 13.05.2020

o        Psychiatrisch-psychotraumatologisches Sachverständigengutachten eines allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten sachverständigen Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 21.10.2021

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, nach seinem Vater – seine Mutter ist sunnitische Paschtunin – Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari und Urdu. Der BF hat drei leibliche Brüder, einer lebt noch in Kabul bei seinem Vater. Die beiden Stiefbrüder leben schon länger getrennt vom Vater.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF ist in Peshawar (Pakistan) geboren, wo er bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte. Anschließend lebte er mit seiner Familie 13 Monate im Iran und zuletzt sieben Jahre in Kabul (Afghanistan). Der BF besuchte vier Jahre lang die Grundschule und arbeitete als Konditor sowie im Hotelbetrieb seines Vaters.

3.1.3. Der BF verließ aus angegebenen Gründen seinen Herkunftsstaat und reiste nach Europa, wo er am 17.11.2015 in Österreich – gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder, denen der Status von anerkannten Flüchtlingen gewährt wurde – den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.4. Gesundheitliche Situation des BF:

Laut Befund einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019 leidet der BF an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (F34.1) sowie an psychischen und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide mit Abhängigkeitssyndrom (F12.2).

Laut psychotherapeutischer Empfehlung bedarf es einer Behandlung der Suchtproblematik mit entsprechenden Fachleuten sowie weiterer Therapiemaßnahmen im Anschluss.

Dem psychiatrisch-psychotraumatologischen Sachverständigengutachten vom 21.10.2021 ist zu entnehmen, dass der BF an einer nicht organischen Insomnie (F51.0) und weiterhin an psychischen und Verhaltensstörungen durch Cannabis (F12.2) erkrankt ist. Eine Behandelbarkeit der beiden Krankheitsbilder wird vom beauftragten Facharzt für Neurologie und Psychiatrie bejaht.

3.2. Die Frage einer asylrelevanten Verfolgung des BF in seinem Heimatstaat ist nach der rechtskräftigen Abweisung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt A) I. des (durch Amtsrevision) angefochtenen Erkenntnisses nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein relevanter Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig.

Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land, und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.

Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.

Dazu kommt, dass der BF aufgrund seines Gesundheitszustandes einer vulnerablen Personengruppe im Sinne der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 angehört und die schon zuvor nicht gute medizinische Versorgungslage in Afghanistan nach dem Machtwechsel zu den Taliban zuletzt noch prekärer geworden ist.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auszuschließen wäre.

3.4. Zur Integration und zu den Lebensumständen des BF in Österreich:

3.4.1. Der BF lebt mit seiner Mutter, die ebenfalls psychische Probleme hat und in Behandlung steht, und seinem jüngeren Bruder, die beide asylberechtigt sind, in einer gemeinsamen Wohnung in Wien.

Der BF bemüht sich um seine Integration in Österreich und lernt Deutsch.

3.4.2. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29.03.2019, 161 Hv 28, wurde der BF wegen des Vergehens des – teilweise versuchten – unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2a SMG und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

3.5.1. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 17.08.2021 zur aktuellen Lage in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan. Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme, und keine Racheakte an irgendjemandem zu begehen (tagesschau.de 15.08.2021).

Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insaßen befreit worden (BAMF 16.08.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.08.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.08.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.08.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.08.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet, und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen, ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.08.2021).

Laut Treffen mit Frontex kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf, die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.08.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.08.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.08.2021).“

3.5.2. Kurzinformation der Staatendokumentation [des BFA] vom 20.08.2021 zu aktuellen Entwicklungen und Informationen in Afghanistan (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a). Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.08.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens zwölf Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.08.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es, die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (£ Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR- Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17.09.2021 (VN 18.08.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu‘minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b). [...]“

3.5.3. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021

„Einleitung

1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghaninnen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghaninnen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghaninnen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghaninnen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.

Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz

3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.

4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen - sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Abnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.

5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.

6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.

Empfehlung eines Abschiebestopps

7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen - auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.

9. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.“

3.5.4. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 02.04.2021 (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht h

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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