TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/12 W123 2186424-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.10.2021
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Entscheidungsdatum

12.10.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W123 2186424-1/7E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Nadja Lorenz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2018, Zl. 1096342908-151845982, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX alias XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 24.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am 24.11.2015 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund betreffend Afghanistan an, dass sein Vater im Militärbereich tätig gewesen sei. Die Taliban hätten aufgrund seiner Tätigkeit „unser“ Haus in Brand gesetzt und einige Familienangehörige getötet.

3.       Mit E-Mail vom 11.07.2017 gab der Beschwerdeführer der belangten Behörde die Vertretungsvollmacht an den Verein Queer Base bekannt und eine Stellungnahme zum Erstbefragungsprotokoll ab. Er führte darin aus, dass er sich sexuell vorwiegend zu Männern hingezogen fühle und diese sexuelle Orientierung bereits im Iran geheim ausgelebt habe. Homo- und Bisexualität werde im Iran und in Afghanistan verfolgt. Als er nach Österreich gekommen sei, sei ihm nicht bekannt gewesen, wie die österreichische Gesellschaft und Behörden dem Thema sexuelle Orientierung gegenüberstehen würden. Er habe sich daher nicht getraut, diesen für ihn wesentlichen Fluchtgrund anzugeben. Da der Beschwerdeführer ausschließlich wahrheitsgemäße Angaben gemacht habe, bleibe sein ursprünglicher Fluchtgrund ebenfalls bestehen.

4.       Am 09.01.2018 fand die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. In dieser legte der Beschwerdeführer diverse Unterlagen vor. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

LA: Möchten Sie zu den gemachten Angaben Ergänzungen machen?

VP: Als ich neu nach Österreich kam, hatte ich keine Informationen über das homosexuell sein in Österreich. Ich wusste nicht, ob ich das als Grund, für die Asylantragstellung verwenden kann. Außerdem hatte ich große Angst, ich hatte auch Angst vor meiner Familie. Viele homosexuelle werden im Iran oder Afghanistan aus diesem Grund getötet. Ich dachte, man würde vielleicht nach der EB bei meiner Familie nachfragen, um nachzuforschen. Meine Eltern sind sehr streng religiös. Wenn sie das über mich gewusst hätten, hätten Sie den Namen XXXX gestrichen, ich hätte für sie nicht mehr existiert.

[…]

LA: Warum haben Sie in Österreich um internationalen Schutz angesucht? Warum haben Sie den Iran verlassen? Bitte schildern Sie möglichst lebensnahe, also konkret und mit sämtlichen Details, sodass auch unbeteiligte Personen Ihre Darstellung nachvollziehen können.

VP: Mir ist dann bewusst geworden, dass ich nicht viel Interesse an Frauen habe, deswegen wollte ich ausreisen, aber nicht nur deswegen. Nach Afghanistan konnte ich nicht zurück, weil mein Vater dort Probleme wegen seiner Militärvergangenheit hatte. Weil ich homosexuell, damit meine ich bisexuell bin, kann ich nicht zurück. Ich wurde aufgrund meiner Herkunft schikaniert, mir war es nicht gestattet in die Schule zu gehen, mich weiter zu bilden. Außerdem bin ich Sunnite und die Iraner mögen uns nicht. Mir war es nicht möglich, mit meiner Sportkarriere Taekwando weiterzukommen, weil die Iraner das nicht gestatteten. Meine größte Angst war es, von meiner Familie gezwungen zu werden, zu heiraten. Ich wollte nicht heiraten, ich habe immer Ausreden erfunden. Ich sagte immer, ich möchte mich noch weiter bilden, noch arbeiten. Aber in Wirklichkeit war ich ein Schwuler. Außerdem war XXXX , ein Iraner, mein Freund. In der Schule war ich immer mit XXXX zusammen. Egal wo wir hingegangen sind, wir gingen immer gemeinsam. Damals wussten wir nicht, wieso wir uns zueinander hingezogen fühlten, weil wir noch klein waren. Diese Beziehung wurde immer stärker. Als XXXX und ich zwischen 16 und 17 waren, wurde uns bewusst, dass wir homosexuell sind. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit einer Frau leben könnte. Hätte man zwischen der Beziehung zwischen uns erfahren, dann hätte man uns gesteinigt. Wir waren wir gefangene in einem Käfig. Keiner wusste es. XXXX konnte nicht mit mir nach Europa mitkommen, da er der Erstgeborene seiner Familie war. Er konnte seine Mutter nicht zurücklassen. Wir stehen auch derzeit in Kontakt. Er wird versuchen nach Europa zu kommen. Das waren die Gründe.

Mein Vater ist sehr streng religiös. Hätte er das erfahren, hätte er mich wegen des islamischen Rechts getötet. Außerdem habe ich von anderen und von Familienmitgliedern gehört wie homosexuelle in Afghanistan behandelt werden. Darum war es mir nicht möglich im Iran und auch nicht in Afghanistan zu leben. Ich habe immer alles heimlich gemacht, damit niemand etwas erfährt.

Ich wurde einmal von meiner Mutter verprügelt, weil ich mit einem älteren Mann mitgegangen bin und jeder wusste, dass der mit jüngeren schläft. Ich hatte Angst.

Wenn meine Familie das erfahren hätte, wäre mir etwas schlimmer widerfahren.

Nach Afghanistan konnte ich nicht zurück, weil mein Vater damals ein Militärangehöriger war. Die iranische Regierung missbraucht seine afghanischen Flüchtlinge. Einige meiner Bekannten die dort lebten, mussten nach Syrien in den Krieg ziehen, damit sie eine Aufenthaltsberechtigung für den Iran bekommen. Weder im Iran, noch in Afghanistan ist es für mich möglich zu leben.

Außerdem habe ich gehört, dass viele homosexuelle wie ein Sohn gehalten werden und vergewaltigt werden. Davor hatte ich auch Angst, dass ich in Afghanistan, falls man erkennt, dass ich homosexuell bin, mich festhält und als Sexsklave behandelt.

Das, was ich sagte, ist die Wahrheit.

LA: Haben Sie dem Vorbringen zur Gefährdungslage etwas hinzuzufügen? Haben Sie noch Details Ihrer Schilderung hinzuzufügen?

VP: Ich habe in Afghanistan gar keine Familie. Niemand kann mich dort unterstützen. Das war alles.

[…]“

5.       Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 12.01.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 und § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte IV.-VI.).

6.       Am 12.01.2018 langte eine Stellungnahme und ergänzende Beweismittelvorlage des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein. In dieser wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass Herr XXXX als Zeuge für die sexuelle Orientierung zur Verfügung stehe und er bereit sei, der belangten Behörde Einblick in seine Profile in Dating-Apps sowie Chats mit Herrn XXXX zu geben. Er habe bei seiner Einvernahme Screenshots von diesen Chats und Profilen vorlegen wollen, jedoch habe der Referent verweigert, diese sowie im Internet unter angegebenem Link abrufbare Fotos des Beschwerdeführers in einem einschlägigen Wiener Club in den Akt aufzunehmen. Weiters übermittelte der Beschwerdeführer ergänzend Fotos von Dokumenten, welche die militärische Laufbahn seines Vaters belegen würden. Außerdem erweise sich das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation ergänzungsbedürftig und verwies der Beschwerdeführer auf diverse Berichte zur Situation von „LGBTI-Personen“ in Afghanistan. Daraus ergebe sich die eindeutige Gefahr einer asylrechtsrelevanten Verfolgung.

7.       Gegen den obgenannten Bescheid der belangten Behörde richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 09.02.2018, in der der Beschwerdeführer zusammenfassend ausführte, die belangte Behörde habe einen vorgelegten Brief, in dem der Verfasser seine Beziehung zum Beschwerdeführer schilderte und darauf hinwies, dass er als Zeuge zur Verfügung stehe, nicht gewürdigt und den Liebhaber des Beschwerdeführers nicht befragt. Ebenso verhalte es sich mit einem Unterstützungsbrief des Vereins Queer Base. Die belangte Behörde habe verweigert, Fotos des Beschwerdeführers mit seinem Partner und bei „queeren“ Veranstaltungen in den Akt zu nehmen und damit sein Recht, Beweise einzubringen, verletzt. Obwohl in der Einvernahme am 09.01.2018 ein Antrag für eine Frist zur Stellungnahme gestellt worden sei, sei der Bescheid bereits drei Tage später mit 12.01.2018 datiert und verschickt worden. Die am selben Tag übermittelte Stellungnahme sei nicht berücksichtigt worden und damit das Recht auf Parteigehör verletzt worden. Die Länderberichte seien unvollständig. Der Beschwerdeführer zitierte ergänzend Berichte zur Verfolgung Homosexueller in Afghanistan sowie zur Sicherheitslage in Afghanistan (einschließlich Kabul) und zur Versorgungslage von Rückkehrern in Kabul. Außerdem sei die Beweiswürdigung mangelhaft. Die belangte Behörde argumentiere in sich widersprüchlich und höchst spekulativ, soweit sie davon ausgehe, dass die vorgelegte iranische Identitätskarte nicht vom Beschwerdeführer und das vorgebrachte Leben im Iran falsch sei. Auch ließen sich die behaupteten Widersprüche zu seinem Geburtstag und Namen aufklären. Die Beweiswürdigung zur sexuellen Orientierung sei einseitig und zeige mangelndes Verständnis sowie Sensibilität. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde sei der Beschwerdeführer homo- bzw. bisexuell und entsprächen seine Fluchtgründe der Wahrheit.

8.       Am 30.09.2021 langte ein Schriftsatz des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein, in welchem er die zeugenschaftliche Einvernahme zweier Personen, zu denen der Beschwerdeführer ein besonderes Vertrauensverhältnis pflege, beantragte. Außerdem legte er diverse Unterlagen, insbesondere zu seiner Integration, vor.

9.       Am 06.10.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer sowie die von ihm beantragten Zeuginnen vernommen wurden. Außerdem legte der Beschwerdeführer weitere Schreiben des Vereins Queer Base, zu seiner Integration sowie zu seinem psychischen Zustand vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger und sunnitischer Moslem. Er gehört der Volksgruppe der Uzbeken an, spricht Dari, Usbekisch, Deutsch sowie Englisch und stammt aus der Provinz Sar-e-Pol.

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 24.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich durchgehend in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist homosexuell und fühlte sich bereits im Alter von 15 bis 16 Jahren zu Männern hingezogen. Der Beschwerdeführer lebte seine sexuelle Orientierung bereits vor seiner Ausreise nach Europa aus. Ab einem Alter von 16 oder 17 Jahren bis zu seiner Ausreise nach Europa führte er eine geheime intime und emotionale Beziehung mit einem Klassenkollegen. Außerdem hatte der Beschwerdeführer in diesem Zeitraum sexuelle Kontakte mit anderen Männern.

Der Beschwerdeführer hatte auch nach seiner Ankunft in Österreich kurzfristige emotionale und sexuelle Beziehungen mit anderen Männern, welche er über die App „ XXXX “ oder in Discos kennenlernte. Er wünscht sich, in Österreich einen festen Lebenspartner zu finden.

Der Beschwerdeführer akzeptiert seine Homosexualität und lebt diese in der Öffentlichkeit aus. Die sexuelle Orientierung des Beschwerdeführers ist auch seinen österreichischen Freunden bekannt.

Dem Beschwerdeführer drohen im Fall der Rückkehr in seinem Herkunftsstaat Afghanistan psychische und physische Bedrohungen von erheblicher Intensität aufgrund seiner sexuellen Orientierung.

Zum Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 5 vom 16.09.2021):

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

[…]

Taliban

Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).

[…]

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 14.09.2021

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (BBC 20.8.2021; vgl. AP 3.9.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.8.2021).

Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vgl. REU 3.9.2021).

[…]

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 4 vom 11.06.2021, Schreibfehler teilweise korrigiert):

20.3 Sexuelle Orientierung und Genderidentität

Letzte Änderung: 11.06.2021

Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.3.2020, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist eine Straftat, die – laut afghanischem Strafgesetzbuch, Artikel 646 - mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, Geschlechtsverkehr zwischen Frauen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, geahndet wird (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020).

Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTI nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 16.7.2020).

Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 16.7.2020).

Die LGBTI-Gemeinschaft in Afghanistan ist weiterhin erheblicher Gewalt von Seiten des Staates und der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt (USCIRF 3.2021). Homosexualität wird weithin tabuisiert (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020) und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. LGBTI-Personen berichten, dass sie weiterhin mit Verhaftungen durch Sicherheitskräfte und Diskriminierung sowie Übergriffen und Vergewaltigungen in der Gesellschaft im Allgemeinen konfrontiert sind (USDOS 30.3.2021).

Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 16.7.2020; vgl SFH 30.4.2020).

Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 16.7.2020). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 27.6.2019; vgl. SFH 30.4.2020).

Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).

Es wird auch über „Ehrenmorde“ an tatsächlichen oder vermeintlichen LGBTQI-Personen durch Familienmitglieder berichtet. Oftmals reicht das Gerücht oder die Beschuldigung, um Betroffene in Gefahr zu bringen (SFH 30.4.2020; vgl. AI 5.2.2018).

Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 16.7.2020). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).

Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 16.7.2020; vgl. Corboz 17.6.2019, NG 2.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt (Corbez 17.6.2019). Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (NG 2.3.2018).

Anmerkung: Informationen zum gesellschaftlichen und strafrechtlichen Umgang mit Bacha Bazi finden sich im Unterkapitel ’Kinder’. […]

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

2.1.1. Die Feststellungen zu Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Staatsangehörigkeit sowie Sprachkenntnissen des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde und in dem Beschwerdeschriftsatz. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers aufkommen lässt.

Einreise, Antragstellung und Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet ergeben sich aus der Aktenlage und sind unbestritten.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (vgl. Strafregisterauszug vom 19.07.2021).

Soweit die belangte Behörde den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Iran aufgrund fehlender Kenntnis der genauen Einwohnerzahl und „nennenswerter“ Sehenswürdigkeit der Stadt XXXX als nicht glaubhaft ansieht, erübrigt sich mangels rechtlicher Relevanz ein Eingehen auf die diesbezügliche Argumentation. Es kann daraus auch nicht die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers als Person oder eine fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens bezüglich seiner sexuellen Orientierung abgeleitet werden.

2.2.    Zum Fluchtgrund des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer gab mit Schreiben vom 11.07.2017 erstmals gegenüber der belangten Behörde bekannt, dass er sich sexuell vorwiegend zu Männern hingezogen fühle und diese sexuelle Orientierung bereits im Iran ausgelebt habe. Bei seiner Einvernahme durch die belangte Behörde am 09.01.2018 gab der Beschwerdeführer an, bi- bzw. homosexuell zu sein. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 08.09.2021 sagte der Beschwerdeführer schließlich aus, dass er homosexuell mit ein wenig Interesse an Frauen sei. Auch die in der mündlichen Verhandlung einvernommenen Zeuginnen, welche in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen überaus glaubhaften persönlichen Eindruck in Bezug auf die Thematik der sexuellen Orientierung des Beschwerdeführers vermittelten, bestätigten die Homosexualität des Beschwerdeführers.

Es wird nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer seine Homosexualität in seiner Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes noch nicht erwähnte. Jedoch ist nach der Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union u.a. aufgrund des besonders sensiblen Charakters der in diesem Themenbereich angesiedelten Fragen aus einem zu einem späteren Zeitpunkt erstatteten Vorbringen zur sexuellen Orientierung nicht ohne Weiteres von der dahingehenden Unglaubwürdigkeit eines Antragstellers auszugehen (vgl. EuGH 02.12.2014, C-148/13 bis C-150/13, A, B, C gegen die Niederlande, Rz 69 bis 71). Zudem gab der Beschwerdeführer vor dem Bundesverwaltungsgericht – wie bereits im Schreiben vom 11.07.2017 und in der Einvernahme vom 09.01.2018 – glaubhaft an, seine sexuelle Orientierung aus Angst nicht schon früher vorgebracht zu haben. Dies ist angesichts der aus den Länderberichten hervorgehenden Tabuisierung von Homosexualität in der afghanischen Gesellschaft durchaus plausibel, zumal die Zeugin XXXX (in weiterer Folge: Zeugin 1) überzeugend schilderte, dass der Beschwerdeführer sie am Anfang gefragt habe, ob es in Österreich legal bzw. gesellschaftlich akzeptiert sei, mit einem Mann Sex zu haben (vgl. S 24 in OZ 6).

Ferner wird seitens des Bundesverwaltungsgericht vor dem Hintergrund der auf den Seiten 81 bis 84 des angefochtenen Bescheides enthaltenen beweiswürdigenden Ausführungen nicht übersehen, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner sexuellen Orientierung mehrere Widersprüche bzw. Ungereimtheiten enthält. Die belangte Behörde wies etwa auf Widersprüchlichkeiten in den Ausführungen des Beschwerdeführers bezüglich der zeitlichen Einordnung der ersten sexuellen Erfahrung des Beschwerdeführers (vgl. S 11 und 13 der Niederschrift), dahingend, wo sich seine Familienmitglieder während des Geschlechtsverkehrs bei ihm zuhause aufgehalten hätten (vgl. S 13 f. der Niederschrift), der Anzahl der sexuellen Kontakte im Iran (vgl. S 14 f. der Niederschrift, siehe auch S 11f. in OZ 6) und hinsichtlich der Frage, ob sein Freund von den anderen Männern gewusst bzw. dasselbe gemacht habe (vgl. S 17 der Niederschrift, siehe auch S. 12 f. in OZ 6), hin. Diesbezüglich teilweise auch Widersprüchlichkeiten in den Aussagen vor dem Bundesverwaltungsgericht. Manche der Widersprüche konnte aber im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufgeklärt werden:

So bezeichnete sich der Beschwerdeführer gegenüber der belangten Behörde manchmal als bi- und manchmal als homosexuell. Der Beschwerdeführer konnte vor dem Hintergrund der von ihm genannten sexuellen Kontakte mit Frauen (vgl. S 16f in OZ 6) in der mündlichen Verhandlung jedoch nachvollziehbar darlegen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher gewesen sei, ob seine sexuelle Orientierung Richtung Homo- oder Bisexualität gehe und er in Österreich diesbezüglich Beratung erhalten hätte (vgl. S 5 in OZ 6). In dem Sinn führte auch die Zeugin XXXX (in weiterer Folge: Zeugin 2) aus, dass der Beschwerdeführer versucht habe, „ob es mit Frauen nicht doch funktioniert“ (vgl. S 27 in OZ 6). Diese intimen Kontakte zu Frauen haben zwar schon vor der Einvernahme durch die belangte Behörde stattgefunden, weshalb es dem Beschwerdeführer allenfalls hätte möglich sein können, sich bereits damals seiner sexuellen Orientierung bewusst zu werden. Es ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nach seiner eigenen Schilderung derzeit auch eine körperliche Zuneigung zu Frauen verspüre, aber ausschließlich „sexuell und körperlich, weder emotional noch leidenschaftlich“ und es keine Liebe sei (vgl. S 16 in OZ 6). Folglich ist es in der vorliegenden Konstellation daher also durchaus nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer erst später im Zuge der nach wie vor bestehenden Beratung bei „Queer Base“ (vgl. S 21 in OZ 6) seine eigene Einstufung als „Homosexueller mit ein wenig Interesse an Frauen“ (vgl. S 5 in OZ 6) entdeckte.

Außerdem wird im angefochtenen Bescheid angeführt, dass nicht nachvollziehbar sei, warum der Beschwerdeführer seine Sexualität in Österreich nicht öffentlich auslebe, weil er Vorbild für junge Afghanen sei und sein Ansehen einbüßen würde (vgl. S 84 des Bescheides). Aus dem Niederschrift vom 09.01.2018 ergibt sich jedoch nur, dass der Beschwerdeführer nicht mit Männern „Händchen halte", weil er Mentor für junge Afghanen sei und diese das nicht akzeptieren könnten (vgl. S 19 der Niederschrift, arg. „LA: Leben Sie das auch in der Öffentlichkeit aus? VP: Nein, damit will ich sagen, ich habe auch schon Männer in der Öffentlichkeit geküsst, habe aber geschaut, dass ich keine Bekannten sehe. LA: Haben Sie da andere Menschen gesehen? VP: Ja. LA: Wie oft haben sie das gemacht? VP: Das ist nur ein Kuss und eine Umarmung. Also nichts Großartiges. LA: Gehen Sie mit Männern Händchen haltend umher? VP: Nein, das kann ich nicht. Was ist wenn das jemand sieht? LA: Was ist dann? VP: Weil ich Mentor für junge Afghanen bin. Diese jungen Afghanen können das nicht akzeptieren. LA: Warum nicht? VP: Das dauert.“). Dass ihn seine Vorbildwirkung daran hindere, nannte er jedoch nicht explizit und verneinte der Beschwerdeführer auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung, dass dies der Grund gewesen sei (vgl. S. 19 in OZ 6). Zudem beschrieb der Beschwerdeführer, dass er bis etwa Ende 2018/Anfang 2019 insbesondere wegen seiner „Landsleute“ Angst gehabt habe, seine Homosexualität in Österreich offen auszuleben (vgl. S 17 f. in OZ 6). In dem Sinn merkte die Zeugin 1 an, dass der „Coming Out“-Prozess des Beschwerdeführers sehr lange gedauert habe und mit Ängsten verbunden gewesen sei (vgl. S 24 in OZ 4). Zumal die Zeugin 2 anführte, dass der Beschwerdeführer beim „Outing“ ihr gegenüber eine „blöde Reaktion“ befürchtet habe (vgl. S 26 in OZ 6), ergibt sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes, dass der Beschwerdeführer aus Angst vor fehlender Akzeptanz durch die jungen Afghanen – und nicht wegen seiner Vorbildfunktion – seine sexuelle Orientierung nicht öffentlich auslebte. Diese Verhaltensweise ist angesichts der in den Länderberichten beschriebenen, auch von der afghanischen Gesellschaft ausgehenden, erheblichen Gewalt gegenüber der LGBTI-Gemeinschaft durchaus nachvollziehbar.

Im Übrigen vermögen die aufgezeigten Ungereimtheiten und Widersprüche nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nichts an der Tatsache zu ändern, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen homosexuellen Mann handelt. Insbesondere in Zusammenschau den Schilderungen der vernommenen Zeuginnen, welche weitgehend mit der Darstellung des Beschwerdeführers übereinstimmen, bestand im Rahmen der durchgeführten Verhandlung eindeutig der Eindruck, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen homosexuellen Mann handelt. Den Zeuginnen war nicht nur die längere Beziehung des Beschwerdeführers mit einem Klassenkollegen sowie dessen intimen Kontakte mit anderen Männern im Iran bekannt, sondern sie wussten auch über die seine sexuellen Erfahrungen mit Frauen in Österreich Bescheid. Außerdem konnten sie einen Freund des Beschwerdeführers in Österreich namentlich nennen, welchen die Zeugin 1 bei einem Gartenfest sogar persönlich kennenlernte, wobei für sie eindeutig gewesen sei, dass „die beiden zusammen sind“ (vgl. S 23 und 27 in OZ 6). Darüber hinaus konnten beide Zeuginnen auch einen Einblick in die „Gefühlswelt“ des Beschwerdeführers geben. So beschrieben die Zeuginnen übereinstimmend, dass es dem Beschwerdeführer in Österreich schwer fiel, eine langfristige Beziehung einzugehen. Insbesondere die Zeugin 2 schilderte anschaulich, dass der Beschwerdeführer eine ernsthafte Beziehung mit Zukunft führen wolle, aber kein verlässlicher Partner sein könne, weil er nicht wisse, ob er in Österreich bleiben könne (vgl. S 26 f. in OZ 6); dies entspricht auch den Ausführungen des Beschwerdeführers (vgl. S 14 in OZ 6). Zudem erklärte die Zeugin 1 mehrfach einfühlsam, wie sehr der Beschwerdeführer unter der Trennung von seinem Klassenkollegen aus dem Iran litt (vgl. S 22 ff. in OZ 6). Im Übrigen konnten beide Zeuginnen spontan vom „Outing“ des Beschwerdeführers ihnen gegenüber erzählen (vgl. S 25 f. in OZ 6) und berichtete die Zeugin 1 von dessen anfänglichen Ängsten bezüglich seiner sexuellen Orientierung (vgl. S 24 in OZ 6). Die Angaben der Zeugin 1 weichen zwar insoweit von jenen des Beschwerdeführers ab, als der Geschlechtsverkehr mit dem Klassenkollegen nach ihrer Darstellung im Freien (vgl. S 22 in OZ 6) und nicht in einem Zimmer (vgl. S 7 in OZ 6) stattgefunden habe. Zumal die Zeugin 1 dabei nur Erzählungen des Beschwerdeführers wiedergab und nicht von eigenen Wahrnehmungen berichtete, ist dieser Widerspruch in Anbetracht sämtlicher Umstände nicht geeignet die Glaubhaftigkeit der Zeugin 1 oder des Beschwerdeführers bezüglich dessen Homosexualität zu beeinträchtigen. In Anbetracht der ausführlichen und authentischen Schilderungen der vernommenen Zeuginnen besteht kein Zweifel an dem Umstand, dass sie ein enges Vertrauensverhältnis mit dem Beschwerdeführer pflegen und deren Angaben zur sexuellen Orientierung des Beschwerdeführers der Wahrheit entsprechen.

Im Übrigen wirken die Darstellungen des Beschwerdeführers sowie der vernommenen Zeuginnen weder prozesstaktisch übertrieben noch konstruiert und werden durch die im Verfahren vorgelegten Chatverläufe samt Fotos sowie den Schreiben des Vereins Queer-Base und von XXXX untermauert.

Aus diesen Gründen sowie angesichts des persönlichen Eindrucks, den das erkennende Gericht im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnen hat, konnte das Vorbringen des Beschwerdeführers als glaubhaft qualifiziert und den Feststellungen zugrunde gelegt werden.

Auch ist das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers mit den vorliegenden Länderberichten aus der Zeit vor der Machtübernahme der Taliban vereinbar. Aus diesen geht insbesondere hervor, dass der Geschlechtsverkehr zwischen Männern eine Straftat war, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet wurde. Gemäß dem afghanischen Strafgesetzbuch wurden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Die afghanische Verfassung kannte kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Lebens wurden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und konnten daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärkten Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Homosexualität wurde weitverbreitet tabuisiert und als unanständig betrachtet. Insbesondere im Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen betreffend die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan ist mit einer weiteren Verschlechterung der Lage für homosexuelle Personen zu rechnen, zumal die Taliban seit 2001 einige Schlüsselprinzipien beibehielten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Wegen der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens, wonach dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung wegen dessen offenen und öffentlich ausgelebten Homosexualität, war eine weitere Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer im Verfahren weiter vorgebrachten Gründen zum Verlassen seines Herkunftsstaats nicht erforderlich.

2.3.    Zum Herkunftsstaat:

Es wurde vor allem Einsicht genommen in folgende Erkenntnisquellen des Herkunftsstaates des Beschwerdeführers:

1.       Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 5 vom 16.09.2021)

2.       Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Version 4 vom 11.06.2021)

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Es muss objektiv nachvollziehbar sein, dass der Beschwerdeführer im Lichte seiner speziellen Situation und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Herkunftsstaat Furcht vor besagter Verfolgung hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 idgF kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die "begründete Furcht vor Verfolgung". Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiver Weise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Weiters muss sie sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen stellen im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr dar, wobei hiefür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist. Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß § 3 Abs. 3 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn den Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§11 AsylG) offen steht (Z.1) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat (Z. 2).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG z.B. VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert, deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/-20/0539).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 27.06.1995, 94/20/0836; 23.07.1999, 99/20/0208; 21.09.2000, 99/20/0373; 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 12.09.2002, 99/20/0505; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 m.w.N.).

Abgesehen davon, dass einer derartigen nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH vom 11.06.1997, 95/01/0617; 10.03.1993, 92/01/1090) bzw. wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl. VwGH vom 30.06.2005, 2002/20/0205; VwGH vom 23.11.2006, 2005/20/0551-6, VwGH-Beschluss vom 29.06.2006, 2002/20/0167-7).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191).

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 1991 setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560). So erscheint es im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, Zl. 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, Zl. 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, Zl. 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, Zl. 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, Zl. 92/01/0181). Auch unbestrittenen Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, Zl. 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, Zl. 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH vom 23.01.1997, Zl. 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, Zl. 2001/20/0457).

Das Bundesverwaltungsgericht geht auf Grund des diesbezüglich glaubhaften Vorbringens des Beschwerdeführers sowie insbesondere der in der mündlichen Verhandlung befragten Zeuginnen in Zusammenschau mit der vorliegenden Berichtslage zum Herkunftsstaat davon aus, dass dem Beschwerdeführer auf Grund seiner sexuellen Orientierung (Homosexualität) im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen maßgeblicher Intensität drohen würden.

Die den Beschwerdeführer treffende Verfolgungsgefahr findet schon deshalb ihre Deckung in einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, weil ihm eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der Personen mit einer (von der Heterosexualität) abweichenden sexuellen Orientierung, welche den in Afghanistan gepflegten Wertvorstellungen zuwiderläuft, droht. Es kann vom Beschwerdeführer nicht erwartet werden, die einen Teil seiner Identität darstellende sexuelle Orientierung zu verbergen (vgl. VwGH 20.09.2018, Ra 2018/20/0043 mit Bezugnahme auf EuGH 07.11.2013, C-199/12 bis C-201/12, X, Y, Z; vgl. auch UNHCR, Kapitel 3.A.12 sowie EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 2.14).

Auf Grund der vorliegenden Länderberichte ist auch nicht davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer ausreichender staatlicher Schutz vor einer Verfolgung durch Privatpersonen zukommen würde. Daraus geht vielmehr hervor, dass die Verfolgung von homosexuellen Männern bereits vor der Machtübernahme der Taliban auch von staatlichen Stellen ausgehen konnte und die Behörden somit nicht als schutzwillig anzusehen waren. Wie bereits in der Beweiswürdigung dargelegt, ist infolge der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan mit einer weiteren Verschlechterung der Situation für Homosexuelle zu rechnen. Daher kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat ausreichenden Schutz vor einer Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung erhalten würde.

Die dem Beschwerdeführer drohende Verfolgung ist auch nicht etwa auf einen bestimmten Landesteil beschränkt, weil ihm die Entdeckung seiner sexuellen Orientierung überall drohen würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt daher für den Beschwerdeführer nicht in Betracht.

Im Verfahren hat sich sohin gezeigt, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der sexuellen Orientierung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen (Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK).

Vor diesem Hintergrund erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer ursprünglich behaupteten Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates.

Ein Abweisungsgrund gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 liegt im konkreten Fall nicht vor, da dem Beschwerdeführer - wie gezeigt - keine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht und dieser keinen Asylausschlussgrund gesetzt hat. Im konkreten Fall haben sich auch keine Anzeichen ergeben, dass der Beschwerdeführer mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und/oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Verbindung steht.

Dafür, dass der Beschwerdeführer in Österreich straffällig geworden wäre, existieren keine Anhaltspunkte; Stand 19.07.2021 scheint im Strafregister der Republik Österreich keine Verurteilung auf.

Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der gegenständlichen Beschwerde stattzugeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 24.10.2015 und damit vor dem 15.11.2015 gestellt wurde. Daher sind die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 in der Fassung des BGBl. I Nr. 24/2016 gemäß § 75 Abs. 24 leg. cit. im vorliegenden Fall nicht anzuwenden und § 2 Abs. 1 Z 15 leg cit. in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 24/2016 gilt weiter.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft geschlechtsspezifische Diskriminierung geschlechtsspezifische Verfolgung Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit Homosexualität inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung sexuelle Orientierung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W123.2186424.1.00

Im RIS seit

21.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

21.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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