TE Vfgh Erkenntnis 2021/11/30 E3540/2020

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Veröffentlicht am 30.11.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen des Iraks; keine Auseinandersetzung mit Länderberichten des UNHCR betreffend die Lage von – aus einem (ehemals) vom IS besetzten Gebiet stammenden – sunnitischen Arabern

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,? bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.

Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 13. Dezember 1989 geborener Staatsangehöriger des Irak mit einer Mutter kurdischer Abstammung, der der arabischen Volksgruppe zugehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er stammt aus Mossul. Er stellte am 3. Oktober 2015 nach Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Den Irak habe er verlassen, da er von der Terrormiliz Islamischer Staat (im Folgenden: IS) persönlich verfolgt worden sei, weil er bei den irakischen Wahlen 2014 als Wahlbeobachter gearbeitet habe. Zudem werde er von den Badr-Milizen verfolgt, da diese auf Grund seiner Flucht 2015, als Mossul unter der Kontrolle des IS gestanden habe und kaum jemand habe fliehen können, davon ausgehen würden, dass er Mitglied des IS gewesen sei.

2. Mit Bescheid vom 2. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in den Irak gemäß §46 FPG zulässig sei. Zudem wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ? nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ? mit Erkenntnis vom 4. September 2020 als unbegründet ab. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei unglaubwürdig, sodass das Bundesverwaltungsgericht nicht feststellen habe können, dass ihm im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung drohe.

Für den Beschwerdeführer bestehe keine Gefährdungssituation und es sei nicht davon auszugehen, dass er in eine ausweglose Situation gerate. Es werde nicht verkannt, dass die Situation im Irak in weiten Teilen nach wie vor kritisch sei und Mossul sich erst am Beginn eines langjährigen Wiederaufbaues befinde. Allerdings ergebe sich auf Basis der Länderberichte eine deutliche Entspannung der Sicherheitslage und der allgemeinen Lage im Irak. Zwar sei der IS aus der Region, aus der der Beschwerdeführer stamme, nicht gänzlich verschwunden. Aus den Länderberichten ergebe sich jedoch, dass der IS im dünn besiedelten, ländlichen Raum operiere, wo keine oder wenige staatliche Kräfte bestünden. Daraus ergebe sich im Umkehrschluss für die städtischen Regionen, dass die vom IS ausgehende Gefahr für die Beeinträchtigung der Sicherheit nicht erheblich sei. Die Sicherheitslage erlaube Personen auch im Zentralirak, relativ unbehelligt in den dortigen Städten zu leben, ohne zwingend damit rechnen zu müssen, Opfer von Verfolgung, Willkür oder kriegerischen Auseinandersetzungen zu werden. Der Beschwerdeführer sei gesund und erwerbsfähig, verfüge über eine Schulausbildung sowie Berufserfahrung. Überdies lebe nach wie vor seine Familie im Irak, sodass er im Falle einer Rückkehr in den Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch mit deren Unterstützung rechnen könne. Er könne auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973, behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht die Feststellung willkürlich getroffen habe, dass der Beschwerdeführer den Irak nicht auf Grund einer Verfolgung durch den IS oder durch schiitische Milizen verlassen habe. Die Argumentation, dass er keine Verfolgung durch den IS zu befürchten habe, da von der Organisation "ganz allgemein keine allzu große Gefahr mehr ausgehen dürfte", sei vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nicht haltbar. Zudem erweise sich die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichtes als nicht tragfähig, dass er im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung durch schiitische Milizen zu befürchten habe. Der Beschwerdeführer müsse als sunnitischer Araber, der noch in der Zeit der Machtausübung des IS in Mossul aus dem Irak geflohen sei, damit rechnen, als vermeintliches Mitglied des IS von schiitischen Milizen inhaftiert, misshandelt oder gar ermordet zu werden.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Erwägungen

Die ? zulässige ? Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Nach den UNHCR-Erwägungen vom Mai 2019 zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, (im Folgenden: UNHCR-Erwägungen) besteht für Personen, die fälschlicherweise verdächtigt werden, den IS zu unterstützen, ein besonderes Risikoprofil. Dazu zählen "Personen mit überwiegend sunnitisch-arabischer Identität und zwar vornehmlich [...] Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren", sowie "Familien und insbesondere Frauen und Kinder, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen ISIS-Mitgliedern verbunden sind" (UNHCR-Erwägungen, S 69 ff.). Die "Männer und Jungen im kampffähigen Alter aus Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren," werden "kollektiv verdächtigt, mit ISIS verbunden zu sein oder ISIS zu unterstützen" (UNHCR-Erwägungen, S 69). Mit solchen Personen verbundene Familienangehörige sind auf Grund ihrer Verwandtschafts- oder Stammesbeziehungen unterschiedlichen Menschenrechtsverletzungen und Missbräuchen durch lokale Behörden, die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) und damit verbundene Gruppen, lokale Milizen sowie Mitglieder der Stämme und Gemeinschaften, denen diese Familien angehören, ausgesetzt (UNHCR-Erwägungen, S 72).

Angehörige dieser beiden Personengruppen benötigten nach Auffassung des UNHCR "wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz" (UNHCR-Erwägungen, S 77), was auf Grund der besonderen Umstände des jeweiligen Falles individuell geprüft werden müsse (siehe zur ähnlichen Berichtslage auch die EASO-Country Guidance: Iraq von Jänner 2021, S 64 ff.).

Hat der Beschwerdeführer ein substantiiertes Vorbringen erstattet, dass er auf Grund dieses besonderen Risikoprofils individuell bei einer Rückkehr der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sein werde (und nicht bloß auf die Zugehörigkeit zur Personengruppe mit diesem Risikoprofil entsprechend den UNHCR-Erwägungen verwiesen, also auf allgemeine Behauptungen einer Verfolgungssituation, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar ist (vgl VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314; 21.12.2020, Ra 2020/14/0445), dann hat das Bundesverwaltungsgericht eine Prüfung der besonderen Umstände des Falles durchzuführen, sich also mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in Bezug auf das dargestellte besondere Risikoprofil auseinanderzusetzen.

2.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz ua damit, dass er von den schiitischen Milizen verfolgt werde. Am 5. Februar 2017 habe seine Familie versucht, nach Kurdistan zu flüchten. Auf dem Weg dorthin habe es einige Checkpoints gegeben, an denen man die Namen der Reisenden habe erfahren wollen. An einem dieser Checkpoints der Badr-Milizen habe diese auch die Ausweise der Familie sehen wollen. Auf der vorgezeigten Lebensmittelkarte sei auch sein Name vermerkt gewesen und auf Nachfrage der Badr-Miliz, wo der Beschwerdeführer sei, habe sein Vater erzählt, dass er geflohen sei. Daraufhin habe ein Mitglied der Badr-Miliz die Vermutung aufgestellt, dass sich der Beschwerdeführer dem IS angeschlossen habe, und einen Eintrag auf dem Laptop vorgenommen. Sein Vater sei beschimpft und die Familie bedroht worden. Er habe Angst um sein Leben, weil die Milizen ihn beschuldigen würden, ein IS-Mitglied zu sein, weil er zu einem Zeitpunkt aus dem Irak geflohen sei, als Mossul unter der Kontrolle des IS gestanden habe und grundsätzlich niemand habe aus der Region fliehen können.

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer sunnitischer Araber sei, er den Irak aber nicht auf Grund einer Verfolgung durch den IS oder durch schiitische Milizen verlassen habe. Er sei im Irak nicht auf Grund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt worden und würde nach einer Rückkehr auch nicht verfolgt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten also davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geschilderte Bedrohung durch die Badr-Milizen nicht vorliege. Aus den Länderberichten ergebe sich zwar, dass Sunniten oftmals einzig auf Grund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt würden, allerdings habe der Beschwerdeführer eine diesbezügliche Verfolgung nicht glaubhaft machen können, zumal er keine Details und Informationen darüber habe bekanntgeben können. Es erschließe sich nicht, warum der Badr-Miliz bei der Ausweiskontrolle seiner Familie eine Lebensmittelkarte mit seinem Namen in die Hände hätte fallen und warum der Vater der Miliz überhaupt hätte schildern sollen, dass der Beschwerdeführer aus dem Irak geflüchtet sei. Es sei ihm bis zu seiner Ausreise auch möglich gewesen, im Herkunftsstaat zu leben, und es gebe viele sunnitische Araber, die problemlos im Irak leben könnten. Das Bundesverwaltungsgericht verneint damit eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers, ohne zu berücksichtigen, dass nach den UNHCR-Erwägungen für den aus einem ehemals vom IS besetzten Gebiet stammenden Beschwerdeführer im wehrfähigen Alter ein besonderes Risikoprofil besteht. Damit unterlässt es das Bundesverwaltungsgericht aber, sich mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, die er ausführlich als Fluchtgrund vorgebracht hat, im Lichte dieses besonderen Risikoprofils des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen (vgl VfGH 8.6.2021, 149/2021 ua; 7.10.2021, E2372/2021 ua).

2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht den Umstand unberücksichtigt lässt, dass der Beschwerdeführer dem in den erwähnten Länderberichten beschriebenen besonderen Risikoprofil entspricht und ein substantiiertes Vorbringen erstattet hat, deswegen von schiitischen Milizen bedroht zu sein, hat es die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und daher sein Erkenntnis mit Willkür belastet (vgl VfGH 6.10.2020, E1728/2020).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,? enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3540.2020

Zuletzt aktualisiert am

21.01.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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