TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/30 W175 2194001-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.08.2021
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Entscheidungsdatum

30.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W175 2194001-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , afghanischer Staatsangehöriger, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2018, Zahl: 1088585003-151426254, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte II. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisevorschriften in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 24.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.09.2015 wurde der BF von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute und zu seinem Fluchtgrund erstbefragt. Der BF gab an, minderjährig und afghanischer Staatsangehöriger zu sein und in der Provinz Maidan Wardak in Afghanistan geboren worden und aufgewachsen zu sein. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Sadat und Schiit. Sein Vater sei entführt worden. Seine Mutter, seine vier Schwestern und sein Bruder seien noch am Leben. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, dass sein Bruder und dessen Frau aus dem BF unbekannten Gründen von ihm unbekannten Personen umgebracht worden seien. Er habe daher aus Angst um sein Leben Afghanistan verlassen.

3. Am 15.11.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Befragt nach seinem Fluchtgrund führte er (kurzgefasst) aus, dass sein Bruder mit seinem Onkel auf einer Landwirtschaft gearbeitet habe. Eines Tages sei ein Mädchen mit dem Bruder des BF zum Haus der Familie gekommen, es habe Streit zwischen der Mutter, dem Bruder und dem Onkel des BF gegeben. Grund des Streites sei die Tatsache gewesen, dass der Bruder des BF dieses Mädchen ohne Erlaubnis ihrer Familie geheiratet habe. Eines Tages seien der Bruder und das Mädchen getötet worden. Nach Wahrnehmung des BF seien sein Bruder und das Mädchen von Angehörigen der Familie des Mädchens getötet worden, er selbst habe daher auf Anraten seiner Tante Afghanistan verlassen.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, dass man dem Fluchtvorbringen keine Glaubhaftigkeit zusprechen könne. Im Falle der Rückkehr des BF nach Afghanistan drohe diesem auch keine reale Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK. Der BF unterhalte in Österreich zudem auch kein schutzwürdiges Privatleben das einen Verbleib im Bundesgebiet rechtfertigen würde.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht die gegenständliche Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und machte sowohl die inhaltliche Rechtswidrigkeit als auch die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Es drohe dem BF Verfolgung aufgrund von dessen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe (s)einer Familie, auch sei diesem bei Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten, subsidiärer Schutz zu gewähren. Überdies bestehe ein schutzwürdiges Privatleben des BF in Österreich.

6. Am 03.10.2019 langten beim BVwG Dokumente zum Nachweis der öffentlich-wirksamen politischen Tätigkeit, der schulischen und beruflichen Integrationserfolge sowie der sonstigen Integration des BF ein.

7. Am 02.07.2021 langte beim BVwG eine Stellungnahme und Urkundenvorlage in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung ein.

8. Das BVwG führte nach Vorlage der Beschwerde am 08.07.2021 in Anwesenheit des BF und seiner ausgewiesenen Vertreterin sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine mündliche Verhandlung durch. Das BFA nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die erkennende Richterin brachte die im Akt einliegenden Berichte über die aktuelle Lage im Herkunftsstaat in das gegenständliche Verfahren ein und erklärte die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Seitens der Parteien erfolgte keine Stellungnahme.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger, volljährig, schiitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Sadat (Untergruppe der Hazara) an. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht zudem sehr gut Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der BF wurde im Dorf XXXX , Provinz Maidan Wardak, Afghanistan, geboren und wuchs dort bei seinen Eltern, seinen vier Schwestern und seinem Bruder auf. Er besuchte neun Jahre die Schule. Der Bruder und der Onkel des BF betrieben in Afghanistan eine Landwirtschaft und sorgten in diesem Zusammenhang auch für den Unterhalt des BF.

Die Familienangehörigen des BF leben weiterhin in Afghanistan, es besteht kein Kontakt.

Der BF leidet stark unter Stress und nimmt diesbezügliche Medikamente, er weist eine mittelgradige depressive Verstimmung auf. Er leidet jedoch an keinen schwerwiegenden psychischen oder physischen Belastungen.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1.  Dem BF drohen im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland Afghanistan psychische oder physische Bedrohungen durch die Taliban oder anderen Personen von erheblicher Intensität aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung.

Beim BF handelt es sich um einen politisch wie sozial engagierten Mann, der sich seit seinem Aufenthalt in Österreich für Menschen- und Frauenrechte und insbesondere für die LGBTQ-Community einsetzt.

Der über (nachweislich) B2-Deutschkenntnisse verfügende und beruflich eine Lehre als Mechatroniker absolvierende BF trat während seines Aufenthaltes in Österreich mehrfach öffentlich und öffentlichkeitswirksam für Menschenrechte ein. Er hielt Reden betreffend die prekäre Menschenrechtslage (insbesondere auch in Bezug auf Frauen) in Afghanistan, trat öffentlich auf einer Parade für queere und homosexuelle Menschen auf und wird auch aktiv von der „Homosexuellen Bewegung Obersterreich“ unterstützt. Die Auftritte des BF sind öffentlich im Internet (in Form von Videos) einsehbar. Die politische Gesinnung des BF hat sich somit klar nach außen manifestiert, eine Verfolgung aufgrund dessen politischen und gesellschaftlichen Engagements in Afghanistan kann nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

1.       Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 15.06.2021, laufenden Kurzinformationen der Staatendokumentation (zuletzt vom 20.08.2021) und aktuellen Medienberichten,

2.       UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

3.       EASO Country Guidance: Afghanistan 2020 (EASO)


1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Aktuelle Entwicklungen in Afghanistan

Am 15. August übernahmen die Taliban kampflos die Hauptstadt Kabul, nachdem sie innerhalb von nur wenigen Tagen den Großteil des Landes, inklusive aller größeren Städte Afghanistans eingenommen und Präsident Ashraf Ghani Berichten zufolge das Land verlassen hatte.

Tausende AfghanInnen und ausländische Staatsangehörige versuchen, aus Kabul zu fliehen. Am Kabuler Flughafen sind Szenen von Chaos und Panik zu beobachten.

Am Morgen des 16. August 2021 schlossen die USA die Evakuierung ihrer Botschaft ab und holten ihre Flagge an ihren Botschaftsgebäuden ein.

Mehr als 60 Länder gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die sofortige Wiederherstellung der Sicherheit und der zivilen Ordnung fordern und die Taliban bitten, denjenigen, die das Land verlassen wollen, dies zu ermöglichen.

AktivistInnen äußern sich besorgt über die Lage der Frauen in Afghanistan, nachdem berichtet wurde, dass die Taliban in einigen Teilen des Landes bereits Änderungen in Bezug auf die Kleidung der Frauen und ihre Arbeitsmöglichkeiten durchsetzen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Khorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021a; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021a; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Khost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu (UNGASC 12.3.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

1.3.2. Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 11.06.2021

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt (AA 16.7.2020). Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 16.7.2020; vgl. CoA 26.1.2004). Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (AA 16.7.2020).

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein (USDOS 30.3.2021). In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (FH 4.3.2020). Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind (HRW 13.1.2021). Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die glaubwürdige Beschwerden überprüft und an die Generalstaatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung und Strafverfolgung weiterleitet. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 30.3.2021).

Präsident Ghani hat am 12.5.2018 eine Verordnung unterzeichnet, wonach ein unabhängiger Ombudsmann für Angelegenheiten des Präsidenten eingerichtet werden soll (SIGAR 5.2018). AIHRC entwickelte in Kooperation mit den Ministerien für Verteidigung und Inneres ein Ombudsmannprogramm, durch welches Polizeigewalt gemeldet werden kann (USDOD 12.2018; vgl. UNAMA 4.2019). Die Einrichtung dieses Ombudsmannprogramms wurde für 31.12.2018 angekündigt (SIGAR 5.2018), aber bisher noch nicht finanziert und umgesetzt (USDOD 12.2018).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht (AI 30.1.2020). Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten (USDOS 30.3.2021).

Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (UNHRC 21.2.2018). Im Dezember 2018 würdigte UNAMA die Fortschritte Afghanistans auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere unter den Herausforderungen des laufenden bewaffneten Konfliktes und der fragilen Sicherheitslage. Die UN arbeitet weiterhin eng mit Afghanistan zusammen, um ein Justizsystem zu schaffen, das die Gesetzesreformen, die Verfassungsrechte der Frauen und die Unterbindung von Gewalt gegen Frauen voll umsetzen kann (UNAMA 10.12.2018).

1.3.3. Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Presse- und Meinungsfreiheit ist in Artikel 34 der afghanischen Verfassung verankert (CoA 27.1.2004; vgl. USDOS 30.3.2021). Das Massenmediengesetz und das Strafgesetzbuch sehen Gefängnis- und Geldstrafen für Verleumdung vor. Manchmal benutzen staatliche Behörden das Diffamierungsverbot als Vorwand, um Kritik an Regierungsbeamten zu unterdrücken (USDOS 30.3.2021).

Afghanistan hat einen lebhaften Mediensektor mit zahlreichen Druckmedien sowie Radio- und Fernsehkanälen, die insgesamt ein großes Spektrum an Meinungen - in der Regel unzensiert - darstellen. Es existieren unabhängige, privatwirtschaftliche Medienunternehmen sowie ein staatlicher Rundfunk und Medien-Sender, hinter denen spezifische politische Interessen stehen (FH 4.3.2020; vgl. AA 16.7.2020). Einem Regierungsbericht zufolge existieren 113 TV-Stationen, 257 Radiosender und 80 Zeitungen in Afghanistan [Stand: Juni 2020] (AA 16.7.2020).

Aufgrund der hohen Analphabetismusrate bevorzugen die meisten Bürger Fernsehen und Radio gegenüber Print- oder Online-Medien (USDOS 30.3.2021). Ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung - auch in abgelegenen Provinzen - hat Zugang zu Radio (USDOS 30.3.2021). Kriegsherren, Politiker, Taliban-Sympathisanten und Regierungsvertreter werden in Fernsehdebatten, Radiosendungen und in sozialen Medien offen herausgefordert (Fr24 21.5.2019).

Die Freiheiten sind in einem Maß verwirklicht, das grundsätzlich im regionalen Vergleich positiv hervorsticht (AA 16.7.2020), wenngleich diese wegen Sicherheitserwägungen, einer konservativen Medienpolitik seitens des Staates und religiösen Forderungen eingeschränkt werden (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 16.7.2020). Jedoch übernehmen afghanische Medienvertreter politische Verantwortung und gehen Risiken ein, um Missstände anzuprangern, während Journalisten die wachsende Kontrolle des Staates über die Berichterstattung sowie eine Behinderung von Recherchearbeit der Regierungsmitglieder beklagen (AA 16.7.2020). Print- und Online-Medien, unabhängige Zeitschriften, Newsletter, Zeitungen und Websites veröffentlichen auch weiterhin und kritisieren die Regierung offen (USDOS 30.3.2021). Afghanistan rangiert im World Press Freedom Index 2020 auf Platz 122 von 180 untersuchten Staaten; dies stellt eine Verschlechterung von einem Platz im Vergleich zum Vorjahr und drei Plätzen im Vergleich zum Jahr 2018 dar (RSF 2020).

Die Regierung unterstützt öffentlich die Medienfreiheit und arbeitet mit Initiativen zusammen, um Sicherheitsbedrohungen für die Medien entgegenzuwirken. Unabhängige Medien sind aktiv und äußern eine Vielzahl von Ansichten. Die Umsetzung des Gesetzes über den Zugang zu Informationen ist nach wie vor uneinheitlich, und die Medien berichten über ein ständiges Versagen der Regierung bei der Erfüllung der Anforderungen des Gesetzes. Regierungsbeamte schränken den Zugang der Medien zu Regierungsinformationen oft ein oder ignorieren einfach Anfragen. Journalisten beklagen sich über Beamte, die sich auf nationale Interessen berufen, um der Informationspflicht nicht nachkommen zu müssen (USDOS 30.3.2021). Obwohl die Regierung einen Gesetzesvorschlag fallen ließ, der Einschränkungen für die Medien vorgesehen hätte, werden Journalisten weiterhin sowohl von den Taliban als auch von Regierungsvertretern bedroht (HRW 13.1.2021) und es gibt Bedenken, dass Gewalt und Instabilität die Sicherheit der Journalisten gefährden könnten. Laut RSF (Reporter ohne Grenzen) zählt Afghanistan zu den weltweit gefährlichsten Staaten für Journalisten (RSF o.D. b; vgl. AA 16.7.2020, TN 21.4.2020). Journalisten berichten über Gewaltandrohungen und Belästigungen wegen des innerstaatlichen Konfliktes durch Politiker, Sicherheitsbeamte und andere Machthaber. Beamte und Privatpersonen setzen Gewaltandrohungen ein, um unabhängige und oppositionsnahe Journalisten einzuschüchtern, insbesondere solche, die über Straflosigkeit, Kriminalität und Korruption durch lokale Machthaber berichten. Auch die Taliban greifen weiterhin Medienorganisationen an. Einige Reporter vermeiden Kritik an Aufständischen und bestimmten Nachbarländern aus Angst vor einer Vergeltung durch die Taliban. In unsicheren Gegenden nötigen aufständische Gruppierungen Mediengesellschaften zu Beschränkungen bei der Ausstrahlung von Ankündigungen der Sicherheitskräfte, Unterhaltungsprogrammen, Musik und Aussagen von Frauen (USDOS 30.3.2021). Es existieren Berichte, wonach staatliche Behörden zeitweise Druck, Verordnungen und Drohungen einsetzen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Die regelmäßige Kritik an der Zentralregierung verläuft allgemein frei von Einschränkungen. Beanstandungen an der Provinzregierung in Gebieten, wo lokale Beamte und Machtträger erheblichen Einfluss und Autorität haben, werden stärker eingeschränkt. Dies betrifft sowohl Privatpersonen als auch journalistisch tätige Personen. Bestimmte politische und ethnische Gruppierungen, inklusive derjenigen, die von ehemaligen Mudschahedin-Anführern geleitet werden, besitzen zahlreiche Mediensender und kontrollieren die Inhalte auf Provinzebene. In einigen Provinzen ist die Medienpräsenz eingeschränkt (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 16.7.2020).

Das Afghanistan Journalists Center zählte 2020 112 gewalttätige Übergriffe auf Medienschaffende, wobei sieben Journalisten und ein Medienmitarbeiter getötet wurden (AFJC o.D.; vgl. AI 3.5.2021; TN 6.1.2021, RSF 10.12.2020, BAMF 11.1.2021). Die Taliban stritten in einer Presseerklärung vom 6.1.2021 jede (ihnen von der Regierung zugeschriebene) Beteiligung an der Tötung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft ab (BAMF 11.1.2021; vgl. TN 6.1.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) nehmen Taliban-Kräfte jedoch gezielt Journalisten und andere Medienmitarbeiter ins Visier, darunter auch Frauen (HRW 1.4.2021) und nach Angaben des Afghanistan Journalists Center waren die Taliban, Daesh [Anm.: auch IS, ISKP] bzw. unbekannte Bewaffnete für die Tötungen von Journalisten verantwortlich (TN 6.1.2021). Am 1.1.2021 wurde der Direktor einer Radiostation in der Provinz Ghor erschossen (RSF 7.1.2021). Im Mai 2021 gab RSF (Reporters Sans Frontières) an, dass in den letzten sechs Monaten mindestens 20 Journalisten und Medienschaffende Opfer von gezielten Angriffen wurden und acht, darunter vier Frauen, getötet wurden. Etwa 30 weitere haben Todesdrohungen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit erhalten (RSF 3.5.2021). Mit Ende April wurden im Jahr 2021 bereits vier Journalisten getötet (AI 3.5.2021).

Da viele Angriffe auf Journalisten nicht zur Anzeige gebracht werden und die afghanische Regierung Drohungen oder Angriffe auf Journalisten nur selten untersucht, ist unter den afghanischen Medien ein wachsendes Klima der Angst entstanden (HRW 16.3.2021). Journalistinnen, vor allem jene, die im Fernsehen und Radio auftreten, sind mit besonderen Bedrohungen konfrontiert (HRW 1.4.2021). In vielen Fällen haben Aufständische Frauen beschuldigt, durch die Übernahme einer öffentlichen Rolle gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. Es ist oft nicht klar, ob der ISKP, die Taliban oder andere Gruppen für die Drohungen und Angriffe verantwortlich sind (HRW 16.3.2021). Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 8.3.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat zwischen März 2020 und März 2021 mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden an Zufluchtsorten untergebracht (RSF 11.3.2021; vgl. CPAWJ 7.3.2021).

Laut HRW haben Taliban-Befehlshaber und -Kämpfer ein Muster von Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Mitglieder der Medien in Gebieten, in denen die Taliban erheblichen Einfluss haben, sowie in Kabul angewandt, wobei sie häufig über die Arbeit, die Familie und die Bewegungen von Journalisten Bescheid wissen und diese Informationen nutzen, um sie entweder zur Selbstzensur zu zwingen, ihre Arbeit ganz aufzugeben oder gewaltsame Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Taliban auf Provinz- und Distriktebene sprechen auch mündliche und schriftliche Drohungen gegen Journalisten außerhalb der von ihnen kontrollierten Gebiete aus (HRW 1.4.2021).

Der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) zufolge haben in den letzten Monaten des Jahres 2020 und mit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha gezielte Angriffe auf Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger drastisch zugenommen (AIHRC 28.1.2021), was die Besorgnis über die Wahrung der Meinungs- und Medienfreiheit bei einer Friedensregelung verstärkt (HRW 1.4.2021).

Im Mai 2021 gaben die Taliban eine Pressemitteilung heraus, in der sie den Medien im Land vorwarfen, einseitig zugunsten der Regierung zu berichten, und drohten mit Konsequenzen. Einen Tag später wurde ein Journalist in der Stadt Kandahar von Unbekannten erschossen (BAMF 5.5.2021).

Internet und Mobiltelefonie

Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.6.2020).

Der Zugang zum Internet wird von staatlicher Seite nicht eingeschränkt und es gibt keine Berichte zu Überwachung privater Online-Kommunikation ohne rechtliche Genehmigung (USDOS 30.3.2021). Die Internetnutzung bleibt aufgrund hoher Preise, fehlender lokaler Inhalte und des Analphabetismus relativ gering (USDOS 30.3.2021).

Medien und Aktivisten nutzen routinemäßig soziale Medien, um über politische Entwicklungen zu diskutieren; beispielsweise ist Facebook in städtischen Gebieten weit verbreitet. Die Taliban nutzten das Internet und die sozialen Medien, um ihre Botschaften zu verbreiten (USDOS 30.3.2021). Internetseiten mit nach afghanischem Verständnis unmoralischen oder pornografischen Inhalten sind gesperrt. Darunter fallen tatsächlich pornografische Seiten ebenso wie Webangebote für homo-, bi-, inter- oder transsexuelle User und Kennenlernportale bis hin zu Verkaufsseiten mit Alkoholangebot (AA 16.7.2020).

Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.6.2020).

Im Laufe des Jahres 2020 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 30.3.2021). In Gebieten unter Talibankontrolle werden den Mobilfunkanbietern Vorgaben gemacht, wann das Netzwerk zur Verfügung gestellt werden darf; häufig müssen die Netze nach Einbruch der Dunkelheit abgeschaltet werden (DFJP/SEM 30.6.2020; vgl. ODI 21.6.2018). Die Mobilfunkbetreiber kommen den Anweisungen in der Regel nach, da in den vergangenen Jahren teure Infrastruktur zerstört und Ingenieure und Angestellte angegriffen und getötet wurden, wenn Anweisungen der Aufständischen nicht befolgt worden sind (AN 21.4.2018). Der regierungsnahe Mobiltelefonanbieter Salam ist in den von Taliban kontrollierten Gebieten gesperrt. Die Taliban kontrollieren Handys nach Salam-SIM-Karten. Sollte man mit einer solchen SIM-Karte erwischt werden, wird die Karte wahrscheinlich zerstört und deren Besitzer geschlagen (ODI 21.6.2018; vgl. ST 4.9.2020).

1.3.4. Sexuelle Orientierung und Genderidentität

Letzte Änderung: 11.06.2021

Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.3.2020, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist eine Straftat, die - laut afghanischem Strafgesetzbuch, Artikel 646 - mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, Geschlechtsverkehr zwischen Frauen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, geahndet wird (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020).

Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTI nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 16.7.2020).

Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 16.7.2020).

Die LGBTI-Gemeinschaft in Afghanistan ist weiterhin erheblicher Gewalt von Seiten des Staates und der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt (USCIRF 3.2021). Homosexualität wird weithin tabuisiert (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020) und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. LGBTI-Personen berichten, dass sie weiterhin mit Verhaftungen durch Sicherheitskräfte und Diskriminierung sowie Übergriffen und Vergewaltigungen in der Gesellschaft im Allgemeinen konfrontiert sind (USDOS 30.3.2021).

Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 16.7.2020; vgl SFH 30.4.2020).

Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 16.7.2020). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 27.6.2019; vgl. SFH 30.4.2020).

Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).

Es wird auch über "Ehrenmorde" an tatsächlichen oder vermeintlichen LGBTQI-Personen durch Familienmitglieder berichtet. Oftmals reicht das Gerücht oder die Beschuldigung, um Betroffene in Gefahr zu bringen (SFH 30.4.2020; vgl. AI 5.2.2018).

Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 16.7.2020). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).

Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 16.7.2020; vgl. Corboz 17.6.2019, NG 2.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt (Corbez 17.6.2019). Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (NG 2.3.2018).

1.3.5. Taliban

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Letzte Änderung: 11.06.2021

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr "Emirat" wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der "islamischen Regierung" meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach "Unmoral" und "Unanständigkeit" fördern (RFE/RL 13.4.2021).

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im "Jihad" der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer "islamischen Struktur" eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch "Attentate" gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).

1.3.6. NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die afghanische Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle, speziell in den städtischen Regionen, wo tausende Kultur-, Wohlfahrts- und Sportvereinigungen mit wenig Einschränkung durch Behörden tätig sind (FH 4.3.2020). Nationale und internationale Menschenrechtsgruppen arbeiten generell ohne Einschränkungen durch die Regierung (USDOS 30.3.2021) und zudem stellen nationale und internationale NGOs 90% der primären, sekundären und tertiären medizinischen Versorgung in Afghanistan (AA 16.7.2020).

Die Zivilgesellschaft Afghanistans ist tief verwurzelt, mit traditionellen lokalen Räten namens Shuras oder Jirgas, die auf informeller (nicht registrierter) Basis auf Dorf- oder Stammesebene tätig sind - in der Regel um die Interessen einer Gemeinschaft gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft zu vertreten. Die Verfassung garantiert das Recht, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu gründen, und sowohl der gesetzliche Rahmen als auch die nationalen Behörden unterstützen zivilgesellschaftliche Gruppen relativ stark. Auf nationaler Gesetzgebung beruhend, existieren in Afghanistan zwei Hauptkategorien von registrierten NGOs und Vereinen. Registriert sind etwa 4.102 (Stand 11.2019) NGOs sowie 2.513 Vereine (CoF 11.2019). Die meisten NGOs finanzieren sich nicht durch Spenden oder Aktivitäten in Afghanistan, sondern sind von internationalen Geldgebern abhängig (Najimi 2018). Lokale NGOs müssen sich beim Wirtschaftsministerium (Ministry of Economy, MoEc) registrieren, ausländische NGOs bei MoEc und dem Außenministerium (Ministry of Foreign Affairs). Daneben gibt es noch Vereine bzw. zivilgesellschaftliche Organisationen („civic organizations“), die sich beim Justizministerium (Ministry of Justice) registrieren müssen (Najimi 2018; vgl. ICNL 13.4.2019).

NGOs untersuchen und veröffentlichen ihre Ergebnisse über Menschenrechtsfälle und Regierungsbeamte sind einigermaßen kooperativ und reagieren auf ihre Ansichten (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.3.2020). Menschenrechtsaktivisten äußern sich weiterhin besorgt über Regierungsakteure, welche Menschenrechtsverletzungen verüben (USDOS 30.3.2021). Korruption in den Behörden und bürokratische Meldepflichten behindern in manchen Fällen die Aktivitäten der NGOs (FH 4.3.2020). Menschenrechtsverteidiger in Afghanistan werden sowohl von den Behörden als auch von bewaffneten Gruppen bedroht, schikaniert, eingeschüchtert und getötet oder zur Flucht aus dem Land gezwungen. Mittels eines Präsidialdekrets wurde im Dezember 2020 eine gemeinsame Kommission zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern eingerichtet - doch konkrete Fortschritte bei der Schaffung eines wirksamen Schutzmechanismus bleiben aus (AI 16.3.2021). Insgesamt 65 Menschenrechtler wurden in den letzten beiden Jahren getötet (AI 16.3.2021; vgl. UNAMA 15.2.2021).

Afghanische Mitarbeiter von nationalen und internationalen Hilfsorganisationen sind Ziel von Anschlägen regierungsfeindlicher Gruppen (AA 16.7.2020). Humanitäre Organisationen und Entwicklungsorganisationen müssen bei Projekten in den Distrikten die Gemeinschaften und Ältesten informieren

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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