TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/13 W217 2175486-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.10.2021
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Entscheidungsdatum

13.10.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W217 2175486-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 05.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 1 leg.cit wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge „BF“), StA. Afghanistan, stellte am 26.11.2015 einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

1.1.    Bei der Erstbefragung durch Organwalter der LPD Oberösterreich am 26.11.2015 gab der BF an, er sei am XXXX geboren, sei sunnitischer Moslem und Paschtune, spreche Paschtu und Dari, habe 11 Jahre die Grundschule absolviert und den Beruf des Polizisten ausgeübt. Er sei traditionell verheiratet und habe drei Töchter. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, sein Leben sei in Afghanistan in Gefahr gewesen. Er sei ca. drei- bis viermal von den Taliban mit dem Tod bedroht worden, weil er Polizist gewesen sei. Die Taliban hätten dreimal versucht, ihn zu erschießen, aber er hätte sich immer retten können. Einmal hätten sie an einer Tür Sprengstoff angebracht um ihn in die Luft zu sprengen, dadurch sei er an Bauch und Beinen verletzt worden. Er wolle eine bessere Zukunft für seine Kinder.

1.2.    Am 03.10.2017 wurde der BF von einem Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl („BFA“) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu einvernommen. Er gab zusammengefasst an, er habe in Paktia als Polizist gearbeitet. Sein letzter Einsatz sei die Durchsuchung eines Hauses eines Kommandanten namens XXXX gewesen. Er habe diesen im Haus gesehen und gesagt, dass er hinausgehen solle, da die Amerikaner Fingerabrücke nehmen wollten. Er sei zwei Jahre in Guantanamo eingesperrt gewesen. Als er wieder freigelassen worden sei, habe er mit dem BF Kontakt aufgenommen und angefangen, ihm zu drohen. Einmal sei er in der Nähe von XXXX auf eine Mine gefahren und sei von Splittern auf der Mine verletzt worden. Ein anderes Mal habe der Mullah zwei Männer geschickt, um den BF am Bazar umzubringen. Dies sei jedoch nicht geglückt. Im Jahr 1394, im Ramadan, sei er bei einem Kreisverkehr gesessen. Als er aufgestanden und ein paar Schritte weggegangen sei, sei der Sessel explodiert und ein Splitter habe sein Bein erwischt. Daraufhin habe er seinen Job verlassen, sei nach Kabul gegangen und habe seine Frau geholt. Nach 15 Tagen sei er ausgereist.

2.       Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA unter Spruchpunkt I. den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 idgF (AsylG) und unter Spruchpunkt II. gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass gemäß § 46 FPG die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Zunächst wies die belangte Behörde auf widersprüchliche Angaben und Unterlagen des BF zu seinem Geburtsdatum hin, beurteilte jedoch als nachvollziehbar, dass der BF eine Ausbildung zum Polizisten absolviert habe und seinen Dienst in Paktia absolviert habe. Bezüglich der Verwandten des BF führte die Behörde aus, dass der BF nach wie vor Verwandte im Heimatland, dabei die gesamte Kernfamilie in Kabul sowie auch seine Frau und Kinder in der Herkunftsprovinz Kunar, hätte. Darüber hinaus sei der BF in Kabul aufgewachsen und verfüge dort über viele soziale Kontakte wie auch Ortskenntnisse.

Betreffend die Fluchtgründe des BF führte die belangte Behörde aus, dass der BF sein Vorbringen nur vage, nicht plausibel und schlussendlich auch noch widersprüchlich vorgebracht habe. Er habe keine Zeitangaben gemacht und lediglich Details geschildert, bei denen es sich nur um Vermutungen und eine konstruierte Geschichte gehandelt habe. Neben den vagen Schilderungen seien die Ausführungen auch nicht plausibel. So sei nicht plausibel, dass der angeblich einflussreiche Talibanführer nicht in der Lage gewesen wäre, den BF innerhalb von drei Jahren zu töten. Zudem sei es nur zu sehr wenigen Drohungen innerhalb von drei Jahren gekommen und seien die Schilderungen des BF hinsichtlich des Bombenanschlages auf ihn widersprüchlich gewesen. Als unplausibel beurteilte die belangte Behörde ferner, dass die Taliban ihn vorgewarnt hätten, wenn sie ihn tatsächlich töten hätten wollen und sei auszuschließen, dass die Taliban in der Lage gewesen wären, den Polizeifunk abzuhören. Die Angaben des BF hätten auch diverse Widersprüche zu seiner Erstbefragung ergeben, wofür der BF keine plausible Erklärung habe abgeben können. Der BF sei somit nicht einmal ansatzweise in der Lage gewesen, eine Gefährdungslage für sein Heimatland Afghanistan glaubhaft zu machen, zumal er diese nur vage, nicht plausibel und schlussendlich dann auch noch widersprüchlich vorgebracht habe. Zudem solle es diese Bedrohungen nur in der Provinz Paktia gegeben haben und hätte er jederzeit nach Kunar oder nach Kabul gehen können.

Der BF könne seinen Lebensunterhalt in Kabul bestreiten. Es bestehe kein Zweifel daran, dass er als arbeitsfähiger, junger und gesunder Mann, welcher über eine elfjährige Schulbildung und eine abgeschlossene Polizeiausbildung verfüge, sich dort selbst versorgen könne, zum er auf die Unterstützung seiner in Afghanistan lebenden zahlreichen Familienmitglieder zählen könne.

3.       Dagegen richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde des BF, in der er ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren und inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend macht. Die belangte Behörde habe es unterlassen, notwendige Recherchen zum konkreten Fluchtvorbringen des BF anzustellen. Es würden etwa konkrete Berichte zur Situation von Personen, denen eine gegen die Taliban gerichtete Gesinnung durch ebendiese unterstellt werde, da sie als Mitglieder der afghanischen Polizei mit westlichen Mächten kooperierten, fehlen. Die Behörde hätte auch detaillierte Informationen zur Situation von Deserteuren einholen müssen. Auch der Beweiswürdigung durch die belangte Behörde trat der BF entgegen und führte unter anderem aus, dass diverse von der Behörde aufgegriffene Widersprüche im Vorbringen des BF auf mangelhafte Übersetzungen und Rückübersetzungen zurückzuführen wären. Weiters verwies der BF auf Judikatur des VfGH, wonach sich die Asylbehörden nicht vorrangig auf Widersprüche im Fluchtvorbringen bei der Erstbefragung und bei der Einvernahme stützen dürften. Unter inhaltlicher Rechtswidrigkeit macht der BF geltend, dass er wegen unterstellter politischer Überzeugung, nämlich oppositioneller politischer Überzeugung, auf Grund seiner Desertion durch den afghanischen Staat und durch die Taliban auf Grund seiner politischen Überzeugung, nämlich dem Staat als Polizist zu dienen, verfolgt werde. Aufgrund dessen drohe ihm in Afghanistan unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung durch Ermordung, Folter und Haft und durch die allgemein sehr schlechte Sicherheitslage in Afghanistan, weswegen er nicht fähig sei, in Afghanistan zu überleben und sich finanziell zu erhalten. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm nicht offen.

4.       Einlangend am 06.11.2017 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt bezughabendem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor.

5.       Mit Schreiben vom 11.08.2020 übermittelte der BF eine Stellungnahme, in der er darauf hinwies, nach den aktuellen UNHCR-Richtlinien als ehemaliger Angehöriger des afghanischen Militärs zu einer besonders gefährdeten Personengruppe zu zählen. Da der BF aufgrund seiner Desertion auch staatliche Verfolgung befürchte und ihm zudem landesweite Verfolgung durch Taliban drohe, stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Weiters verwies der BF auf aktuelle Länderberichte zur Corona-Pandemie, woraus zu schließen sei, dass der BF im Falle einer Rückkehr nicht in der Lage sei, Fuß zu fassen und in Afghanistan in eine existenzbedrohende Notlage geraten werde.

6.       Am 18.08.2020 fand vor dem BVwG in Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in der der BF zu den Gründen seiner Ausreise und über eine Rückkehrgefährdung befragt wurde.

7.       Mit Erkenntnis vom 05.10.2020, Zl. W217 2175486-1/9E, wies das BVwG die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. als unbegründet ab, die Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wurde mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat: "Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."

8.       Gegen dieses Erkenntnis erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Der VfGH hob mit Erkenntnis vom 24.02.2021, E 4048/2020-9, das Erkenntnis des BVwG auf.

9.       Am 29.09.2021 fand vor dem BVwG in Beisein eines länderkundigen Sachverständigen und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geb. XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, stammt aus der Provinz Kunar, Distrikt Watapur, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht jedoch auch Dari und Urdu. Der BF ist gesund.

Der BF ist traditionell mit XXXX verheiratet und hat drei Kinder. Seine Frau und seine Kinder leben derzeit in der Provinz Kunar, im Distrikt Watapur.

Der BF wuchs in der Provinz Kunar auf, lebte in der Folge jedoch auch in Jalalabad und Kabul. In Kabul besuchte er bis zur elften Klasse die Schule. Der BF absolvierte im Jahr 1386 eine Polizeiausbildung und war anschließend als Polizist in der Provinz Paktia tätig. Er stand im Rang eines Unteroffiziers.

Der BF hat vier Stiefbrüder sowie eine Schwester. Diese leben, wie auch der Vater des BF und dessen Stiefmutter, in Kabul. Der Vater ist als Lehrer tätig.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2.    Zur aktuellen Situation in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden.

Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID 19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sindbereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. AC-CORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2057829.html, Zugriff 8.9.2021

• AAN - Afghan Analyst Network (25.7.2021): Schools reopen in Afghanistan after months of COVID19 closure, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/schools-reopen-in-afghanistan-after-months-ofcovid19-closure/2313635, Zugriff am 8.9.2021

• AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pandemic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 8.9.2021

•        ABC News (27.1.2021): Afghanistan prepares to vaccinate citizens against coronavirus amid ongoing violence, https://www.abc.net.au/news/2021-01-27/afghanistan-prepares-for-vaccine-rolloutamidongoing-violence/13096290, Zugriff 8.9.2021

•        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (25.5.2021): Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gewalt gegen Kinder und etwaige Veränderungen durch die Covid19-Pandemie; Zugang zu Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit Pandemie, insb. in Kabul und Mazar-e-Sharif, https://www.ecoi.net/en/document/2052138.html, Zugriff 8.9.2021

•         AI -Amnesty International (3.2021): Report on impact of the COVID-19 pandemic and food shortage on IDPs, https://www.ecoi.net/en/document/2048184.html, Zugriff 8.9.2021

•        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (31.5.2021): Briefing Notes, https: //www.ecoi.net/en/document/2052716.html, Zugriff 8.9.2021

• BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (8.2.2021): Briefing Notes, https: //www.ecoi.net/en/document/2045120.html, Zugriff 8.9.2021

• DW - Deutsche Welle (17.6.2021): Die COVID-Tragödie in Afghanistan, https://www.dw.com/de/diecovid-tragödie-in-afghanistan/a-57935378, Zugriff 8.9.2021

• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Afghanistan, https://www.hrw.org/ world-report/2021/country-chapters/afghanistan, Zugriff 8.9.2021

• IOM - International Organization for Migration (18.3.2021): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan - Update, https://www.ecoi.net/de/dokument/2047399.html, Zugriff 8.9.2021

• IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html, Zugriff 8.9.2021

• IPC - Integrated Food Security Phase Classification (22.4.2021): Afghanistan: integrated Food Security Phase Classification Snapshot, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-integ rated-food-security-phase-classification-snapshot-april-2021, Zugriff 8.9.2021

• IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff 8.9.2021

• NH - New Humanitarian, The (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid, Zugriff 8.9.2021

• REU - Reuters (26.1.2021): Taliban backs vaccine drive as Afghan government receives $112 million funding pledge, https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-afghanistan-vaccin/taliban-backs-afghan-vaccine-drive-after-covax-pledges-112-million-idUSKBN29V115, Zugriff 8.9.2021

• RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (23.2.2021a); Afghanistan Kicks Off COVID-19 Vaccination Campaign Amid Rising Violence, https://gandhara.rferl.org/a/covid-vaccine-afghanistan-healthcare-violence/31117388.html, Zugriff 8.9.2021

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• SIGAR - Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (30.4.2021): Quarterly Report to the United States Congress, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050829/2021-04-30qr.pdf, Zugriff 8.9.2021

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• TG - Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-covid-19, Zugriff 8.9.2021

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• UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report 15 October 2020, https://relief web.int/report/afghanistan/afghanistan-covid-19-multi-sectoral-response-operationalsituation-report-15, Zugriff 8.9.2021

• USAID - United States Agency for International Development [USA] (11.6.2021): Afghanistan Complex Emergency, https://www.ecoi.net/en/document/2053806.html, Zugriff 8.9.2021

• WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-againstcovid-19-afghanistan, Zugriff 8.9.2021

• WHO - World Health Organization (6.9.2021): COVID-19 Epidemiological Bulletin, Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/covid-19-epidemiological-bulletin-afghanistan-epidemiological-week-35-2021-29-aug, Zugriff 8.9.2021

• WHO - World Health Organization (28.8.2021): Afghanistan Emergency Situation Report, Issue 3, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059345/Situation-report-issue-3.pdf, Zugriff 8.9.2021

• WHO - World Health Organisation (4.6.2021): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 8.9.2021

• WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 -SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports/documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 18.9.2021

Politische Lage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihrenAufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.3.2021): Afghanistan: Politisches Porträt,https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/politisches-portraet /204718 , Zugriff 9.9.2021

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•        AJ - Al Jazeera (23.8.2021): Explainer: The Taliban and Islamic law in Afghanistan, https://www.al jazeera.com/news/2021/8/23/hold-the-taliban-and-sharia-law-in-afghanistan , Zugriff 10.9.2021

•        AZ - Abendzeitung (17.8.2021): Taliban übernehmen wichtigste Behörden in Afghanistan, https: //www.abendzeitung-muenchen.de/politik/taliban-uebernehmen-langsam-behoerden-in-afghanista n-art-750083 , Zugriff 9.9.2021

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•        BBC - British Broadcasting Corporation (8.9.2021b): Afghanistan: Don’t recognise Taliban regime, resistance urges, https://www.bbc.com/news/world-asia-58484155 , Zugriff 9.9.2021

•        BZ - Berliner Zeitung (8.9.2021): USA und Deutschland: Keine baldige Anerkennung von TalibanRegierung, https://www.berliner-zeitung.de/news/usa-und-deutschland-keine-baldige-anerkennu ng-von-taliban-regierung-li.181782 , Zugriff 9.9.2021

•        CH - Chatham House (24.8.2021): Afghanistan: Money can be the milk of Taliban moderation, https://www.chathamhouse.org/publications/the-world-today/2021-08/afghanistan-money-can-be -milk-taliban-moderation , Zugriff 9.9.2021

•        FA - Foreign Affairs (23.8.2021): How Will the Taliban Rule?, https://www.foreignaffairs.com/article s/afghanistan/2021-08-23/how-will-taliban-rule , Zugriff 24.8.2021

•        FP – Foreign Policy (23.8.2021): What a Taliban Government Will Look Like, https://foreignpolicy. com/2021/08/23/taliban-government-afghanistan/ , Zugriff 24.8.2021

•        FR - Frankfurter Rundschau (18.8.2021): Machtübernahme in Afghanistan: Wer sind die Anführer der Taliban, https://www.fr.de/politik/taliban-afghanistan-anfuehrer-regierung-krieg-mudschaheddi n-islamisten-90923873.html , Zugriff 15.9.2021

•        ICG - International Crisis Group (24.8.2021): Taliban Rule Begins in Afghanistan, https://www.cris isgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/taliban-rule-begins-afghanistan , Zugriff 9.9.2021

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•        NZZ - Neue Zürcher Zeitung (7.9.2021): Die Taliban bilden eine Regierung – und darin sitzen weder andere politische Kräfte noch Frauen, https://www.nzz.ch/international/die-taliban-bilden-eine-reg ierung-und-darin-sitzen-weder-andere-politische-kraefte-noch-frauen-ld.1644387?kid=nl165_202 1-9-7&mktcid=nled&ga=1&mktcval=165_2021-09-08&trco= , Zugriff 8.9.2021

•        ORF - Österreichischer Rundfunk (7.9.2021): Gesuchter Terrorist wird Innenminister, https://orf.at /stories/3227772/ , Zugriff 9.9.2021

•        REU - Reuters (8.9.2021): Resistance leaders Massoud, Saleh still in Afghanistan, diplomat says, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/resistance-leaders-massoud-saleh-still-afghanistan-di plomat-says-2021-09-08/ , Zugriff 13.9.2021

•        RFE/RL - Radio Free Europe / Radio Liberty (6.8.2021): Who’s Who In The Taliban: The Men Who Run The Extremist Group And How They Operate, https://gandhara.rferl.org/a/taliban-leadershipstructure-afghan/31397337.html , Zugriff 3.9.2021

•        TAG - Tagesschau (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.d e/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html , Zugriff 3.9.2021

•        TD - The Diplomat (10.9.2021): What the Taliban’s Interim Government Means for Afghanistan’s Neighbors, https://thediplomat.com/2021/09/what-the-talibans-interim-government-means-for-afg hanistans-neighbors/ , Zugriff 13.9.2021

•        UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (2.9.2021): The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, https://www.ecoi.net/en/file/local/2 060189/sg_report_on_afghanistan_september_2021.pdf , Zugriff 13.9.2021

•        WoM - Worldometers (o.D.): Afghanistan Population, https://www.worldometers.info/world-popula tion/afghanistan-population/ , Zugriff 9.9.2021

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban

Letzte Änderung: 16.09.2021

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021).

Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“ (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/docume nt/2057829.html , Zugriff 3.9.2021

•        AAN -AfghanistanAnalysts Network (17.8.2021):Afghanistan Has a New Government: The country wonders what the new normal will look like, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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