TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/16 W123 2183661-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.11.2021
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Entscheidungsdatum

16.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W123 2183661-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2017, Zl. 1103207500-160115185, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 23.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am 24.01.2016 durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass er vor dem Krieg geflohen sei. Vor ca. 7 Monaten sei sein Vater von den Taliban entführt worden. „Wir“ Hazara würden in Afghanistan umgebracht. Weitere Gründe habe er nicht. Er habe Angst vor dem Krieg und vor den Taliban.

3.       Mit Verfahrensanordnung vom 21.06.2017 stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren wurde.

4.       Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil eines Landesgerichts vom 08.11.2017 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 2a SMG, 15 StGB sowie gemäß § 27 Abs. Z 1 2. Fall SMG als Jugendlicher unter Bestimmung einer 3-jährigen Probezeit zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 4 Monaten verurteilt.

5.       Am 21.06.2017 fand die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…]

LA: Was war Ihrer Meinung nach der fluchtauslösende Moment, weshalb Sie Afghanistan verlassen haben?

AW: Ich habe mit meinem Vater zusammen gearbeitet. Manchmal, als ich nicht zur Schule gegangen bin, habe ich geholfen. Die Firmen sind aus Kabul gekommen und mein Vater war ein guter Arbeiter und war gefragt. Mein Vater ist auch ca. 2-3 Mal die Woche nach Kabul gefahren, um zu arbeiten. Meine Mutter war immer in Kontakt mit ihm. Aber das letzte Mal ist er nicht zurückgekommen. Wir haben 2-3 Tage auf ihn gewartet. Dann haben wir gehört, dass er entführt wurde. Es wurde aber nicht nur mein Vater entführt, sondern auch andere Männer oder auch den Nachbarn und andere arbeitende Männer. Sie sind alle verschwunden. Ab dem Zeitpunkt waren wir dann alleine zu Hause. Wir hatten Angst am Abend, weil in unserem Dorf die Taliban waren. Nachts sind die Taliban dann rausgegangen. Meine Mutter hatte Angst, ich war der älteste Sohn zu Hause. Sie sagte zu mir, sie will nicht, dass ich in diesem Land bleibe, ich bin dort in Gefahr. Ich bin dann nicht mehr zur Schule gegangen, weil ich Angst hatte. Es gab jeden Tag Attentate. Dann bin ich hierhergekommen.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe Afghanistan betreffend?

AW: Nein.

LA: Mit welchen Firmen aus Kabul hat Ihr Vater zusammengearbeitet?

AW: Das weiß ich nicht, es waren jedenfalls große Firmen.

LA: Von wem haben Sie erfahren, dass Ihr Vater entführt worden ist?

AW: Die Leute haben es erfahren, es war nicht nur unser Vater, der entführt worden ist. Auch andere Männer sind entführt worden. Man hat es dann erfahren.

LA: Kennen Sie andere Personen, die auch entführt worden sind?

AW: XXXX , er war in der Nähe unseres Geschäftes. Auch XXXX , es waren junge Männer, die die Taliban entführt haben.

LA: Wie hat sich so ein Tag für Sie in Afghanistan abgespielt?

AW: Ich habe entweder zu Hause gearbeitet, aber nicht immer. Zu Hause habe ich mich um die Nutztiere gekümmert.

LA: Welche Nutztiere hatten Sie?

AW: Wir hatten 2 Kühe und 2 Schafe.

LA: Was haben Sie an den anderen Tagen gemacht?

AW: Ich bin mit den Jungs zum Basar gegangen oder spazieren. Wir hatten aber Angst.

LA: Warum hatten Angst?

AW: Wegen den Taliban. Sie hätten uns vielleicht töten können oder entführen können oder auch vergewaltigen können oder uns für Attentate ausbilden können. Wir wollten das aber nicht.

LA: Sind Sie bedroht worden?

AW: Nein, aber ich habe mit meinem Vater zusammen im Geschäft gearbeitet. Zu 100% wäre ich auch eines Tages entführt worden.

LA: Wo hat es Attentate gegeben?

AW: Vor einiger Zeit gab es einen Anschlag in Kabul und gestern gab es ein Attentat in Jalalabad. Es gibt auch viele Entführungen.

LA: Wurden Sie gefragt, ob Sie ausreisen wollen?

AW: Ja, sie hat mich gefragt und gesagt, dass mein Leben in Gefahr ist. Sie sagte ich muss gehen.

LA: Was erwartet Ihre Mutter von Ihnen?

AW: Wenn es möglich ist, dann, dass ich sie hierherbringe. Sie sind dort auch in Gefahr.

LA: Wurden die Entführungen der Polizei gemeldet?

AW: Ja, aber die Polizei kann nichts machen.

LA: Hätten Sie damals die Möglichkeit gehabt, sich woanders ins Heimatland zu begeben, um sich der angeben Übergriffe/Probleme/Schwierigkeiten zu entziehen bzw. haben Sie das schon erwogen / versucht – z.B. in ein anderes Gebiet?

AW: Nein, wo sollte ich hingehen.

LA: In Kabul lebt eine Tante von Ihnen mit ihrer Familie?

AW: Wir hatten nicht so viel Geld, dass wir nach Kabul gehen.

LA: Was würde bei aktueller (fiktiver) Heimkehr nach Afghanistan passieren? Was würde Sie dort erwarten?

AW: Ich würde zu 100% getötet werden. Sie haben meinen Vater entführt und kennen mich auch. Ich will in einem ruhigen Land leben, wo kein Krieg herrscht. In einem Land, wo es egal ist, ob du Schiit bist oder nicht, ob du eine helle Haut hast oder eine dunkle.

LA: Warum können Ihre Angehörigen weiterhin in Afghanistan leben, während Sie ausreisen mussten?

AW: Ich war der älteste Sohn und meine Brüder sind noch klein.

[…]“

6.       Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG bzw. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte IV.-VI.).

7.       Gegen den obgenannten Bescheid der belangten Behörde richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 28.12.2017, in der der Beschwerdeführer zusammenfassend ausführte, sein Vater sei von den Taliban entführt worden und seither verschollen. Auch der Beschwerdeführer habe Angst, von den Taliban entführt, zwangsrekrutiert oder getötet zu werden. Minderjährige seien einem erhöhten Verfolgungsrisiko durch die Taliban ausgesetzt. Zusätzlich würden Hazara ethnisch-religiös diskriminiert werden. Durch das Wiedererstarken der Taliban habe sich seine Gefährdungslage massiv verschlechtert, alleine der Weg von Kabul nach Ghazni sei viel zu gefährlich. Die ihn bedrohende Situation sei in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestünde für Minderjährige nicht.

8.       Mit Urteil eines Landesgerichts vom 28.02.2018 wurde der Beschwerdeführer als Jugendlicher wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 2a SMG, wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 StGB sowie wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 und 4 StGB zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, wobei ein Strafteil in der Dauer von 12 Monaten für eine Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde. Außerdem wurde die Probezeit der mit Urteil vom 08.11.2017 verhängten Freiheitsstrafe auf 5 Jahre verlängert.

9.       Die belangte Behörde stellte mit Bescheid vom 30.11.2018 fest, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 06.03.2018 verloren hat.

10.      In der Stellungnahme vom 05.08.2019 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er wegen der bereits weit fortgeschrittenen Integration in die österreichische Gesellschaft als „westlich orientiert“ bezeichnet werden könne. Seine liberale Einstellung zeige sich unter anderem darin, dass er eine außereheliche Lebensgefährtin sowie zahlreiche österreichische Freunde habe. Vorgelegte Fotos würden den Beschwerdeführer auf der Regenbogenparade zeigen. Der Beschwerdeführer habe den Kontakt zu seiner Familie verloren und könne somit nicht auf ein unterstützendes soziales Netzwerk zurückgreifen. Er habe sich bereits an den Suchdienst des ÖRK gewandt, um seine Familie ausfindig zu machen. Zudem sei der psychische Zustand des Beschwerdeführers instabil. Er stehe wegen einer Posttraumischen Belastungsstörung in notwendiger psychologischer und medikamentöser Behandlung. Weiters verwies der Beschwerdeführer auf seine „ausgezeichnete“ Integration in Österreich. Die Sicherheitslage sei zwar in anderen Provinzen – wie Balkh und Herat – Afghanistans besser als in Ghazni, jedoch würde der Beschwerdeführer dort angesichts der angespannten humanitären Situation und der schlechten medizinischen Versorgung in eine aussichtslose Lage geraten. Außerdem legte der Beschwerdeführer diverse Unterlagen vor und beantragte die Einvernahme seiner behandelnden Psychotherapeutin sowie von 2 Zeuginnen zur Integration, der positiven Zukunftsprognose des Beschwerdeführers und seiner „westlichen Orientierung“.

11.      Mit Urteil eines Landesgerichts vom 19.02.2020 wurde der Beschwerdeführer als junger Erwachsener wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15, 269 Abs. 1 1. Fall StGB, des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB und des Vergehens der Sachbeschädigung gemäß § 125 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 12 Monaten verurteilt. Außerdem wurde die Probezeit der mit Urteil vom 28.02.2018 gewährten bedingten Strafnachsicht auf 5 Jahre verlängert.

12.      Am 14.10.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

13.      Mit Schriftsatz vom 28.10.2021 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den Länderberichten und wies einleitend auf seine Verfolgung aufgrund der „westlichen“ Orientierung bzw. aufgrund des (unterstellten) Abfalls vom islamischen Glauben hin sowie aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit als Angehöriger der Hazara hin. Zur prekären humanitären Lage in Afghanistan verwies der Beschwerdeführer auf einen Artikel der Wiener Zeitung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger und schiitischer Moslem. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, spricht Dari und stammt aus der Provinz Ghazni. Dort besuchte er eine Schule und schloss die 4. Schulklasse ab. Außerdem arbeitete er für 3 bis 4 Jahre 1 bis 2 Mal in der Woche in der Kfz-Werkstatt seines Vaters und kümmerte sich um die Kühe und Schafe der Familie.

In seinem Heimatdorf XXXX (auch genannt: XXXX ), im Distrikt XXXX leben seine Eltern, seine beiden Schwestern und seine zwei Brüder (im Alter von ca. 17-18 sowie 14-15 Jahren). Die Familie wohnt in einem Eigentumshaus, hat Kühe und Schafe und verfügt über Ersparnisse. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie alle 2 Tage in Kontakt.

Weiters hat er eine Tante ms. in Kabul, diese ist verheiratet und hat einen Sohn.

Der Beschwerdeführer konnten nicht glaubhaft machen, dass er bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre bzw. ein besonderes Interesse an der Person des Beschwerdeführers besteht bzw. bestehen könnte.

Der Beschwerdeführer konnte ferner nicht glaubhaft machen, dass er tatsächlich vom Islam abgefallen wäre, insbesondere hat der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt in Österreich etwas Kritisches zum Islam publiziert.

1.1.2. Der Beschwerdeführer war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an. Er ist in Afghanistan weder vorbestraft noch war er dort inhaftiert.

Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Bei einer Rückkehr könnte er seine Existenz – mit finanzieller Unterstützung seiner familiären Anknüpfungspunkte – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage zu seiner Kernfamilie in das Heimatdorf zu ziehen oder – falls das nicht möglich sein sollte – sich in der Provinz Bamyan bzw. in den Städten Mazar-e Sharif und Kabul neu anzusiedeln.

Der Betrieb des Flughafens Kabul wurde wiederaufgenommen. Es finden innerstaatliche Flüge von Kabul zum Flughafen von Mazar-e Sharif statt. Die Provinz Bamyan kann von Kabul aus entweder über die Fernstraße Kabul-Bamyan, über die Provinz (Maidan) Wardak oder über Parwan erreicht werden Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und hat in Österreich keine Familienangehörige. Er nimmt in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch, ist kein Mitglied eines Vereins und hat in Österreich nicht für Entgelt, sondern nur ehrenamtlich gearbeitet. Er hat in Österreich Freundschaften geschlossen.

Der Beschwerdeführer besuchte von 25.04.2016 bis 01.07.2016 als außerordentlicher Schüler die 4. Klasse einer Neuen Mittelschule sowie von 05.09.2016 bis 30.06.2017 die 1. Klasse einer Polytechnischen Schule; ab 23.03.2017 war er aus psychologischen Gründen vom Unterricht befreit. Außerdem nahm er an einem 2-stündigen Workshop „Sexualpädagogik“, einem Kurs zur Integration- und Wertevermittlung sowie einem Schwimmkurs teil. Im Rahmen einer „berufspraktischen Woche“ war er bei einer Kfz-Werkstätte tätig. Der Beschwerdeführer absolvierte erfolgreich den Lehrgang „Fahrradtechniker/in Basic“.

Der Beschwerdeführer nahm weiters an einem A2-Deutschkurs teil, verfügt jedoch über kein Sprachzertifikat. Er ist in der Lage, Fragen auf Deutsch zu verstehen und zu beantworten.

Die belangte Behörde stellte mit Bescheid vom 30.11.2018 fest, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 06.03.2018 verloren hat.

Der Beschwerdeführer leidet an keinen lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Krankheiten.

1.1.4. Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.1.5. strafrechtliche Verurteilungen:

1.1.5.1. Der Beschwerdeführer hat vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Cannabiskraut (Wirkstoff Delta-9-THC)

I.       am 19.10.2017 anderen überlassen bzw. zu überlassen versucht, und zwar auf einer öffentlichen Verkehrsfläche bzw. einem allgemein zugänglichen Ort und unter Umständen, unter denen sein Verhalten geeignet war, durch unmittelbare Wahrnehmung berechtigtes Ärgernis zu erregen, indem er, während reger Fußgängerverkehr herrschte, an eine Person 1,3 Gramm brutto zum Preis von EUR 15,- verkaufte und sodann an den verdeckten Ermittler 6,1 Gramm brutto zum Preis von EUR 50,- verkaufen wollte;

II.      nach dem 30.08.2017 bis 19.10.2017 zum Eigenkonsum besessen.

Der Beschwerdeführer wurde daher mit Urteil eines Landesgerichts vom 08.11.2017 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß §§ 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 2a SMG, 15 StGB sowie gemäß § 27 Abs. Z 1 2. Fall SMG als Jugendlicher unter Bestimmung einer 3-jährigen Probezeit zu einer bedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 4 Monaten verurteilt.

Im Rahmen der Strafbemessung wurde das Zusammentreffen von zwei Vergehen als erschwerend sowie der ordentliche Lebenswandel, das Geständnis, das mindergefährliche Suchtgift, die geringe Menge und der teilweise Versuch als mildernd berücksichtigt.

1.1.5.2. Der Beschwerdeführer hat am 19.01.2018

I.       vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich Cannabiskraut, beinhaltend THC bzw. THC-A, in einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Anlage, einer öffentlichen Verkehrsfläche bzw. sonst einem allgemein zugänglichen Ort öffentlich oder unter Umständen, unter denen ihr Verhalten geeignet war, durch unmittelbare Wahrnehmung berechtigtes Ärgernis zu erregen, anderen gegen Entgelt überlassen, indem er einem verdeckten Ermittler1 Baggy Cannabiskraut um EUR 10,- verkaufte;

II.      Exekutivbeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich dem Vollzug ihrer Festnahme, zu hindern versucht, indem er erheblichen Widerstand durch Versetzten eines gezielten Handballenschlags gegen einen Exekutivbeamten und durch heftiges Umherschlagen mit den Armen und Beinen gegen zwei weitere Exekutivbeamte leistete und er erst unter Anwendung erheblicher Körperkraft am Boden fixiert und ihm die Handfesseln durch einen der Exekutivbeamten angelegt werden konnten;

III.    Exekutivbeamte während der Erfüllung ihrer Pflichten am Körper verletzt, indem er einen der Exekutivbeamten einen Handballenstoß in dessen Gesicht versetzte, wodurch dieser eine Ellbogenprellung und einen Nasenbeinbruch mit Verschiebung sohin eine schwere Körperverletzung erlitt.

In weiterer Folge wurde mit Urteil eines Landesgerichts vom 28.02.2018 über den Beschwerdeführer als Jugendlichen wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall und Abs. 2a SMG, wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15 Abs. 1, 269 Abs. 1 StGB sowie wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 und 4 StGB eine 18-monatigen Freiheitsstrafe verhängt, wobei ein Strafteil in der Dauer von 12 Monaten für eine Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde. Außerdem wurde die Probezeit der mit Urteil vom 08.11.2017 verhängten Freiheitsstrafe auf 5 Jahre verlängert.

Bei der Bemessung der Strafe wurden eine einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall, das Zusammentreffen von einem Verbrechen und zwei Vergehen sowie die doppelte Deliktsqualifikation zur Körperverletzung als erschwerend und der teilweise Versuch als mildern gewertet.

1.1.5.3. Der Beschwerdeführer hat am 14.12.2019

I.       Polizeibeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Visitierung und Personenidentifizierung im Zuge einer Lärmerregung, seiner ausgesprochenen Festnahme und Verbringung in eine Arrestzelle, zu hindern versucht, indem er erheblichen Widerstand durch das Versetzen mehrerer gezielter Faustschläge gegen einen Polizeibeamte und das Versetzen mehrerer Tritte gegen das Schienbein eines weiteren Polizeibeamten leistete, sodass er erst unter Anwendung von Körperkraft am Boden fixiert und in weiterer Folge zur Polizeistation und in die Arrestzelle verbracht werden konnte;

II.      Polizeibeamte während der Erfüllung ihrer Pflichten durch die unter Punkt I. dargelegten Handlungen am Körper verletzt, und zwar

a.       einen der Polizeibeamten, der Prellungen am Ellbogen sowie den Ober- und Unterarmen erlitt;

b.       den anderen Polizeibeamten, welcher Schürfwunden und eine Schwellung am Schienbein erlitt;

III.    eine fremde Sache beschädigt, indem er mit seinem Kopf gegen ein am Polizeiposten angebrachtes Hinweisschild schlug, wodurch dieses zerbrach.

Aufgrund dieser Straftaten wurde der Beschwerdeführer als junger Erwachsener mit Urteil eines Landesgerichts vom 19.02.2020 wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15, 269 Abs. 1 1. Fall StGB, des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB und des Vergehens der Sachbeschädigung gemäß § 125 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 12 Monaten verurteilt. Außer wurde die Probezeit der mit Urteil vom 28.02.2018 gewährten bedingten Strafnachsicht auf 5 Jahre verlängert

Dabei zog das Strafgericht das Zusammentreffen mehrerer Vergehen, zwei einschlägige Vorstrafen, das bereits verspürte Haftübel und die Straffälligkeit innerhalb offener Probezeit als erschwerend sowie das Alter unter 21 Jahren, die Schuldeinsicht und die hohe Alkoholisierung als mildernd heran.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

1.2.1. Auszug Länderinformation der Staatendokumentation vom 16.09.2021 (Version 5)

COVID-19

Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).

Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).

Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban

Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

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Sicherheitslage

Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielte nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 30.6.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindliche Elemente verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch Opfern von aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

UNAMA 26.7.2021

High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).

Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

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Erreichbarkeit

Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen (TD 5.12.2017). Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet (TD 26.1.2018). Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.) (STDOK 4.2018; vgl. TD 5.12.2017), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (STDOK 4.2018; vgl. USAID o.D.a, WB 17.1.2020, ESRI 13.4.2020, ArN 11.11.2020, TD 8.1.2019, TN 25.5.2019, CWO 26.8.2019).

Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (GIZ 7.2019; vgl. AT 23.11.2019, PAJ 12.12.2019, ABC News 1.10.2020). Die Präsenz von Aufständischen, Zusammenstöße zwischen diesen und den afghanischen Sicherheitskräften sowie die Gefahr von Straßenraub und Entführungen entlang einiger Straßenabschnitte beeinflussen die Sicherheit auf den afghanischen Straßen, unter anderem auch auf den Highway 1 (Ring Road) (USDOS 24.6.2020; vgl. EASO 9.2020). Einige Beispiele dafür sind die Straßenabschnitte Kabul-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. ST 24.4.2019), Herat-Kandahar (TN 17.1.2020; vgl. PAJ 5.1.2019), Kunduz-Takhhar (KP 20.8.2018; vgl. CBS News 20.8.2018) und Ghazni-Paktika (AAN 30.12.2019).

Ring Road

TD 5.12.2017

Die Ring Road, auch bekannt als Highway One, ist eine Straße, die das Landesinnere ringförmig umgibt (HP 9.10.2015; vgl. FES 2015) und Teil des 3.360 Kilometer langen Hauptverkehrsstraßenprojekts ist, das 16 Provinzen und Großstädte wie Kabul, Mazar, Herat, Ghazni und Jalalabad miteinander verbindet (STDOK 4.201; vgl. TN 9.12.2017, USAID o.D.a).

Trotz der Ankündigung des damaligen Präsident Ghani aus dem Jahr 2015, die Ring Road in neun Monaten fertigzustellen, ist ein ein ca. 150 km langes Teilstück zwischen Badghis und Faryab weiterhin unvollständig (SIGAR 15.7.2018). Die fehlenden 150 Kilometer sollen künftig den Distrikt Qaisar [Anm.: Provinz Faryab] mit Dar-e Bum [Anm.: Provinz Badghis] verbinden; dieses Straßenstück ist der letzte unbefestigte Teil der 2.200 km langen Straße. Im November 2020 sind die Arbeiten an diesem Teil der Ring Road noch im Gange, wenn auch nur zögerlich, weil Hindernisse wie Unsicherheit, mangelnde Kooperation der lokalen Bevölkerung, mangelnde Leistung der zuständigen Behörden und Unterauftragnehmer es schwierig machen, den Zeitpunkt der Fertigstellung des Projekts abzuschätzen (RA KBL 20.11.2020).

Abschnitt Kandahar - Kabul - Herat

Die Ring Road verbindet wichtige afghanische Städte wie Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif (TD 12.4.2018). Sie erstreckt sich südlich von Kabul und ist die Hauptverbindung zwischen der Hauptstadt und der großen südlichen Stadt Kandahar (REU 13.10.2015). Der Kandahar-Kabul-Teil der Ring Road erstreckt sich vom östlichen und südöstlichen Teil Kandahars über die Provinz Zabul nach Ghazni in Richtung Kabul, während die Ring Road westlich von Kandahar durch Gereshk in Helmand und Delaram in Nimroz verläuft (ISW o.D.).

Der Abschnitt zwischen Kabul und Herat umfasst 1.400 km (IWPR 26.3.2018). Die an die Ring-Road anknüpfende 218 km lange Zaranj-Dilram-Autobahn (Provinz Nimroz, Anm.), auch „Route 606“ genannt, soll zukünftig Afghanistan mit Chabahar im Iran verbinden (AD 15.8.2017; vgl. TET 9.8.2017, TD 24.5.2017).

Anrainer beschweren sich über den schlechten Zustand des Abschnitts Kandahar-Kabul-Herat (TN 14.3.2018). Ursachen dafür sind die mangelnde Instandhaltung und ständige Angriffe durch Aufständische (IWPR 26.3.2018). Die meisten Teile der Autobahn Kabul-Kandahar sind durch Angriffe und Gewalt beschädigt (TN 28.9.2020; vgl. HOA 7.9.2020).

Abschnitt Baghlan-Balkh

Die Baghlan-Balkh-Autobahn ist Teil der Ring Road und verbindet den Norden mit dem Westen des Landes. Sie gilt als eine unabdingbare Transitroute zwischen der Hauptstadt der Provinz Baghlan, Pul-e Khumri, und den nordwestlichen Provinzen Samangan, Balkh, Jawjzan, Sar-e Pul und Faryab (AAN 15.8.2016).

Salang Tunnel/Salang Korridor

Der Salang-Korridor gilt als Vorzeigeobjekt des Kalten Krieges und wurde im Jahr 1964 zum ersten Mal eröffnet (TD 21.10.2015). Er ist die einzige direkte Verbindung zwischen der Hauptstadt Kabul und dem Norden des Landes (WP 22.1.2018; TD 21.10.2015). Der Salang-Tunnel, durch den über 80 % des Nord-Süd-Handels Afghanistans verläuft (USAID o.D.b.), ist 2,7 km (1,7 Meilen) lang. Er wurde ursprünglich für eine Tagesnutzung von 1.000 - 2.000 Fahrzeuge gebaut. Heute befahren ihn jedoch täglich über 10.000 Transportmittel, was den Bedarf an Instandhaltungsarbeiten erhöht (WP 22.1.2018). Der Bau der Umspannstation des Salang-Tunnels wurde am 15.10.2019 abgeschlossen und kompensiert den Verbrauch von einer Million Liter Dieselkraftstoff pro Jahr, die bis dahin für den Betrieb der Generatoren des Tunnels erforderlich waren (USAID o.D.b; vgl. PAJ 19.12.2019).

Durch das von der Weltbank finanzierte Trans-Hindukush Road Connectivity Project soll bis 2022 u.a. der Salan

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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