Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §19 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des Z A J A, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. August 2021, I416 2167865-1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 7. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er sei als Sunnit von schiitischen Milizen bedroht gewesen bzw. hätten er und ein Arbeitskollege bei der Polizei ein belastendes Gespräch eines Vorgesetzten mitgehört und gemeldet, weswegen sein Arbeitskollege getötet und er bedroht worden sei.
2 Mit Bescheid vom 27. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Mit Beschluss vom 5. Oktober 2021, E 3650/2021-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG habe eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen. So habe sich das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf angebliche Widersprüche zwischen den Angaben des Revisionswerbers bei der Erstbefragung und vor dem BFA gestützt. Weiters habe der Revisionswerber eine Frage des Richters in der mündlichen Verhandlung nicht verstanden, weshalb er sich in vermeintliche Widersprüche verwickelt habe. Der Richter habe aber nicht zugelassen, das Missverständnis aufzuklären. Auch habe der Revisionswerber sein Vorbringen widerspruchsfrei und in sich konsistent vorgebracht.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser - als Rechtsinstanz - zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0025, mwN).
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl ist es aber nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen. Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist es weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben einzubeziehen. Es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese Widersprüche fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 30.11.2020, Ra 2020/19/0376; 5.2.2021, Ra 2020/19/0322; jeweils mwN).
11 Das BVwG gelangte nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffte, im Rahmen der Beweiswürdigung zum Ergebnis, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Dabei setzte es sich mit seinen Aussagen und den von ihm vorgelegten Beweismitteln auseinander. Das BVwG legte dar, aus welchen Gründen es die im Laufe des Verfahrens gemachten Angaben des Revisionswerbers zu seinen Fluchtgründen als gesteigert erachtete. Es stützte sich auf Widersprüche in den Aussagen des Revisionswerbers nicht nur zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme durch das BFA, sondern auch auf widersprüchliche Aussagen im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde einerseits und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht andererseits, insbesondere zur Frage, ob der Revisionswerber persönlich bedroht worden sei. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar wäre.
12 Die Revision rügt in ihrem Zulässigkeitsvorbringen weiters Feststellungs- und Begründungsmängel in Zusammenhang mit der behaupteten unerlaubten Abwesenheit des Revisionswerbers vom Polizeidienst.
13 Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0196, mwN).
14 Das BVwG stellte zu den Folgen eines Fernbleibens vom Polizeidienst fest, das relevante Strafgesetzbuch sehe das „Verbrechen der Abwesenheit“ vor, wobei die Strafe je nach Position der Person variiere und beispielsweise den Abzug des Gehalts für einen Polizisten, der unter normalen Umständen weniger als 15 Tage abwesend sei, betrage und „mindestens ein Jahr“ für Angehörige der inneren Sicherheitskräfte, die während Unruhen oder Ausnahmezuständen mehr als zehn Tage abwesend seien.
15 Die Revision bestreitet diese Feststellungen nicht. Vor diesem Hintergrund legt die Revision mit ihrem nicht näher begründeten Vorbringen, der Revisionswerber müsse wohl jedenfalls mit einer Haftstrafe rechnen, welche auf Grund der Haftbedingungen die Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK befürchten lasse, nicht schlüssig dar, auf Grund welcher konkreter Annahmen hinsichtlich der Tätigkeit des Revisionswerbers bei der Polizei welche konkrete Feststellungen hinsichtlich der Folgen seines Fernbleibens vom Dienst abzuleiten gewesen wären, die eine asylrelevante Freiheitsstrafe gegen den Revisionswerber befürchten ließen.
16 Schließlich wendet sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die Rückkehrentscheidung und bringt vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu, wie der Integrationsbegriff des § 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG auszulegen sei. Das BVwG habe die umfassenden Integrationsschritte des Revisionswerbers, wie den Besuch von Deutschkursen und die Absolvierung von Deutschprüfungen, seine ehrenamtliche Tätigkeit, einen Schulbesuch sowie die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungen, seine Einbindung in ein soziales Umfeld und seine Selbsterhaltungsfähigkeit zu Unrecht nicht als entscheidungsrelevante Integration gewertet. Ebenso habe es die bereits sechsjährige Aufenthaltsdauer und die lange Dauer des Verfahrens, an welcher den Revisionswerber kein Verschulden treffe, nicht entsprechend gewichtet.
17 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.5.2021, Ra 2021/19/0047, mwN).
18 Das persönliche Interesse nimmt zwar grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 3.3.2021, Ra 2021/19/0023, mwN).
19 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).
20 Im Revisionsfall führte das BVwG eine mündliche Verhandlung durch, in welcher es den Revisionswerber zu dessen Integration befragte, und berücksichtigte im Rahmen der Interessenabwägung die Aufenthaltsdauer, die Deutschkenntnisse des Revisionswerbers, die Verrichtung gemeinnütziger Tätigkeiten und die Anmeldung eines Gewerbes sowie seine Bindungen zum Herkunftsstaat. Die Revision zeigt, ungeachtet der Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit des Revisionswerbers, nicht auf, dass diese Interessenabwägung fallbezogen unvertretbar wäre.
21 Vor diesem Hintergrund zeigt die Revision auch nicht auf, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Auslegung eines der Abwägungskriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG (hier: „Grad der Integration“ gemäß Z 4) fehlen würde, von welcher die Entscheidung über die Revision abhinge.
22 Einer überlangen Verfahrensdauer käme lediglich dann Relevanz für den Verfahrensausgang zu, wenn sich während der Verfahrensdauer schützenswerte familiäre oder private Interessen herausgebildet hätten (vgl. VwGH 12.3.2021, Ra 2020/19/0440, mwN). Dass dies hier der Fall wäre, legt die Revision, wie ausgeführt, fallbezogen nicht dar.
23 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 30. Dezember 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021190446.L00Im RIS seit
25.01.2022Zuletzt aktualisiert am
25.01.2022