TE Vwgh Beschluss 2022/1/7 Ra 2020/19/0080

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Veröffentlicht am 07.01.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §38
AVG §52
AVG §9
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des M S, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Jänner 2020, I416 2132451-1/25E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 17. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er habe für das irakische Innenministerium gearbeitet, weswegen er bedroht und entführt worden sei. Auch sei er als Sunnit bedroht worden. Seine Brüder seien verschleppt worden, er habe rechtzeitig flüchten können. Er interessiere sich auch für das Christentum.

2        Mit Bescheid vom 21. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Das BVwG führte eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der anwesende Revisionswerber durch eine Rechtsberaterin vertreten war.

4        Das BVwG stellte, soweit hier maßgeblich, fest, der Revisionswerber sei gesund und arbeitsfähig. Diese Feststellungen stützte es beweiswürdigend auf die Aussagen des Revisionswerbers vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Es sei auch unter Berücksichtigung der von seiner Rechtsvertretung in der Verhandlung angegebenen Medikamente keine gesundheitliche Beeinträchtigung vorgebracht worden, welche nach der Rechtsprechung zur Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Fall einer Rückkehr führen könnte. Die Arbeitsfähigkeit ergebe sich ferner aus näher genannten gemeinnützigen Tätigkeiten und einem dreimonatigen Lehrverhältnis. Das Fluchtvorbringen sei nicht glaubwürdig. Beweiswürdigend stützte sich das BVwG dafür auf den persönlichen Eindruck des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung und auf dessen widersprüchliche, nicht nachvollziehbare, oberflächliche und unplausible Angaben. Von den in der Beschwerde gestellten Beweisanträgen, nämlich die Einvernahme eines Freundes und die Übersetzung vorgelegter Urkunden, sei kein entscheidungsrelevanter neuer Sachverhalt zu erwarten gewesen, da der besagte Freund auf Grund des persönlichen Naheverhältnisses keine den Revisionswerber „belastenden Aussagen“ machen würde und im Irak jedes Dokument gegen Bezahlung zu beschaffen sei. Die Beweisaufnahme sei in der Verhandlung von Seiten des Revisionswerbers und seiner Rechtsvertretung auch nicht mehr thematisiert worden. Auch die behauptete Konversion zum katholischen Glauben sei nicht glaubwürdig.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8        Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das BVwG hätte von Amts wegen die Verhandlungsfähigkeit des Revisionswerbers prüfen und ein ärztliches Gutachten dazu einholen müssen. Das „gesamte Protokoll“ der mündlichen Verhandlung zeige gröbste Abweichungen von üblichen Protokollen, weil die Verhandlung mehrfach habe unterbrochen werden müssen und der Revisionswerber auf Fragen in untypischer Weise nicht geantwortet habe. Es sei zu „Unzukömmlichkeiten“ mit dem Dolmetscher gekommen, sodass mitten in der Verhandlung rückübersetzt habe werden müssen, und der Revisionswerber habe Fragen insgesamt „unplausibel“ beantwortet. Seine Rechtsvertreterin habe in der Verhandlung angegeben, dass der Revisionswerber zwei näher genannte Medikamente täglich einnehme, worauf das BVwG nicht reagiert habe, obwohl das Verhalten des Revisionswerbers „auffällig“ gewesen sei. Bei den Medikamenten handle es sich um ein Neuroleptikum und ein Antipsychotikum.

9        Die Frage der Prozessfähigkeit einer Partei ist zufolge des § 9 AVG, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hierfür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, die Bedeutung und die Tragweite des Verfahrens und der sich in diesem ereigneten prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was sowohl aktiv gesetzte Verfahrenshandlungen wie auch Unterlassungen erfasst.

10       Die Frage des Vorliegens der prozessualen Handlungsfähigkeit ist nach § 9 AVG von der Behörde bzw. vom Gericht als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen aufzugreifen. Bei begründeten Bedenken in Bezug auf das Fehlen der Prozessfähigkeit der betreffenden Person ist daher die Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren - in der Regel durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - durchzuführen (vgl. VwGH 18.12.2020, Ra 2020/20/0149, mwN).

11       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Frage, ob amtswegige Erhebungen erforderlich sind, regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung dar, weil es sich dabei um eine einzelfallbezogene Beurteilung handelt. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. zur Frage der Erforderlichkeit eines Sachverständigengutachtens zwecks Beurteilung der Einvernahmefähigkeit VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0303, mwN).

12       Im vorliegenden Fall legte der Revisionswerber weder Befunde vor, die auf das Fehlen seiner Prozessfähigkeit hätten schließen lassen können, noch erstattete er im behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein entsprechendes Vorbringen. Die Revision stützt sich für ihr Vorbringen in pauschaler Weise auf den Inhalt des Verhandlungsprotokolls („unplausible“ und „untypische“ Antworten, mehrfache Unterbrechung, Rückübersetzung), ohne jedoch aufzuzeigen, auf Grund welcher konkreter (Nicht-)Aussagen bzw. Vorkommnisse das BVwG Zweifel an der Prozessfähigkeit des Revisionswerbers hätte haben müssen. Insoweit die Revision vorbringt, die Rechtsvertreterin habe in der Verhandlung die vom Revisionswerber eingenommenen Medikamente genannt, ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang kein Vorbringen in Bezug auf die Prozessfähigkeit des Revisionswerbers erstattet wurde. Die Revision zeigt somit fallbezogen nicht auf, dass das BVwG weitere amtswegige Erhebungen zum psychischen Gesundheitszustand des Revisionswerbers hätte vornehmen müssen.

13       Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision auch vor, der erkennende Richter sei befangen gewesen, weil er Beweisanträgen des Revisionswerbers „allein auf Grund der Nationalität des Zeugen“, also der Herkunft des Beweismittels, nicht nachgekommen sei.

14       Mit diesem Vorbringen zeigt die Revision - sie macht lediglich die Befangenheit des erkennenden Richters und nicht die Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Beweisanträge geltend - schon deswegen keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf, weil das BVwG die Einvernahme des Zeugen nicht im Hinblick auf dessen Nationalität, sondern wegen dessen persönlichen Naheverhältnis zu dem Revisionswerber ablehnte, und sich die Annahme des BVwG, dass im Irak jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung zu beschaffen sei, auf eine entsprechende Feststellung stützt, welche in der Revision nicht bekämpft wird. Fallbezogen zeigt die Revision keine Begründungsteile auf, die im Sinn der von ihr genannten Judikatur (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0676) den Anschein der Befangenheit begründen könnten.

15       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

16       Von einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 7. Jänner 2022

Schlagworte

Handlungsfähigkeit Prozeßfähigkeit natürliche Person Öffentliches Recht Verfahrensgrundsätze im Anwendungsbereich des AVG Offizialmaxime Mitwirkungspflicht Manuduktionspflicht VwRallg10/1/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020190080.L00

Im RIS seit

25.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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