TE OGH 2021/12/2 5Ob208/21f

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Veröffentlicht am 02.12.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann, die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen V*, geboren am * 2011, und des minderjährigen F*, geboren am * 2013, I.) über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 8. September 2021, GZ 2 R 227/21y-37, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom 29. Juli 2021, GZ 50 Ps 327/19x-19, abgeändert und die Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache angeordnet wurde, und II.) wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I.) Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

II.) Die mit Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtsachen Graz vom 8. September 2021, GZ 2 R 227/21y-37, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Kufstein wird nicht genehmigt.

Text

Begründung:

[1]       Die Ehe der Eltern der beiden Minderjährigen wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom 25. 2. 2021 im Einvernehmen geschieden. Sie hielten im Scheidungsfolgenvergleich die im Verfahren 50 Ps 327/19x des Bezirksgerichts Weiz getroffene Vereinbarung aufrecht, wonach den Eltern die Obsorge gemeinsam zukommt und die hauptsächliche Betreuung der Kinder im Haushalt der Mutter erfolgt. Dem Vater wurde in dieser Vereinbarung ein Kontaktrecht in jeder zweiten Woche von Mittwoch (nach Schulende) bis zum darauffolgenden Montag (Schulbeginn) eingeräumt.

[2]       Mit seinem Antrag vom 17. 6. 2021 begehrte der Vater die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für beide Kinder an ihn und die Abänderung der Kontaktrechte dahin, dass die Kinder gleich viel Zeit im wöchentlichen Wechsel bei ihm und der Mutter verbringen sollen. Die Mutter beabsichtige, mit den Kindern nach Tirol zu ziehen und dort auch die Taufe des Sohnes durchzuführen.

I.) Zum außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters:

[3]       Die Mutter beantragte am 29. 7. 2021 die Überweisung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Kufstein, bei dem sie ihrerseits bereits am 27. 7. 2021 eine Änderung der Kontaktrechte beantragt hatte, weil sie mit den Kindern in den Sprengel dieses Gerichts verzogen sei, die nunmehr dort ihren Wohnsitz und den ständigen Aufenthalt hätten. Dazu legte sie die Bestätigung der Meldungen aus dem Zentralen Melderegister vor.

[4]       Das Bezirksgericht Weiz wies den Überweisungsantrag der Mutter mit Beschluss vom 29. 7. 2021 ab, weil es die Pflegschaftssache bereits seit Februar 2020 führe und daher über die entsprechende Kenntnis der Sachlage verfüge.

[5]       Dagegen richtete sich der Rekurs der Mutter, dem das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz mit Beschluss vom 8. 9. 2021 Folge gab und die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Kufstein übertrug. Seit der Antragstellung des Vaters seien keine Ermittlungen durchgeführt oder Beweise aufgenommen worden; die Sachverständige sei mit Beschluss vom 9. 8. 2021 bestellt worden, sodass sie noch keine Tätigkeiten entfalten habe können. Damit stünden einer Zuständigkeitsübertragung wegen des Aufenthaltswechsels der Kinder keine Gründe entgegen, zumal jenes Gericht, in dessen Sprengel sich die Minderjährigen tatsächlich aufhalten, in der Regel besser in der Lage sei, die derzeitige Lebenssituation aller Beteiligten (insbesondere jene der Kinder) zu erforschen.

Rechtliche Beurteilung

[6]       Der gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er auf die Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts abzielt, ist mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.

[7]       1.1 Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0046908). In welcher Form das Kindeswohl am Besten gewahrt wird, kann ganz allgemein nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (RS0046908 [T6]; RS0047032 [T3]).

[8]       1.2 Eine Übertragung der Zuständigkeit zur Führung eines Pflegschaftsverfahrens ist vorzunehmen, wenn es im Interesse des Kindes liegt und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RS0046929). In der Regel entspricht es den Interessen von Kindern, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt ihrer Lebensführung liegt (RS0047300). Entscheidend ist daher im Allgemeinen, wo sich die Kinder tatsächlich aufhalten.

[9]       2.1 Der Vater zieht in seinem außerordentlichen Rechtsmittel nicht in Zweifel, dass die Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter im Sprengel des Bezirksgerichts Kufstein dauerhaft aufhältig sind und dort ihren (Haupt-)Wohnsitz haben. Er meint aber, dass das Bezirksgericht Weiz zur Erledigung der offenen Anträge besser geeignet wäre, und releviert dazu als Aktenwidrigkeit der Entscheidung des Rekursgerichts, dass das Bezirksgericht Weiz entgegen dessen Darstellung bereits die Einvernahme der Eltern durchgeführt habe.

[10]           2.2 Es ist zwar richtig, wie der Vater geltend macht, dass nach Rekurserhebung durch die Mutter vor dem Bezirksgericht Weiz am 5. 8. 2021 eine Einvernahme der Eltern zu den Anträgen auf Änderung des Kontaktrechts stattgefunden hat und dieses danach mit Beschluss vom 9. 8. 2021 eine Sachverständige aus dem Fachgebiet der Kinder- und Familienpsychologie bestellte. Das Rekursgericht hatte den angefochtenen Beschluss vom 29. 7. 2021 aber aufgrund der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen (§ 53 AußStrG; RS0006801 [T6]). Im Zeitpunkt seiner Entscheidung, mit dem es den Antrag der Mutter auf Übertragung der Zuständigkeit abwies, hatte das Bezirksgericht weder zu den Anträgen des Vaters, noch zum Begehren der Mutter auf Änderung der vereinbarten Kontaktrechtsregelung Erhebungsschritte eingeleitet. Eine besondere Sachkenntnis des Bezirksgerichts, die der Entscheidung der offenen Anträge dienlich sein hätte können, lag im Zeitpunkt von dessen Entscheidung nicht vor.

[11]     2.3 Damit begründet es weder eine Aktenwidrigkeit, dass das Rekursgericht die Einvernahme der Eltern in seine Entscheidung nicht einfließen ließ, noch eine im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung, wenn es das Vorliegen der für eine Übertragung der Zuständigkeit der Pflegschaftssache in dem für seine Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt bejahte.

[12]     3. Der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters ist daher zurückzuweisen.

Zu II.):

[13]           Nachdem er den Antrag der Mutter, die Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Kufstein zu überweisen, abgewiesen und den Rekurs des Vaters an das Gericht zweiter Instanz vorgelegt hatte, vernahm der am Bezirksgericht Weiz zuständige Richter die Eltern zu den Anträgen und beauftragte eine Sachverständige mit der Erstattung eines familienpsychologischen Gutachtens. Nach Vorliegen der Entscheidung des Rekursgerichts, mit dem dieses die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache ausgesprochen hatte, forderte der Richter den Akt von der Sachverständigen ab und übermittelte ihn dem Bezirksgericht Kufstein. Dieses lehnte die Übernahme der Zuständigkeit mit dem Hinweis auf die seit der Vorlage an das Rekursgericht geänderte Sachlage ab und stellte den Akt ohne förmliche Beschlussfassung dem Bezirksgericht Weiz zurück.

[14]           Das Bezirksgericht Weiz legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.

[15]     Die Übertragung ist nicht zu genehmigen:

[16]           1. Offene Anträge sprechen nicht generell gegen eine Übertragung der Zuständigkeit (RS0047032). Im Einzelfall kann eine Übertragung der Zuständigkeit aber dem Wohl des Kindes widersprechen, die dann auch zu unterbleiben hat. Das ist nach der Rechtsprechung insbesondere der Fall, wenn dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt oder es jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RS0047032 [T11]), aber auch dann, wenn das übertragende Gericht bereits durch unmittelbare Einvernahme der maßgeblichen Personen einen Eindruck gewonnen hat (RS0047032 [T12; T14; T26]).

[17]     2. Zu entscheiden ist über Anträge beider Eltern, das Kontaktrecht neu zu regeln, und über einen Antrag des Vaters auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Kinder. Das Bezirksgericht Weiz hat die Eltern zu diesen Anträgen bereits einvernommen und ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Die Sachverständige hat nicht nur die Befundaufnahme abgeschlossen und sich dazu einen Eindruck von den Eltern sowie den Minderjährigen und deren Interaktion verschafft, sondern auch eine gutachterliche Stellungnahme zu den offenen Anträgen abgegeben. Das Verfahren vor dem Bezirksgericht Weiz befindet sich damit in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium, wobei sich der dort zuständige Richter bereits ausführlich mit den offenen Anträgen befasst und die Eltern dazu vernommen hat. Er kann die dabei gewonnenen Eindrücke und die Erkenntnisse des Sachverständigengutachtens unmittelbar verwerten, weswegen ungeachtet des Umstands, dass die Kinder ihren Lebensmittelpunkt derzeit nicht mehr im Sprengel des Bezirksgerichts Weiz haben, eine Übertragung der Zuständigkeit der Pflegschaftssache aktuell nicht zweckmäßig erscheint.

[18]           3. Der Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache ist damit die Genehmigung zu versagen.

Textnummer

E133620

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00208.21F.1202.000

Im RIS seit

25.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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