TE Bvwg Beschluss 2017/9/28 W209 2165160-1

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Veröffentlicht am 28.09.2017
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Entscheidungsdatum

28.09.2017

Norm

B-VG Art133 Abs4
VOG §1
VOG §8
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W209 2165160-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Reinhard SEITZ als Vorsitzenden und den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer hinsichtlich der Beschwerde der XXXX, geb. XXXX, wohnhaft in XXXX, XXXX, vertreten durch Dr. Andrea Haninger-Limburg, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Maria Theresienstraße 49, gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Salzburg, vom 07.06.2017, OB: 810-601991-007, betreffend Abweisung des Antrages vom 07.02.2017 auf Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) beschlossen:

A)

Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zu Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX, eine am XXXX geborene niederländische Staatsangehörige, (in der Folge die Beschwerdeführerin) stellte am 07.02.2017, vertreten durch ihren Vater, einen Antrag auf Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung nach den Bestimmungen des VOG. Begründend brachte sie vor, sie sei am 25.11.2016 von zu Hause weggelaufen und zu einem bereits volljährigen Bekannten gefahren, wo es zu sexuellen Handlungen gekommen sei. Sie sei deshalb seit Dezember 2016 bei XXXX in psychotherapeutischer Behandlung. Ein Kostenzuschuss von Seiten der Krankenkasse sei derzeit noch nicht bekannt. Dem Antrag war ein Schreiben der genannten Psychotherapeutin beigelegt, in dem bestätigt wird, dass die Beschwerdeführerin bei ihr zur Aufarbeitung der Trauma-Folgestörung aufgrund erzwungener sexueller Handlungen in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung sei.

2. Zur Überprüfung des Anspruches wurde von der belangten Behörde die Übermittlung des Strafaktes vom Landesgericht Innsbruck erbeten. Aus diesem geht hervor, dass die im Tatzeitpunkt erst 13-jährige Beschwerdeführerin mit dem volljährigen Täter zweimal einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt habe, wodurch der Tatbestand des § 206 Abs. 1 StGB (schwerere sexueller Missbrauch von Unmündigen) verwirklicht worden sei.

3. Am 16.05.2017 teilte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin im Rahmen eines Parteiengehörs gemäß § 45 Abs. 3 AVG mit, dass das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als mildernde Strafbemessungsgründe anführe, dass die Beschwerdeführerin selbst wesentlich zur Tat beigetragen habe. Es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin besonders nachlässig und leichtsinnig gehandelt und die nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt völlig außer Acht gelassen habe, als sie den sexuellen Handlungen wissentlich, dass der Täter sich dadurch strafbar mache, zugestimmt habe.

4. Am 30.05.2017 nahm der Vater der Beschwerdeführerin zum Parteiengehör schriftlich Stellung und legte ein Schreiben der behandelnden Psychotherapeutin vom gleichen Tag vor, aus dem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, da sie vom Täter zu den sexuellen Handlungen gedrängt worden sei, wodurch ihr massives psychisches Leid widerfahren sei. Aus psychotherapeutischer Sicht habe sich die Minderjährige aufgrund von Überforderung und kindlicher Unerfahrenheit in diese Lage manövriert. Schließlich sei von der Minderjährigen auch selbst Anzeige erstattet worden. Es werde daher zumindest um Kostenübernahme für die bisherige psychotherapeutischer Behandlung im Ausmaß von ? 1.920 ersucht.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag auf Übernahme der Kosten für die psychotherapeutische Krankenbehandlung gemäß § 1 Abs. 1 VOG mit der Begründung ab, dass es sich bei dem schädigenden Ereignis um einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt habe und die Beschwerdeführerin gewusst habe, dass der Täter sich dadurch strafbar mache. Sie habe daher besonders nachlässig gehandelt und die nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt völlig außer Acht gelassen, indem sie Küsse des Täters erwidert und den sexuellen Handlungen zugestimmt habe, wodurch sie den Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG verwirklicht habe. Auch eine kausale Gesundheitsschädigung lasse sich bereits aufgrund der Aktenlage verneinen, da es bereits mehrere Suizidversuche gegeben habe.

6. Gegen den Bescheid erhob die bevollmächtigte Vertreterin der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin brachte sie vor, dass der Täter die Naivität, Unerfahrenheit und die besondere Lebenssituation der Beschwerdeführerin ausgenützt habe. Die Beschwerdeführerin habe sich lediglich aus Überforderung und kindlicher Unerfahrenheit in diese Lage gebracht. Darüber hinaus habe die psychische Verletzlichkeit der Beschwerdeführerin, die sich in vier Suizidversuchen manifestiere, dazu beigetragen, dass sie vom Täter in massiver und unzulässiger Weise ausgenützt worden sei. Die strafrechtlichen Bestimmungen würden davon ausgehen, dass an einem Kind keine sexuellen Handlungen vorgenommen werden dürften, sei es mit oder ohne Zustimmung des Kindes. Das Gesetz berücksichtige die fehlende Reife des Kindes. Kein Täter könne sich damit entschuldigen, dass ein minderjähriges Opfer ihn verführt oder den sexuellen Handlungen zugestimmt habe. Auch § 1328 ABGB anerkenne, dass es bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen immer zu einer schweren seelischen Beeinträchtigung komme und deshalb eine angemessene Entschädigung für die erlittene Beeinträchtigung zu leisten sei. Bei einem 13-jährigen Kind, das durch mehrfachen Beischlaf missbraucht worden sei, müsse jedenfalls von einer starken psychischen Beeinträchtigung ausgegangen werden. Eine Einwilligung der Minderjährigen sei bedeutungslos. Daher sei sämtlichen Ausführungen des Bescheides, die auf eine besondere Nachlässigkeit und Leichtsinn abzielen würden, nicht zu folgen. Die psychotherapeutische Krankenbehandlung sei notwendig, da es ab Spätherbst zu Trauma-Folgestörungen in Form von Überregungszeichen, Flashbacks und einschränkendem Vermeidungsverhalten gekommen sei.

7. Am 24.07.2017 einlangend legte die belangte Behörde die Beschwerde samt den bezughabenden Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin wurde am XXXX geboren und ist niederländische Staatsangehörige.

In der Nacht auf den 26.11.2016 und am folgenden Morgen, sohin im Alter von 13 Jahren, kam es zwischen der Beschwerdeführerin und einem volljährigen Bekannten zweimal zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr.

Die Tat wurde im Inland begangen.

Der Täter wurde dafür gemäß § 206 Abs. 1 StGB wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen rechtskräftig bestraft.

Die Beschwerdeführerin hat zu der Tat wesentlich beigetragen, indem sie dem Geschlechtsverkehr zugestimmt hat.

2. Beweiswürdigung

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, der Antragstellung und dem schädigenden Ereignis stehen aufgrund der Aktenlage als unstrittig fest.

Soweit die Beschwerde vorbringt, dass die Beschwerdeführerin vom Täter bedrängt worden sei, und damit in den Raum stellt, dass der Geschlechtsverkehr nicht einvernehmlich erfolgt sein könnte, steht dem das Strafurteil vom 11.04.2017 entgegen, in dem - gestützt auf die übereinstimmenden Angaben der Beschwerdeführerin und des Täters im Zuge ihrer polizeilichen Einvernahme am 26.11.2016 - bei der Strafbemessung berücksichtigt wurde, dass das Opfer wesentlich zur Tat beigetragen hat.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG), BGBI. 12013/10, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 9d Abs. 1 Verbrechensopfergesetz (VOG) entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz das Bundesverwaltungsgericht durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Es liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. 12013/33 i.d.F. BGBI. 12013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes AgrVG, BGBl, Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Die im Tatzeitpunkt unmündige Beschwerdeführerin, eine niederländische Staatsangehörige, wurde in der Nacht auf den 26.11.2016 und am folgenden Morgen Opfer eines schweren sexuellen Missbrauches von Unmündigen gemäß § 206 Abs. 1 StGB und stellte am 07.02.2017, vertreten durch ihren gesetzlichen Vertreter, einen Antrag auf Übernahme der hierdurch entstandenen Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung nach den Bestimmungen des VOG.

Gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 VOG haben österreichische Staatsbürger Anspruch auf Hilfe, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind.

Gemäß § 1 Abs. 6 Z 1 VOG ist Unionsbürgern in gleicher Weise wie österreichischen Staatsbürgern Hilfe zu leisten, wenn die Handlung im Inland begangen wurde.

Die vorliegende, mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte vorsätzliche Straftat wurde im Inland begangen. Als Unionsbürgerin hätte die Beschwerdeführerin somit grundsätzlich Anspruch auf Hilfeleistungen nach dem VOG.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag auf Übernahme der Kosten für die psychotherapeutische Krankenbehandlung u.a. mit der Begründung ab, dass es sich bei dem schädigenden Ereignis um einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt habe und die Beschwerdeführerin gewusst habe, dass der Täter sich dadurch strafbar mache. Die Beschwerdeführerin habe daher besonders nachlässig gehandelt und die nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt völlig außer Acht gelassen, wodurch sie den Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG verwirklicht habe.

Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG ist von den Hilfeleistungen ausgeschlossen, wer sich ohne anerkennenswerten Grund grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt hat, Opfer eines Verbrechens zu werden.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG (vgl. VwGH 27.05.2014, 2011/11/0025) liegt grobe Fahrlässigkeit dann vor, wenn der Schaden als wahrscheinlich vorhersehbar war, wenn das Versehen mit Rücksicht auf seine Schwere oder Häufigkeit nur bei besonderer Nachlässigkeit und nur bei besonders nachlässigen oder leichtsinnigen Menschen vorkommt sowie nach den Umständen die Vermutung des "bösen Vorsatzes" naheliegt. Dabei ist auch das Element der schweren subjektiven Vorwerfbarkeit einzubeziehen: Zum Umstand, dass ein Verstoß objektiv ohne Zweifel als besonders schwer anzusehen ist, muss hinzutreten, dass er auch subjektiv schwerstens vorwerfbar ist. Bei der Beurteilung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit sind stets die Umstände des Einzelfalles heranzuziehen (Hinweis Beschlüsse OGH 12.09.2013, 10 Ob 41/13x, OGH 09.09.2008, 10 Ob 61/08f).

Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage (RV 40 BglNR 13. GP, S. 12) begründen den Ausschluss von Hilfeleistungen damit, dass staatliche Hilfe solchen Personen nicht gewährt werden soll, die ihre Lage gewissermaßen selbst "verschuldet" haben und somit nicht unterstützungswürdig sind. Dabei wird beispielhaft darauf verwiesen, dass der Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG "häufig auf Gewalttaten zwischen Berufsverbrechern" zutreffen wird, nicht jedoch, wenn die vom Verbrechen betroffene Person "aus einem von der Rechtsordnung anerkannten Grund" gehandelt hat.

Motiv für die Heilfürsorge gemäß § 2 Z 2 VOG ist der bürgerlich-rechtliche Anspruch auf Ersatz der Heilungskosten des Verletzten gegen den Schädiger (vgl. RV 40 BglNR 13. GP, S. 10). Somit ist für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Opfer grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt hat, sinngemäß das Schadenersatzrecht des ABGB heranzuziehen.

Die Beschwerdeführerin war im Tatzeitpunkt 13 Jahre alt. Dementsprechend ist im vorliegenden Fall die zivilrechtliche Deliktsfähigkeit zu berücksichtigen, die im Bereich des Schadenersatzrechts - übereinstimmend mit der strafrechtlichen (§ 4 Abs. 1 JGG) - grundsätzlich (erst) mit der Mündigkeit beginnt. Unmündigen kann ein schadenersatzrechtliches Verschulden nur nach den Regeln der §§ 1308 bis 1310 zur Last gelegt werden. Das gilt auch für ein vom Unmündigen zu verantwortendes Mitverschulden (OGH 27.01.2011, 2 Ob 228/10h).

Ein Mitverschulden ist dem Deliktsunfähigen dann anzulasten, wenn er in concreto sein Fehlverhalten in eigenen Angelegenheiten einsehen und danach handeln konnte. Es ist, gemessen an dem eines in gleicher Situation stehenden Vollsinnigen, jedoch milder zu beurteilen (Rummel, ABGB 3, § 1310 ABGB Rz 14).

Andererseits ist im vorliegenden Fall auch zu berücksichtigen, dass § 206 StGB die sexuelle Integrität Unmündiger umfassend schützt und unabhängig davon eingreift, ob der Unmündige sein Fehlverhalten einsehen kann, weil der Gesetzgeber unwiderleglich davon ausgeht, dass Unmündigen die sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit fehlt (Hinterhofer, Salzburger Kommentar, § 206 StGB Rz 4).

Das schließt zwar nicht aus, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin grundsätzlich zu einem schadenersatzrechtlichen Mitverschulden führen kann (ein solches wäre im gegenständlichen Fall gegenüber dem Schädiger aber jedenfalls gemäß § 1308 ABGB zu verneinen, da Letzterer das Verhalten der Geschädigten ja gleichermaßen mitveranlasst hat; vgl. Rummel, ABGB 3 § 1310 ABGB Rz 20). In Anbetracht dessen, dass der Gesetzgeber den oben zitierten Gesetzesmaterialen zufolge aber offenbar dann, wenn von der Rechtsordnung besonders schützenswerte Interessen betroffen sind, den Ausschlussgrund nicht angewendet wissen möchte und ein Mitverschulden von Deliktsunfähigen im Rahmen des Schadenersatzrechtes nicht so schwer wie jenes von Erwachsenen zu beurteilen ist, ist der Beschwerdeführerin die Einwilligung zum Geschlechtsverkehr nicht in einem solchen Maße ("schwerstens"; s. oben VwGH 27.05.2014, 2011/11/0025) subjektiv vorwerfbar, dass ihr von vornherein die "Unterstützungswürdigkeit" iSd VOG abgesprochen werden kann.

Somit kann der Beschwerdeführerin nicht angelastet werden, dass sie sich der Gefahr ausgesetzt hat, Opfer des Verbrechens zu werden, weswegen das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG im vorliegenden Fall zu verneinen ist.

Anhaltspunkte für das Vorliegen anderer Ausschussgründe liegen nicht vor und wurden von der belangten Behörde auch nicht behauptet.

Um den vorliegenden Antrag auf Gewährung von Heilfürsorge bewilligen zu können, muss jedoch mit der nach dem VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die erlittene Gesundheitsschädigung mit dem schädigenden Ereignis in ursächlichem Zusammenhang steht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist für die Gewährung von Heilfürsorge gemäß § 2 Z 2 VOG nur die Wahrscheinlichkeit, nicht die bloße Möglichkeit einer Verursachung der Gewissheit gleichgestellt. Für die Auslegung des Begriffes "wahrscheinlich" ist der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend. Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen-wissenschaftlichen Lehrmeinung erheblich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. u.a. VwGH zu § 4 KOVG 19.10.2005, 2002/09/0132; VwGH 15.12.1994, 94/09/0142, mit Hinweis E 18.2.1988, 87/09/0250).

Die belangte Behörde führte dazu aus, dass die Beschwerdeführerin bereits vor dem schädigenden Ereignis mehrere Suizidversuche begangen habe und ihr psychisches Leiden daher offensichtlich nicht auf das schädigende Ereignis zurückzuführen sei.

Damit verkennt die jedoch, dass im Lichte der o.a. Judikatur für die Beurteilung der Kausalität zunächst ein - auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin basierendes - medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen gewesen wäre, welches die Frage, ob das schädigende Ereignis für die erlittene Gesundheitsschädigung ursächlich ist, in medizinischer Hinsicht nachvollziehbar, schlüssig und widerspruchsfrei klärt, um in weiterer Folge rechtlich beurteilen zu können, ob die nach dem VOG erforderliche Wahrscheinlichkeit einer kausalen Gesundheitsschädigung gegeben ist.

Durch die Unterlassung der Einholung eines derartigen Gutachtens hat die belangte Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt nur sehr unzureichend festgestellt und damit keine für eine Entscheidung in der Sache nach § 28 Abs. 2 VwGVG ausreichenden "brauchbaren Ermittlungsergebnisse" geliefert, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung lediglich zu vervollständigen wären. Dementsprechend ist das Bundesverwaltungsgericht dazu berechtigt, von einer Entscheidung in der Sache abzusehen und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG an die belangte Behörde zurückzuverweisen (vgl. zuletzt VwGH 09.09.2015, Ra 2014/04/0031).

Zu B) Zulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil - soweit ersichtlich - eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Anwendung des Ausschlussgrundes des § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG auf deliktsunfähige minderjährige Kinder iSd § 176 ABGB fehlt.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Ermittlungspflicht Kassation Kausalität mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2017:W209.2165160.1.00

Im RIS seit

10.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

21.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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