TE Bvwg Erkenntnis 2022/1/4 L530 1309578-5

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.01.2022
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Entscheidungsdatum

04.01.2022

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §75 Abs20
AsylG 2005 §8
B-VG Art133 Abs4

Spruch


L530 1309578-5/99E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Florian Schiffkorn als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Nigeria, vertreten durch Mag. Philipp Tschernitz, Rechtsanwalt in 9020 XXXX , Pfarrplatz 17, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 19. März 2012, Zl. 1007.036-BAG,

A)

1. zu Recht erkannt:

Die Beschwerde gegen den Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen;

2. den Beschluss gefasst:

Der angefochtene Bescheid wird im Umfang des Spruchpunktes III aufgehoben und die Angelegenheit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs. 20 Asylgesetz 2005 an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

Nach der Abweisung bzw. Zurückweisung seines ersten und zweiten Asylantrages stellte der Beschwerdeführer am 9. August 2010 seinen dritten Asylantrag.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. März 2012 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 9. August 2010 gemäß „§ 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF“ und gemäß „§ 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG“ als unbegründet ab; zugleich verfügte die belangte Behörde gemäß „§ 10 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG“ seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 13. April 2012 das Rechtsmittel der Beschwerde.

Mit Erkenntnis vom 31. Jänner 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I und II des angefochtenen Bescheides als unbegründet ab, hob den angefochtenen Bescheid im Umfang des Spruchpunktes III auf und verwies die Angelegenheit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs. 20 Asylgesetz 2005 an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück.

Mit Erkenntnis vom 27. Juni 2019, Ra 2019/14/0138, wies der Verwaltungsgerichtshof die Revision, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I des bekämpften Bescheides richtet, zurück und hob das angefochtene Erkenntnis im Umfang der Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II und III des bekämpften Bescheides wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts auf.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A) Entscheidung über die Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide

A) 1. Feststellungen

A) 1.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der am 16. Juni 2005 in das Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Nigeria, volljährig und Christ. Feststellungen zu seiner Identität – vor allem zu seinem Namen und seinem Geburtsdatum – können allerdings nicht getroffen werden.

Der aktuelle Gesundheitszustand des Beschwerdeführers stellt sich wie folgt dar:

Der Beschwerdeführer ist an einer Sarkoidose der Lunge und der Leber erkrankt. An Vorerkrankungen wird auch eine medikamentös behandelte Lungentuberkulose erwähnt. Die medizinische Behandlung fand am Klinikum XXXX statt mit einer vorübergehenden Schienung der durch die Leberknoten beengten Gallenwege sowie mit einer medikamentösen Therapie mit Imurek, Aprednisolon und Ursofalk, die die Entzündungsreaktion vermindern und den Gallenfluss verbessern.

Zudem war der Beschwerdeführer überwiegend regelmäßig in radiologischer und labormedizinischer Kontrolle, wobei hier zuletzt eine weitgehend normale Leberfunktion festgestellt wurde bei weiterhin bestehenden Einengungen von Teilen des Gallengangsystems in der Leber. Die Lungenfunktion und auch die Bildgebung dazu waren zuletzt weitgehend unauffällig.

Hinweisend für eine normale Leberfunktion ist die ausreichende Synthese von Eiweißen, wie sie für die Blutgerinnung verwendet werden. Bei einer Leberfunktionsstörung kommt es auch zu einer typischen Erhöhung der sogenannten Transaminasen. Diese sind mit Ausnahme einer Erhöhung des GGT-Wertes im Normbereich. Es zeigen sich auch keine typischen Veränderungen bei der exokrinen Funktion der Bauchspeicheldrüse. Auch die typischen Parameter, die eine ordnungsgemäße Funktion des Gallenflusses anzeigen, sind im Normbereich.

Typischerweise kommt es im Rahmen der Sarkoidose zur Erhöhung der alkalischen Phosphatase und des ACE. Auch diese Werte sind im Normbereich. Es ist nach derzeitigen Befunden und nach derzeitigem Befundverlauf davon auszugehen, dass es zu einer Stabilisierung der Sarkoidose gekommen ist und es unter der verordneten Medikation zu keiner weiteren Progression des Krankheitsbildes gekommen ist. Die bildgebenden Organbefunde waren zuletzt wenig auffällig.

Es ist eine weitere medikamentöse Behandlung des Beschwerdeführers erforderlich. Der Beschwerdeführer sollte regelmäßig die Präparate Azathioprin, Prednisolon sowie Ursodesoxycholsäure einnehmen, vor allem die Einnahme von Azathioprin und Prednisolon sollte fortgeführt werden. Diese Behandlung ist auch in Nigeria möglich, die verordnete Medikation kann auch über Apotheken in Nigeria bezogen werden. Somit kommt es bei Fortführung der Behandlung nicht zu einer unwiederbringlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes, zu keinem intensiven Leiden und zu keiner erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung, wenn der Beschwerdeführer in Nigeria weilt.

Die Beschaffung der Medikation sollte dem Beschwerdeführer über einen längeren Zeitraum über mindestens zehn Jahre ermöglicht werden, etwa im Rahmen einer finanziellen Zuwendung im Rahmen einer Rückkehrhilfe. Dabei ist anzunehmen, dass in Nigeria Medikamentenkosten in der Höhe von insgesamt 384,-- Euro jährlich anfallen werden, wobei die belangte Behörde – einen Antrag des Beschwerdeführers vorausgesetzt – eine erhöhte finanzielle Rückkehrhilfe zur Finanzierung des Medikamentenbedarfs für den Zeitraum von zehn Jahren (das sind 3.840,-- Euro) gewähren würde.

In Einschätzung der Erwerbsfähigkeit bezogen auf die Grunderkrankung des Beschwerdeführers ist eine vollzeitige und vollschichtige Erwerbsarbeit möglich in leichten bis mittelschweren Tätigkeiten. Schwere Arbeiten sind zu vermeiden. Beruflich denkbar sind somit etwa Tätigkeiten in der Verwaltung, im Handel, im Gastgewerbe, im Transportgewerbe und in der Produktionsarbeit, sofern jeweils keine schweren Lasten ohne Maschinenunterstützung zu bewältigen sind.

Der Beschwerdeführer verfügt im Bundesgebiet über keine familiären Anknüpfungspunkte. Es kann nicht festgestellt werden, dass er seit zwei Jahren eine Beziehung maßgeblicher Intensität mit einer rumänischen Staatsbürgerin führt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 26. August 2009 wurde der Beschwerdeführer der versuchten Nötigung nach § 15 Abs. 1 und § 105 Abs. 1 StGB für schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt, da er Ärzte und Krankenpfleger durch die Äußerung „kill“, wobei er diese Äußerung mit der Geste, die Kehle durchzuschneiden, untermauerte, sohin durch gefährliche Drohung zu seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zu nötigen versuchte.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 14. März 2012 wurde der Beschwerdeführer der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB für schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 27 Monaten, von denen 18 Monate bedingt nachgesehen wurden, verurteilt, da er eine Person durch Messerstiche absichtlich schwer am Körper verletzte.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 24. Juni 2016 wurde der Beschwerdeführer wegen des gewerbsmäßigen, unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten, von denen acht Monate bedingt nachgesehen wurden, verurteilt.

Aufgrund der allgemeinen Lage im Land wird festgestellt, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird.

A) 1.2. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria:

„COVID-19

Letzte Änderung: 01.09.2021

Die COVID-19-Situation in Nigeria ist nach wie vor angespannt. Die veröffentlichten absoluten Zahlen an bisherigen Infizierten geben angesichts der geringen Durchtestung der 200-Millionen-Bevölkerung ein verzerrtes Bild. Aussagekräftiger ist der Anteil der positiven Fälle gemessen an der Zahl der durchgeführten Tests. Dieser lag im Oktober 2020 landesweit bei mehr als drei Prozent, in der Metropole Lagos hingegen bei etwa 30 Prozent. Die Zahlen berücksichtigen noch nicht die Auswirkung der #EndSARS-Proteste, bei denen von den Demonstrierenden praktisch keine Schutzvorkehrungen gegen COVID-19 getroffen worden sind. Ein Anstieg an positiven Fällen ist hauptsächlich in der Südwestzone des Landes zu beobachten. In einigen Bundesstaaten herrscht überhaupt Skepsis an der Notwendigkeit von COVID-19-Maßnahmen.

Die allgemeine Risikowahrnehmung und die Nachfrage nach Tests sind gering (ÖB 10.2020).

In Nigeria gibt es wie in anderen afrikanischen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden. Mit Stand 22.8.2021 sind in Nigeria 187.023 COVID-19 Fälle erfasst, die zu 2.268 Toten geführt haben; getestet wurden 2.648.684 Personen (Africa CDC 22.8.2021).

Bedingt durch COVID-19 sind öffentliche Versammlungen beschränkt, mit Stand September 2020 auf 50 Personen (USDOS 30.3.2021). Im ganzen Land gilt eine Ausgangssperre von Mitternacht bis 4 Uhr. Bei Flugreisen nach Nigeria ist beim Einchecken ein negativer COVID-19 PCR-Befund vorzulegen, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Zusätzlich muss vor der Abreise nach Nigeria ein weiterer COVID-19 PCR-Test gebucht und bezahlt werden, der nach der siebentägigen Selbstquarantäne durchzuführen ist. Die Befolgung der Quarantäne wird nicht kontrolliert. Vor der Abreise ist ein Formular auszufüllen (WKO 7.8.2021).

2020 wurde die Wirtschaft des Landes schwer durch den COVID-bedingten Verfall der internationalen Ölpreise getroffen. Für 2020 wird mit einem Rückgang des BIP von ca. 3,2 Prozent bei einem Wachstum der Bevölkerung in etwa gleicher Höhe gerechnet. Bereits im 4. Quartal 2020 hat die Wirtschaft jedoch wieder zu expandieren begonnen. 2021 sollte sie, getragen von Ölpreisen um 60 USD pro Fass, um 1,5 bis 2,5 Prozent real wachsen (WKO 16.6.2021).

Anm.: Diese Informationen zu COVID-19 sind zum Teil ebenfalls in den Kapiteln Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, medizinische Versorgung und Grundversorgung eingepflegt.

Quellen:

• Africa CDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (22.8.2021): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/; Zugriff 23.8.2021

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf , Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048101.html , Zugriff 26.5.2021

• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (7.8.2021): Coronavirus: Situation in Nigeria - Aktuelle Informationen und Info-Updates, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-nigeria.html, Zugriff 23.8.2021

• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (16.6.2021): Die nigerianische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html , Zugriff 23.8.2021

Politische Lage

Letzte Änderung: 01.09.2021

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2020; vgl. AA 5.12.2020; GIZ 12.2020a) mit insgesamt 774 LGAs/Bezirken unterteilt (GIZ 12.2020a; vgl. AA 16.1.2020). Jeder der 36 Bundesstaaten wird von einer Regierung unter der Leitung eines direkt gewählten Gouverneurs (State Governor) und eines Landesparlamentes (State House of Assembly) geführt (GIZ 12.2020a; vgl. AA 5.12.2020). Polizei und Justiz werden vom Bund kontrolliert (AA 5.12.2020).

Nigeria ist eine Bundesrepublik mit einem präsidialen Regierungssystem (AA 23.3.2021). Die

Verfassung vom 29.5.1999 enthält alle Elemente eines demokratischen Rechtsstaates, einschließlich eines Grundrechtskataloges, und orientiert sich insgesamt am US-Präsidialsystem.

Einem starken Präsidenten, der zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, und einem Vizepräsidenten, stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und

eine unabhängige Justiz gegenüber. In der Verfassungswirklichkeit dominiert die Exekutive in

Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und der ebenfalls direkt gewählten Gouverneure. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität und häufig auch mit undemokratischen und gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 5.12.2020).

Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die Parteizugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten.

Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 5.12.2020).

Gewählte Amtsträger setzen im Allgemeinen ihre Politik um. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird jedoch durch Faktoren wie Korruption, parteipolitische Konflikte, schlechte Kontrolle über Gebiete, in denen militante Gruppen aktiv sind, und die nicht offengelegten Gesundheitsprobleme des Präsidenten beeinträchtigt (FH 3.3.2021).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 12.2020a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten des Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 12.2020a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten. Wahlbeobachter und Vertreter der Zivilgesellschaft kritisierten außerdem Organisationsmängel bei der Durchführung der Wahlen, die Einschüchterung von Wählern sowie die Zerstörung von Wahlunterlagen an einigen Orten des Landes. Die Opposition sprach von Wahlmanipulation (GIZ 12.2020a).

Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat und Repräsentantenhaus. Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei All Progressives‘ Congress (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die People’s Democratic Party (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 5.12.2020).

Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten

durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 9.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.3.2021): Nigeria - Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844 , Zugriff 20.5.2021

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• BBC - BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3 , Zugriff 23.8.2021

• DW - Deutsche Welle (11.3.2019): EU: Nigerian state elections marred by ’systemic failings’, https://www.dw.com/en/eu-nigerian-state-elections-marred-by-systemic-failings/a-47858131 , Zugriff 20.5.2021

• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2021 , Zugriff 20.5.2021

• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2020a): Nigeria – Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html , Zugriff 1.9.2021 [Anm.: Der Link ist mit Stand 1.9.2021 nicht abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und abrufbar]

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf , Zugriff 28.5.2021

• Stears News (9.4.2020): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.com/governor/2019 , Zugriff 20.5.2021

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 01.09.2021

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 5.12.2020).

Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz (AA 5.12.2020), vorwiegend durch Boko Haram (FH 2021; vgl. UKFCDO 19.5.2021), sowie ISWA [Islamischer Staat Westafrika] und anderen Gruppen (UKFCDO 16.8.2021). Die Aktivitäten der Islamisten haben sich von den nordöstlichen Staaten in die nordwestlichen Staaten ausgeweitet (EASO 6.2021). Obwohl Präsident Buhari in den ersten Jahren seiner Regierungszeit angab, Boko Haram „technisch“ besiegt zu haben, gibt er nun [Anm.: Stand Juli 2021] zu, dass es seiner Regierung nicht gelingt, den Aufstand zu stoppen (BBC 19.7.2021).

Im Middle Belt kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern (AA 5.12.2020; vgl. FH 3.3.2021). Beide Seiten machen sich Hassreden und Gewaltverbrechen schuldig (AA 5.12.2020). Standen zu Beginn vor allem die Bundesstaaten Kaduna und Plateau im Zentrum der Auseinandersetzungen, haben sich diese südlich nach Nasarawa, Benue, Taraba und Adamawa ausgeweitet (AA 5.12.2020; vgl. EASO 6.2021). Tausende sind in dem Konflikt um knappe Ressourcen getötet worden (BBC 19.7.2021).

Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnensezessionistischen Bewegungen [u.a. IPOB - Indigenous People of Biafra] und der Staatsgewalt.

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 5.12.2020).

Zunehmend kritisch für die allgemeine Sicherheitslage in Nord- und Zentralnigeria ist die aus

den nordwestlichen Bundesstaaten Sokoto, Zamfara, Katsina und Kaduna ausgehende Bandenkriminalität (insb. Viehdiebstähle, Überfälle, Entführungen) (AA 5.12.2020; vgl. EASO 6.2021).

Bemühungen der Sicherheitskräfte haben eher zur Verdrängung der Aktivitäten in bisher nicht betroffene Gebiete als zur effektiven Verfolgung der Kriminellen geführt (AA 5.12.2020). Seit Dezember 2020 wurden mehr als 1.000 Schüler entführt und viele wurden erst wieder nach Zahlung eines hohen Lösegelds freigelassen (BBC 19.7.2021).

Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nasarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie organisierten kriminellen Banden betroffen. In den südöstlichen und südlichen Bundesstaaten Imo, Rivers, Anambra, Enugu, Ebonyi und Akwa-Ibom kommt es derzeit gehäuft zu bewaffneten Angriffen auf Institutionen staatlicher Sicherheitskräfte. Die nigerianische Polizei hat nach einem erheblichen Anstieg von Sicherheitsvorfällen am 19.5.2021 die „Operation Restore Peace“ in diesen Bundesstaaten begonnen. Dies kann lokal zu einer höheren polizeilichen Präsenz führen. In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 und im Oktober 2020 [Anm.: im Rahmen der EndSARS Proteste] forderten diese in Abuja, Lagos und anderen Städten zahlreiche Todesopfer (AA 3.8.2021).

Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020; vgl. EASO 6.2021). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden (DS 16.10.2020; vgl. EASO 6.2021). Nach Oktober 2020 wurde eine Kommission aus Nationaler Menschenrechtskommission (NHRC) und zivilgesellschaftlichen Gruppen zur Untersuchung der Polizeieinsätze während der Protestwelle eingesetzt (EASO 6.2021).

In der Zeitspanne März 2020 bis März 2021 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.888), Kaduna (1.103), Zamfara (938). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (5), Bauchi (16), Jigawa (16) (CFR 12.4.2021). Gemäß dem Global Peace Index 2020 findet sich Nigeria auf Platz 147 von 163 Ländern. Gemäß Brooking haben intensive Unsicherheit und Gewalt seit 2018 in Nigeria Bestand bzw. haben diese zugenommen (EASO 6.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.8.2021): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5 , 18.8.2021

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• BBC - BBC News (19.7.2021): Nigeria’s security crises - five different threats, https://www.bbc.com/news/world-africa-57860993 , Zugriff 18.8.2021

• BBC - BBC News (25.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys ’all resources’ amid street violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345 , Zugriff 21.2.2021

• CFR - Council on Foreign Relations (12.4.2021): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483 , Zugriff 18.8.2021

• DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte „Sars“-Polizeieinheit in Nigeria nach Protesten abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-polizeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft , Zugriff 28.10.2020

• EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Nigeria - Security Situation Version 1.1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053722/2021_06_EASO_COI_Report_Nigeria_Security_situation.pdf, Zugriff 17.8.2021

• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2021 , Zugriff 20.5.2021

• Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police-unit-accused-of-killings-and-brutality , Zugriff 28.10.2020

• UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office [Großbritannien] (16.8.2021): Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 18.8.2021

Nigerdelta

Letzte Änderung: 01.09.2021

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 5.12.2020). Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2020). Generell ist das Risiko von Entführungen in Nigeria hoch (AA 3.8.2021). Auch im Jahr 2020 wurden im Nigerdelta Zivilisten entführt um Lösegeld zu erpressen (USDOS 30.3.2021).

Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die

Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen (AA 5.12.2020). 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar’Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 5.12.2020; vgl. ACCORD 7.6.2021). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2020; vgl. ACCORD 7.6.2021). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 5.12.2020).

Die Lage bleibt aber sehr fragil (AA 5.12.2020; vgl. ACCORD 7.6.2021), da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 5.12.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, Abia, Akwa-Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers. Vergleicht man 2018 und 2019, so stieg das Konfliktrisiko und tödliche Gewalt nahm zu. 2020 führte zu einem weiteren Anstieg der Gewalt und des Konfliktrisikos, die Zahl an Todesopfern nahm hingegen ab (EASO 6.2021). Bewaffnete Kultgruppen stellen weiterhin ein Sicherheitsrisiko in der Region dar (BBC 19.7.2021).

Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 5.12.2020).

Im Jahr 2021 gingen Sicherheitskräfte zudem vermehrt gegen das Eastern Security Network

(ESN), den militanten Arm der verbotenen separatistischen Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) vor. Im Februar 2021 wurden im Bundesstaat Imo in Orlu und Orsu bei Angriffen auf ESN-Lager Helikopter und hunderte Soldaten eingesetzt. Im März 2021 kam es zu Angriffen auf Polizeibeamte und -einrichtungen seitens Mitgliedern des ESN. Soldaten töteten 16 ESN-Mitglieder in der Stadt Aba im Bundesstaat Abia. Im April 2021 führten Sicherheitskräfte in der Stadt Awomama eine Razzia im ESN-Hauptquartier durch und töteten 11 Personen (ACCORD 7.6.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.8.2021): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 18.8.2021

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation

(7.6.2021): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.net/de/laender/nigeria/themendossiers/sicherheitslage/ , Zugriff 20.8.2021

• BBC - BBC News (19.7.2021): Nigeria’s security crises - five different threats, https://www.bbc.com/news/world-africa-57860993, Zugriff 18.8.2021

• EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Nigeria - Security Situation Version 1.1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053722/2021_06_EASO_COI_Report_Nigeria_Security_situation.pdf, Zugriff 17.8.2021

• EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 26.5.2021

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf , Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048101.html, Zugriff 26.5.2021

Middle Belt inkl. Jos/Plateau

Letzte Änderung: 02.09.2021

Seit Jahrzehnten kommt es in Nigeria – vorwiegend im Middle Belt – zu religiös motivierter Gewalt zwischen vorwiegend christlichen sesshaften Bauern und vorwiegend nomadischen muslimischen Viehhirten. Ursprünglich ein Konflikt um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land, hat der Konflikt zunehmend eine ethnisch-religiöse Dimension bekommen (EASO 2.2019; vgl. AA 5.12.2020). In einigen Bundesstaaten ist die Lage der jeweiligen christlichen bzw. muslimischen Minderheit problematisch, insbesondere im Middle Belt, wo der Kampf um Land und Lebensraum zunehmend religiös aufgeladen wird (AA 5.12.2020).

Historisch waren die Beziehungen zwischen den Hirten und den sesshaften Bauerngemeinschaften harmonisch (ACCORD 7.6.2021; vgl. EASO 6.2021). Das Vieh der Hirten düngte das Land der Bauern im Austausch für Weiderechte. Jedoch nahmen die Spannungen im Laufe des vergangenen Jahrzehnts mit gewaltsamen Zwischenfällen in den zentralen und südlichen Bundesstaaten zu (ACCORD 7.6.2021). Der Konflikt begann 1999. Zu einer Zunahme der Gewalt kommt es seit 2017. Zwischen 2015 und 2018 sind schätzungsweise 3.641 Menschen aufgrund des Konflikts getötet und 300.000 intern vertrieben worden (EASO 6.2021). Insgesamt sind jedenfalls Tausende in diesem Konflikt um knappe Ressourcen getötet worden (BBC 19.7.2021).

Beide Seiten - Hirten und Bauern - machen sich Hassreden und Gewaltverbrechen schuldig.

Standen zu Beginn vor allem die Bundesstaaten Kaduna und Plateau im Zentrum der Auseinandersetzungen, haben sich diese südlich nach Nasarawa, Benue, Taraba und Adamawa ausgeweitet (AA 5.12.2020). Gemäß EASO sind die am meisten betroffenen Bundesstaaten nunmehr Benue, Plateau, Taraba, Adamawa, Kaduna, Kwara, Borno und Zamfara (EASO 6.2021).

Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba, der östl. Teil von Nasarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger, Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen sowie innerethnischen Konflikten zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie organisierten kriminellen Banden betroffen (AA 3.8.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.8.2021): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise

(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5 , 18.8.2021

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation

(7.6.2021): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.net/de/laender/nigeria/themendossiers/sicherheitslage/, Zugriff 20.8.2021

• BBC - BBC News (19.7.2021): Nigeria’s security crises - five different threats, https://www.bbc.com/news/world-africa-57860993 , Zugriff 18.8.2021

• EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Nigeria - Security Situation Version 1.1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053722/2021_06_EASO_COI_Report_Nigeria_Security_situation.pdf, Zugriff 17.8.2021

• EASO - European Asylum Support Office (2.2019): Country Guidance: Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2004112/Country_Guidance_Nigeria_2019.pdf, Zugriff 26.5.2021

Nordnigeria – Boko Haram

Letzte Änderung: 01.09.2021

Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit Tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 23.3.2021). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) [alternativ: ISWAP - Islamic State West Africa Province] und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 6.2021).

Die Regierungen von Nigeria, Niger, Tschad und Kamerun bezeichnen jedoch beide Gruppen

als Boko Haram, mit der Differenzierung „Shekau-Fraktion“ [JAS, geläufiger Boko Haram] und

„al-Barnawi-Fraktion“ [Anm.: ISIS-WA] (ACCORD 7.6.2021). Es wird geschätzt, dass JAS 1.500-

2.000 Mitglieder hat, während ISIS-WA 3.500-3.000 Mitglieder hat, militärisch stärker ist und

sein Einflussgebiet erweitert (EASO 6.2021).

Ursprünglich hatte Boko Haram im Nordosten Nigerias versucht, die Macht zu erringen. Der

Konflikt hat sich jedoch inzwischen auf den Tschad und die anderen Nachbarländer Kamerun

und Niger ausgeweitet. Bei Angriffen und Anschlägen der Miliz wurden in den vergangenen

Jahren 35.000 Menschen getötet. Nach UN-Angaben sind fast zwei Millionen Menschen vor der islamistischen Gewalt in Nigeria auf der Flucht (Zeit 18.4.2020). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 5.12.2020). Diese Gruppen sind auch weiterhin für Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 24.6.2020).

Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 7.6.2021). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v.a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg“ geführt (ÖB 10.2020). Die Aufständischen konnten aus dem Großteil der zuvor von ihnen kontrollierten Gebiete vertrieben werden. Berichten zufolge änderten die Aufständischen ihre Taktik in Richtung asymmetrische Kriegsführung (ACCORD 7.6.2021) wie etwa die ursprüngliche Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschläge oft auch durch Attentäterinnen (ÖB 10.2020) sowie Entführungen, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung von Kindern und Jugendlichen, Selbstmordanschläge und sexuelle Versklavung (ACCORD 7.6.2021). Insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Nordosten nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 wieder verschlechtert. Nachdem sich das nigerianische Militär im Sommer 2019 aus der Fläche in wenige größere Städte zurückgezogen hat, ist humanitären Helfern der Zugang außerhalb dieser Städte nur per Hubschrauber oder gar nicht möglich. Angriffe der bewaffneten Gruppen auf die Zivilbevölkerung und wiederholt auch auf humanitäre Helfer halten an (AA 5.12.2020). Obwohl Buhari in den ersten Jahren seiner Regierungszeit angab, Boko Haram „technisch“ besiegt zu haben, gibt er nun [Anm.: Stand Juli 2021] zu, dass es seiner Regierung nicht gelingt, den Aufstand zu stoppen (BBC 19.7.2021). Und auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 5.12.2020).

In den Jahren 2019 und 2020 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch (ACCORD 7.6.2021; vgl. USDOS 30.3.2021, USDOS 11.3.2020). Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). Im Jahr 2020 verübte Boko Haram im Nordosten weiterhin schwere Menschenrechtsverbrechen, darunter die Tötung und Entführung von Zivilisten. Über 420 Zivilisten wurden bei etwa 45 Angriffen getötet. Viele der Angriffe erfolgten im Bundesstaat Borno, aber auch in den Bundesstaaten Adamawa und Yobe. Es kam im Nordosten auch zu Angriffen gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen (ACCORD 7.6.2021; vgl. USDOS 11.3.2020, AI 7.4.2021).

Die Gewalt im Zusammenhang mit Boko Haram ist also im Jahr 2020 weiter eskaliert (EASO 6.2021). Im Jänner 2020 kamen 20 IDPs bei einem Angriff von Boko Haram auf ein UN-Gebäude ums Leben (HRW 13.1.2021). ISIS-WA hat im Juni 2020 bei mehreren Angriffen in Borno mehr als 120 Menschen innerhalb einer Woche getötet (AP 26.6.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Auch 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen von Boko Haram und ISIS-WA mit Todesopfern unter Sicherheitskräften und Zivilisten, v.a. im Bundesstaat Borno, aber auch in Yobe und Adamawa (ACCORD 7.6.2021). In diesen drei Bundesstaaten sind mittlerweile 10,6 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen (AA 5.12.2020). Ca. zwei Millionen Binnenvertriebene leben in überlasteten Camps oder aufnehmenden Gemeinden, die selbst hilfsbedürftig sind (AA 5.12.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). 300.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (USDOS 30.3.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.3.2021): Nigeria - Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/innenpolitik/205844 , Zugriff 20.5.2021

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation

(7.6.2021): ecoi.net-Themendossier zu Nigeria: Sicherheitslage, https://www.ecoi.net/de/laender/nigeria/themendossiers/sicherheitslage/, Zugriff 20.8.2021

• AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty Report, Nigeria, 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048597.html , Zugriff 27.5.2021

• AI - Amnesty International (8.4.2020): Amnesty Report, Nigeria, 2019, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/nigeria-nigeria-2019#section-11669032, Zugriff 27.5.2021

• AP - The Associated Press (26.6.2020): In Nigeria, an Islamic State-linked group steps up attacks, https://apnews.com/article/d72560593efce0a51e15190c95ac3705, Zugriff 27.5.2021

• AU-EU - African Union-EU Partnership (o.D.): Multinational Joint Task Force (MNJTF) against Boko Haram, https://www.africa-eu-partnership.org/en/projects/multinational-joint-task-force-mnjtf-against-boko-haram, Zugriff 27.5.2021

• BBC - BBC News (19.7.2021): Nigeria’s security crises - five different threats, https://www.bbc.com/news/world-africa-57860993 , Zugriff 18.8.2021

• EASO - European Asylum Support Office (6.2021): Nigeria - Security Situation Version 1.1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053722/2021_06_EASO_COI_Report_Nigeria_Security_situation.pdf, Zugriff 17.8.2021

• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043506.html , Zugriff 27.5.2021

• HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022679.html , Zugriff 27.5.2021

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf, Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048101.html , Zugriff 26.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 – Chapter 1 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032436.html , Zugriff 27.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 27.5.2020

• Zeit - Zeit Online (18.4.2020): Tschad: Mutmaßliche Boko Haram-Kämpfer tot in Gefängnis gefunden, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/boko-haram-kaempfer-gefaengnis-tschad-tot?utm_referrer=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2F , Zugriff 27.5.2021

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 02.09.2021

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 5.12.2020; ÖB 10.2020). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 5.12.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2020). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 5.12.2020). In Militärgerichten finden nur Verfahren gegen Militärangehörige statt (USDOS 30.3.2021).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 5.12.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law“ oder „Customary Law“) durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte“ neben „Common Law“ und „Customary Courts“ geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2020).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 5.12.2020; vgl. FH 3.3.2021; ÖB 10.2020; USDOS 30.3.2021). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 5.12.2020; vgl. USDOS 30.3.2021; FH 3.3.2021). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 30.3.2021).

Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2020; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 5.12.2020; vgl. FH 3.3.2021; USDOS 30.3.2021; ÖB 10.2020; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 3.3.2021).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 5.12.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren in angemessener Zeit, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet, v.a. aufgrund von Personalmangel (USDOS 30.3.2021). V.a. das Recht auf ein zügiges Verfahren wird jedoch kaum gewährleistet. Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 5.12.2020).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 5.12.2020). Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 5.12.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 5.12.2020).

Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und –fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf , Zugriff 28.5.2021

• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2021 , Zugriff 20.5.2021

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf , Zugriff 28.5.2021

• UKHO - United Kingdom Home Office [Großbritannien] (3.2019): Country Policy and Information Note - Nigeria: Actors of protection, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/794316/CPIN_-_NGA_-_Actors_of_Protection.final_v.1.G.PDF, Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048101.html, Zugriff 26.5.2021

Scharia

Letzte Änderung: 02.09.2021

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf

mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 5.12.2020).

Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen. Bei den Scharia-Gerichten kommt die Bedingung hinzu, dass beide Parteien Muslime sein müssen (ÖB 10.2020; vgl. USDOS 12.5.2021). Mindestens ein Bundesstaat, Zamfara, schreibt vor, dass Zivilverfahren, bei denen alle Prozessparteien Muslime sind, vor Scharia-Gerichten verhandelt werden, wobei die Möglichkeit besteht, gegen jede Entscheidung beim Zivilgericht Berufung einzulegen. Nicht-Muslime haben die Möglichkeit, ihre Fälle vor den Scharia-Gerichten verhandeln zu lassen, wenn sie dies wünschen (USDOS 12.5.2021). Nicht-Muslime haben aber jedenfalls das Recht auf ein Verfahren vor einem säkularen Gericht (BS 2020). Die Statuten der Scharia schreiben schwere Strafen für Vergehen im Bereich der Pressefreiheit vor. Frauen sind durch die Scharia ebenfalls stark benachteiligt (FH 3.3.2021).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, sodass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung

ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der

Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Dabei erregten Ermittlungen und Anklagen wegen sogenannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 5.12.2020).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um (USDOS 30.3.2021; vgl. BS 2020). Im Jahr 2020 gab es keine Berichte über

ausgeführte Prügelstrafen (USDOS 11.3.2020). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene

eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 5.12.2020). Urteile von Scharia-Gerichten

können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 30.3.2021).

Vier Staaten mit erweitertem Scharia-Geltungsbereich (Zamfara, Niger, Kaduna, Kano) haben

private Gruppen, wie die Hisbah, zur Rechtsdurchsetzung ermächtigt und gewähren hierfür

staatliche Zuschüsse (AA 5.12.2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 28.5.2021

• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Nigeria, https://freedomhouse.org/country/nigeria/freedom-world/2021, Zugriff 20.5.2021

• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052064/NIGR_%C3%96B_BERICHT_2020_10.pdf, Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2051592.html, Zugriff 28.5.2021

• USDOS - U.S. Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048101.html, Zugriff 26.5.2021

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 02.09.2021

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 350.000-360.000 Mann starken (Bundes-)Polizei [Anm.: National Police Force - NPF], die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 5.12.2020; vgl. EASO 6.2021). Obwohl in absoluten Zahlen eine der größten Polizeitruppen der Welt, liegt die Rate von Polizeibeamten zur Bevölkerungszahl von 1:600 deutlich unter der von der UN empfohlenen Rate von 1:450 (EASO 6.2021). Die nigerianische Polizei ist zusammen mit anderen Bundesorganisationen die wichtigste Strafverfolgungsbehörde.

Das Department of State Service (DSS), via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Die nigerianischen Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die äußere Sicherheit zuständig, haben aber auch einige Zuständigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit (USDOS 30.3.2021). Die nigerianischen Streitkräfte umfassen 2021 schätzungsweise 135.000 Mann, davon 100.000 in der Armee, 20.000 Marine und Küstenwache, sowie 15.000 in der Luftwaffe.

Paramilitärische Gruppen werden auf eine Gesamtstärke von 80.000 geschätzt (EASO 6.2021). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 5.12.2020). Alle Sicherheitsorgane (Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten, die so genannten Rapid Response Squads) werden neben der Polizei auch im Innern eingesetzt (AA 5.12.2020). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig (ÖB 10.2020).

Der NDLEA wird im Vergleich zu anderen Behörden mit polizeilichen Befugnissen eine gewisse Professionalität attestiert. In den Zuständigkeitsbereich dieser Behörde fällt Dekret 33, welches ein zusätzliches Verfahren für im Ausland bereits wegen Drogendelikten verurteilte nigerianische Staatsbürger vorsieht. Dagegen zeichnen sich die NPF und die Mobile Police (MOPOL) durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2020). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet (AA 5.12.2020). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 30.3.2021).

Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 30.3.2021). Es gab allerdings kleinere Erfolge im Bereich der Reorganisation von Teilen des Militärs und der Polizei (BS 2020). Die Regierung verwendete regelmäßig Disziplinarkommissionen und andere Mechanismen um Verbrechen während des Dienstes durch Beamte zu untersuchen, aber die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden oft nicht veröffentlicht. Die Polizei ist korruptionsanfällig und sieht sich Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, operiert jedoch weitgehend in Straffreiheit (USDOS 30.3.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.12.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2042796/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2020%29%2C_05.12.2020.pdf, Zugriff 17.5.2021

• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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