Entscheidungsdatum
25.07.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I422 2200211-1/27E
I422 2200204-1/25E
I422 2200208-1/32E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER als Einzelrichter über die Beschwerden des XXXX , geb. XXXX (Erstbeschwerdeführer); der XXXX , geb. XXXX (Zweitbeschwerdeführerin) und des minderjährigen XXXX , geb. XXXX (Drittbeschwerdeführer), alle StA. Irak und vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom 25.05.2018, Zl. XXXX , Zl. XXXX und Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.05.2021 zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt III. der angefochtenen Bescheide jeweils wie folgt zu lauten hat:
„Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 AsylG 2005 wird Ihnen nicht erteilt.“.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei der Erstbeschwerdeführer im Zuge seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes hinsichtlich seiner Fluchtgründen ausführte, dass es im Irak überall Explosionen gebe. Es habe auch keinen Strom und keine Arbeit gegeben. Sonst habe er keine Fluchtgründe. Die Zweitbeschwerdeführerin begründete die Antragsstellung für sich und ihren Sohn damit, dass wegen des Krieges die finanzielle Situation der Beschwerdeführer schlecht sei. Es sei alles zerstört worden. Sonst habe sie keine Fluchtgründe.
2. Am 07.03.2018 fanden durch die belangte Behörde die niederschriftlichen Einvernahmen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin statt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er im Jahr 1985 bis 1986 Mitglied in der BAATH Partei gewesen sei. Zwischen 1986 und 1991 habe er sich in Haft befunden, weil man ihm vorgeworfen habe, der ALDAWAA Partei anzugehören. Im Jahr 1991 habe er einen Freigang genutzt um unterzutauchen. Er habe bis zum Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 versteckt leben müssen und sei ständig auf der Flucht gewesen. Sechs Monate vor seiner Ausreise sei der Erstbeschwerdeführer von schiitischen Milizen aufgrund seiner damaligen Parteimitgliedschaft zur BAATH Partei mit dem Tod bedroht worden. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahme im Wesentlichen vor, dass sie und der Drittbeschwerdeführer die gleichen Fluchtgründe haben wie der Erstbeschwerdeführer. Sie haben schon ihr gesamtes Leben im Irak mit Bedrohungen und Problemen seitens der Regierung verbracht und habe es keine Sicherheit mehr im Irak gegeben. Sie haben schon immer ausreisen wollen, jedoch nie genug Geld für die Schleppung besessen. Nachdem sie gesehen haben, dass der Weg nach Europa offen gewesen sei, seien sie geflüchtet. Die Milizen, die in der neuen Regierung vertreten seien, seien gegen ehemaligen BAATH Mitglieder gewesen. Sechs Monate vor der Ausreise seien auch sie bedroht worden, woraufhin zunächst der ältere Sohn vorgeschickt worden sei. Im Anschluss daran haben auch sie das Land verlassen.
3. Mit den verfahrensgegenständlichen Bescheiden vom 25.05.2018 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde ihnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für eine freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer wurde mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
4. Gegen die Bescheide erhoben die Beschwerdeführer mittels Schriftsatz ihrer Rechtsvertretung vom 19.06.2018 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
5. Mit Schriftsatz vom 29.06.2018, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 05.07.2018, legte die belangte Behörde den Verwaltungsakt samt der Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vor.
6. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Abteilung L524 abgenommen und an die Abteilung I404 zugewiesen. In weiterer Folge wurde mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 19.09.2019 die gegenständliche Rechtssache der Abteilung I404 abgenommen und an die Abteilung I422 neu zugewiesen.
7. Am 26.05.2021 fand durch das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit sämtlicher Beschwerdeführer, ihrer Rechtsvertretung und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache statt, in dessen Rahmen mit den Beschwerdeführern die gegenständliche Beschwerdesache erörtert wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
Die Verfahren der Beschwerdeführer sind gemeinsam als Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG zu führen.
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind volljährige irakische Staatsangehörige, miteinander verheiratet und Eltern des minderjährigen, irakischen Drittbeschwerdeführers. Sie sind alle Angehörige der Volksgruppe der Araber sowie Angehörige der schiitisch-muslimischen Glaubensgemeinschaft. Ihre Identitäten stehen fest.
Der Erstbeschwerdeführer leidet an Diabetes Mellitus Typ 2 und einer psychischen Beeinträchtigung in Form von Panikattacken und leichten depressiven Episoden. Eine chronische Mittelohrentzündung rechtsseitig (Mittelohrcholesteatom) wurde im Bundesgebiet operativ saniert und befindet sich der Erstbeschwerdeführer diesbezüglich in ärztlicher Kontrollbehandlung. Er befindet sich hinsichtlich seiner übrigen physischen und psychischen Leiden in ärztlicher und therapeutischer Behandlung. Er ist erwerbs- und arbeitsfähig. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an Bluthochdruck und einer Fehlstellung der Wirbelsäule. Bezüglich ihres Bluthochdruckes ließ sich die Zweitbeschwerdeführerin bereits in ihrem Herkunftsstaat behandeln. Sie nimmt im Bundesgebiet regelmäßige ärztliche Behandlungen in Anspruch. Eine therapeutische Behandlung ihrer Wirbelsäulenprobleme war pandemiebedingt bislang noch nicht möglich. Die Zweitbeschwerdeführerin ist erwerbs- und arbeitsfähig. Der Drittbeschwerdeführer leidet an keinen Erkrankungen, ist gesund, arbeitsfähig und im erwerbsfähigen Alter.
Die Beschwerdeführer stammen aus der irakischen Hauptstadt Bagdad, wo sie bis zu ihrer Ausreise im Dezember 2015 in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. Die Beschwerdeführer lebten bis zu ihrer Ausreise in einem Haus im Stadtviertel XXXX . Es handelte sich dabei um ein Haus, dass sich im Eigentum der Familie des Erstbeschwerdeführers befand.
Der Erstbeschwerdeführer besuchte sechs Jahre lang die Grundschule und drei Jahre lang die Mittelschule. Er ging danach auf eine Polizeischule, die er nach einem Jahr abschloss. Eine weiterführende Offiziersschule brach er nach rund drei Monaten ab. Der Beschwerdeführer arbeitete in Anschluss daran rund ein Jahr lang als Polizist. Darüber hinaus verfügt er über Berufserfahrung als Taxifahrer, Koch, Möbel- sowie Uhrenverkäufer. Durch seine beruflichen Tätigkeiten erwirtschaftete der Erstbeschwerdeführer für sich und seine Familie den Lebensunterhalt. Die letzten zwei Jahre vor seiner Ausreise ging der Erstbeschwerdeführer keiner regelmäßigen und durchgehenden Beschäftigung mehr nach und sicherte er sich seinen Unterhalt durch seinen älteren Sohn namens H[...] und aus den finanziellen Zuwendungen seitens seiner Mutter.
Die Zweitbeschwerdeführerin verfügt über eine fünfjährige Grundschulbildung. Sie verfügt über keine Berufsausbildung und kümmerte sich in ihrem Herkunftsstaat um das Haus und die Kinder. Der Erstbeschwerdeführer kam für Ihren Lebensunterhalt auf.
Der Drittbeschwerdeführer besuchte im Irak vier Jahre lang die Schule und kamen der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin für seinen Lebensunterhalt auf.
Die Beschwerdeführer verfügen im Herkunftsstaat noch über familiäre Anbindungen. Eine Tochter der Erst- und Zweitbeschwerdeführer lebt mit ihrer Familie in Bagdad. Sie gehören dort der Mittelschicht an und es geht ihnen gut. Eine weitere Tochter der Erst- und Beschwerdeführer lebt im Libanon. Vom Erstbeschwerdeführer leben zudem seine Mutter, vier Brüder und eine Schwester nach wie vor im Bagdad. Ein Bruder des Erstbeschwerdeführers ist in der Türkei und ein Bruder des Erstbeschwerdeführer lebt in Schweden. Von der Zweitbeschwerdeführerin leben noch deren Mutter, drei Brüder sowie drei Schwestern in Bagdad. Ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin ist in der Türkei aufhältig. Den im Irak aufhältigen Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin geht es ebenfalls gut. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführer stehen mit ihren im Irak aufhältigen Familienangehörigen in aufrechtem und regelmäßigen Kontakt.
Am 18.12.2015 reisten die Beschwerdeführer gemeinsam legal aus dem Irak aus. Sie flogen mit dem Flugzeug von Bagdad nach Istanbul und reisten über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Kroatien nach Slowenien. Von dort aus reisten die Beschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein, wo sie am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten. Sind seit (spätestens) 31.12.2015 im Bundesgebiet aufhältig und seit dem 05.02.2016 durchgehend melderechtlich erfasst.
Alle drei Beschwerdeführer leben im Bundesgebiet in einem gemeinsamen Haushalt. Der Drittbeschwerdeführer ist ledig und ohne Sorgepflichten. In Österreich verfügen die Beschwerdeführer über familiäre Anbindungen in Form des in Linz wohnenden volljährigen Sohnes H[...] sowie über einen in Österreich aufhältigen Neffen des Erstbeschwerdeführers. Ein wie auch immer geartetes Abhängigkeitsverhältnis der Beschwerdeführer zum Sohn H[...] oder zum Neffen des Erstbeschwerdeführer liegt nicht vor.
In Zusammenhang mit der Integration der Beschwerdeführer bleibt auszuführen wie folgt:
Der Erstbeschwerdeführer besuchte mehrere Kurse für Deutschkenntnisse auf A1 und A2 Niveau und bestand am 10.04.2017 die Sprachprüfung im Niveau A1. Eine Sprachprüfung im Niveau A2 bestand der Beschwerdeführer nicht. Eine Integrationsprüfung im Niveau A2 wurde ebenfalls nicht positiv abgeschlossen. Er spricht einfaches, sehr gut verständliches Deutsch. Im August 2016 nahm der Erstbeschwerdeführer an einem Wertedialog teil. Er verfügt über Kontakt zu österreichischen Bekannten und betätigt sich ehrenamtlich im Rahmen seiner Unterkunft und beim Verein „Über den Tellerrand“. Auch betätigt er sich auch regelmäßig mehrfach als ehrenamtlicher Dolmetscher. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte mehrere Deutschkurse auf A1 Niveau. Sie schloss bislang keine Sprachprüfung ab. Die Zweitbeschwerdeführerin hat Kontakte zu österreichischen Bekannten und betätigt sich ehrenamtlich bei der Organisation „Über den Tellerrand“. Der Drittbeschwerdeführer begann 2016 in Österreich mit dem Schulunterricht und stieg in die erste Klasse einer Neuen Mittelschule ein. Seine Schulausbildung beendete der Beschwerdeführer vorzeigt. Er befindet sich in keinem aufrechten Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis. Er besuchte einen Deutschkurs auf A 2 Niveau. Die Prüfung auf A 2 Niveau bestand der Drittbeschwerdeführer nicht, aber er spricht dennoch in einem guten Niveau Deutsch. Der Drittbeschwerdeführer übt keine ehrenamtlichen Tätigkeiten aus und wird im Rahmen einer Bewährungshilfe vom Verein „Neustart“ betreut. In seiner Freizeit trifft sich der Beschwerdeführer mit seinem Freundeskreis. Zu Hause sprechen die Drittbeschwerdeführer miteinander Arabisch.
Die Beschwerdeführer gingen im Bundesgebiet bislang keiner Beschäftigung nach und befinden sich auch gegenwärtig in keinem aufrechten Beschäftigungsverhältnis. Die Beschwerdeführer sind nicht selbsterhaltungsfähig und bestreiten ihren Lebensunterhalt in Österreich über die staatliche Grundversorgung.
Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind strafrechtlich unbescholten.
Der Drittbeschwerdeführer hingegen wurde vom Landesgericht XXXX als Jugendschöffengericht am 14.09.2020 zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwölf Monaten, bedingt, drei Jahre Probezeit und zu einer Geldstrafe in Höhe von EUR 480,00 wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 12 dritter Fall, 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB; des Verbrechens des Raubes nach §§ 12 dritter Fall, 142 Abs. 1 StGB; des Verbrechens der schweren Erpressung nach den §§ 144 Abs. 1, 145 Abs. 2 Z 1 und 2, 15 Abs. 1 StGB und des Vergehens des Diebstahls durch Einbruch nach den §§ 12 dritter Fall, 15 Abs. 1, 127, 129 Abs. 1 Z 2 StGB verurteilt. Ihm wurde überdies eine Bewährungshilfe nach §§ 50, 52 StGB angeordnet und nach §§ 50, 51 StGB die Weisung erteilt, unverzüglich einen Deutschkurs zu beginnen und ein Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis zu beginnen.
Der Verurteilung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Drittbeschwerdeführer hat
I) als Beitragstäter zu nachangeführten Zeiten nachgenannten Personen mit Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit unmittelbarer Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz weggenommen und abgenötigt, durch deren Zueignung sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, und zwar
1) am 24.12.2018 in Linz im Zusammenwirken mit mehreren gesondert verfolgten Mittätern Pascal M[...] P[...] Bargeld und andere geeignete Raubbeute, indem er ihn mit weiteren zumindest 3 Mittätern umringte und einer der Mittäter von P(…) in aggressiv lautem Ton verlangte, ihm die Geldtasche zu übergeben, ihm diese schließlich aus der Hand riss und es nur deshalb beim Versuch geblieben sei, weil sich kein Geld in der Geldtasche befand, wobei sie den Raub ohne Anwendung erheblicher Gewalt an einer Sache geringen Wertes begingen und die Tat nur unbedeutende Folgen nach sich zog;
2) am 9.2.2019 in L[...] als Beitragstäter mit den abgesondert verfolgten Amir H[...] M [...], Daniel K[...], Kashif S[...], Ali S[...] N[...], Arbi S[...] und Soheyl A[...] als Mittäter nach gemeinsamer Vereinbarung, die Opfer „abzuziehen“, Marcel I[...] und Sandro C[...] indem er, Daniel K [...], Kashif S[...], Ali S[...] N[...], Arbi S[...] und Soheyl A[...] die beiden Opfer während der Tatbegehung bedrohlich umzingelten, während Amir H[...] M[...]
a) die beiden Opfer wiederholt nach Geld fragte und auf die Verneinung mit einem energischen: „Lüg nicht! Du hast Geld! Gib her!“ reagierte, woraufhin Marcel I[...] und Sandro C[...] jeweils ihre Geldtaschen herausnahmen, Amir H[...] M[...] ihnen die Geldtaschen aus der Hand riss und dem Marcel I[...] Bargeld in Höhe von EUR 4,00 und dem Sandro C[...] Bargeld in Höhe von EUR 3,00 wegnahm sowie
b) über Aufforderung des Arbi S[...] den Sandro C[...] durch die wiederholten Worte: „Gib mir die Uhr!“ zur Übergabe der Uhr aufforderte, und Sandro C[...], nachdem dieser gebeten hatte: „Nein, nicht meine Uhr, die brauch ich noch“, einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, woraufhin Sandro C[...] die Uhr im Wert von EUR 20,00 übergab;
II) im Zeitraum von zumindest 17.11.2018 bis zumindest 07.01.2019 in Linz – teils mit dem abgesondert verfolgten Idris K[...] als Beteiligter (§ 12 StGB) – gewerbsmäßig und gegen dieselbe Person längere Zeit hindurch fortgesetzt, mit dem Vorsatz durch das Verhalten des Genötigten sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, Vincent B[...] durch gefährliche Drohung, nämlich durch die – teils konkludente – Drohung zumindest mit Körperverletzungen unter Hinweis auf die Zugehörigkeit zur „ XXXX “ zu Handlungen genötigt, die diesen oder einen anderen am Vermögen schädigten, und zwar:
1) am 17.11.2018 zur Übergabe von Kleidung (1 Champion Pullover rot und 1 Paar Nike- Schuhe) im Wert von insgesamt EUR 230,00 durch Drohung, dass widrigenfalls die ganze XXXX kommen und ihn „ficken“ (gemeint schlagen) werde;
2) am 18.11.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 20,00 durch Drohung, dass er widrigenfalls Probleme (gemeint in Form von Schlägen) mit der Jugendbande XXXX bekommen würde;
3) am 19.11.2018 zur Übergabe von Kleidung (1 Paar Nike Schuhe) im Wert von EUR 180,00 und Bargeld in Höhe von EUR 10,00 durch die Drohung: „Du weißt Bescheid, wenn nicht“ (bezogen auf die vorangegangenen konkreten Drohungen);
4) am 26.11.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 65,00 durch die Drohung, dass er widrigenfalls Probleme (gemeint in Form von Schlägen) mit der Jugendbande XXXX bekommen würde;
5) am 28.11.2018 zur Übergabe von Kleidung (1 Polo-Hose, 1 Nike-Kappe) im Wert von insgesamt EUR 60,00 durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung;
6) am 3.12.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 30,00 durch Drohung zumindest mit Schlägen (wörtlich mit dem Umbringen);
7) am 5.12.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 40,00 durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung;
8) am 9.12.2018 zur Übergabe von Kleidung (1 Hilfiger-Haube) durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung;
9) am 12.12.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 30,00 widrigenfalls er ihn „ficken“ (gemeint schlagen) werde;
10) am 13.12.2018 zur Übergabe einer GUCCI-Geldtasche im Wert von EUR 10,00 durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung;
11) am 16.12.2018 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 95,00 durch Drohung mit Schlägen;
12) am 22.12.2018 zur Übergabe von Kleidung (1 Paar Nike Schuhe, 1 Nike Jacke) im Gesamtwert von EUR 125,00 durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung;
13) am 7.1.2019 zur Übergabe von Bargeld in Höhe von EUR 50,00 durch (aufgrund der vorangegangenen Vorfälle) konkludente Drohung, wobei es beim Versuch geblieben sei;
III) am 31.5.2019 in S[...] als Beitragstäter mit den gesondert verfolgten Yasin P[...], Nurhan C[...], Nervuz C[...] und Mehmet P[...] versucht, Rainer S[...] durch Einbruch fremde bewegliche Sachen, nämlich Bargeld, mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie versuchten, mit einem Holzprügel eine Kassa aufzuzwängen.
Mildernd berücksichtigte das Strafgericht den bisher ordentlichen Wandel des Drittbeschwerdeführers, dessen umfassendes zur Wahrheitsfindung beitragendes und teils reumütiges Geständnis, teilweise sind die Taten beim Versuch geblieben, teils dessen untergeordnete Tatbegehung, teilweise Schadensgutmachung durch Dritte. Erschwerend werte das Strafgericht das Zusammentreffen dreier Verbrechen mit einem Vergehen; die Verwirklichung zweier Deliktsqualifikationen des § 145 Abs. 2 StGB und Begehung von mehr Taten als zur Begründung des Tatbestands der Gewerbsmäßigkeit erforderlich. Des Weiteren ordnete das Strafgericht die Inanspruchnahme der Bewährungshilfe an und erteilte dem Drittbeschwerdeführer die Weisung der Absolvierung eines Deutschkurses und des Beginns eines Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses.
1.2. Zu den Fluchtmotiven der Beschwerdeführer:
Die Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer bringen keine eigenen Fluchtgründe vor, sondern beziehen sich auf den Fluchtgrund des Erstbeschwerdeführers.
Der Erstbeschwerdeführer war in seinem Herkunftsland Irak weder aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch aufgrund seiner politischen Gesinnung eine Verfolgung ausgesetzt. Er hat den Irak nicht aus Furcht vor Verfolgung durch schiitische Milizen verlassen, vielmehr haben ihn wirtschaftliche Erwägungen zur Ausreise bewogen.
Im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat Irak werden die Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt sein.
1.3. Zur Rückkehrsituation der Beschwerdeführer:
Die Beschwerdeführer werden im Falle ihrer gemeinsamen Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein. Weder wird ihnen ihre Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für sie in Bagdad, die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
Dem minderjährigen Drittbeschwerdeführer hat die Möglichkeit, im Irak kostenfrei eine Schulausbildung zu erhalten oder eine Berufsausbildung zu beginnen, die es ihm ermöglichen wird, selbsterhaltungsfähig zu werden. Ihm droht im Irak keine Kinderarmut, da seine Eltern über eine Unterkunftsmöglichkeit verfügen und ihnen eine Rückkehr dorthin möglich ist. Die Beschwerdeführer verfügen in Bagdad zudem über ein familiäres Netz. Sie erhielten vor ihrer Ausreise über längeren Zeitraum eine Unterstützung durch die Familie. Es wurde dargelegt, dass ihnen eine Rückkehr und eine Wiedereingliederung in den Beruf- und Lebensalltag sowie in den Familienverband in Bagdad möglich ist. Der Erstbeschwerdeführer befindet sich zudem nach wie vor im erwerbsfähigen Alter und ist arbeitsfähig. Er kam bisher für den Unterhalt der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers auf und sicherte er sich seinen Lebensunterhalt aus den finanziellen Zuwendungen seitens seiner im Irak aufhältigen Familie. Darüber hinaus befindet sich der minderjährige Drittbeschwerdeführer mit nunmehr 17 Jahren ebenfalls in einem erwerbsfähigen Alter und ist nicht mehr schulpflichtig. Er kann in Bagdad somit entweder die Schule freiwillig zu Ende bringen oder eine Berufsausbildung bzw. eine Beschäftigung aufzunehmen und so selbst zur Sicherung seines Lebensunterhaltes aufkommen bzw. zum Familieneinkommen beitragen.
1.4. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:
Zur Lage im Herkunftsstaat werden im Hinblick auf das entscheidungsrelevante Vorbringen der Beschwerdeführer folgende Feststellungen getroffen:
1.4.1. Sicherheitslage:
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA -Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED -The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED -The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview –Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/ , Zugriff 13.3.2020
- AI -Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 -Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' nearUS embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH -Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 –Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- FIS -Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- MEMO -Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS -US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018
1.4.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:
Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2019 auf rund 2.300 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2021 gab es nach vorläufigen geschätzten Angaben bis April 235 zivile Todesopfer (Statista 06.05.2021).
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen-und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC -Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Statista Research Department -deutsches Online-Portal für Statistik (19.08.2020): Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2020*, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163882/umfrage/dokumentierte-zivile-todesopfer-im-irakkrieg-seit-2003/#professional, Zugriff 07.05.2021
1.4.3. Sicherheitslage Bagdad:
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Quellen:
- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020
- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf , Zugriff 13.3.2020
1.4.4. Straßensicherheit:
Der Overseas Security Advisory Council (OSAC) stellte fest, dass es überall in Bagdad-Stadt „improvisierte Kontrollpunkte“ neben den „zahlreichen Sicherheitskontrollpunkten der Regierung“ gibt. Der OSAC stellte ferner fest, dass Maßnahmen zur Beschränkung des Zugangs zur Internationalen Zone im Dezember 2018 gelockert wurden. Im Oktober 2019 wurde jedoch im Zusammenhang mit den über die Stadt hereinbrechenden Protesten der Zugang zur Internationalen Zone stärker eingeschränkt. In Berichten heißt es, dass „sich je nach besserer oder schlechterer Sicherheitslage der Zugang zur Internationalen Zone rasch ändern kann, … was sich unmittelbar auf diplomatische Vertretungen, den privaten Sektor und Wohngebäude auswirkt“.472 Der Iraq Humanitarian Fund und iMMAP veröffentlichten eine Karte zum Ausmaß des Risikos durch explosionsgefährliche Stoffe auf Straßen in der Provinz Bagdad zwischen dem 1. und dem 30. April 2020. Dieser Karte zufolge waren die Straßen mit hohem Risiko in Tarmiyah, Abu Ghuraib und Mahmoudiya zu finden. Straßen mit geringerem Risiko waren in den genannten Gebieten angegeben, aber auch in Mada’in und in vereinzelten Stadtteilen von Bagdad-Stadt.
Quellen:
- OSAC, Iraq 2020 Crime & Safety Report: Baghdad, 12 May 2020, https://www.osac.gov/Country/Iraq/Content/Detail/Report/0352cf01-82a2-41e8-b2ce-18aa92be0ab9, Zugriff 05.12.2020
- Iraq Humanitarian Fund and iMMAP, Explosive Hazards Risk Level on Roads in Baghdad Governorate 01-30 April 2020, 6 May 2020, https://reliefweb.int/map/iraq/iraq-immap-humanitarian-access-response-explosive-hazards-risk-level-roads-baghdad-1, Zugriff 06.05.2020
1.4.5. Sicherheitskräfte und Milizen:
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Quellen:
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 13.3.2020
- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.htm, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
1.4.5.1. Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF):
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
1.4.5.2. Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha’bi:
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).
Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).
Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibr