RS Vfgh 2021/12/14 E782/2020

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Veröffentlicht am 14.12.2021
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Index

L9210 Behindertenhilfe, Chancengleichheit, Rehabilitation

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gerichtsakt
B-VG Art18
StGG Art2
Wr ChancengleichheitsG §2, §6, §9, §12, §19
Allgemeine Förderrichtlinien des Fonds Soziales Wien mit Wirksamkeit ab 01.01.2017
ASVG §330a
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung eines Antrags auf Übernahme eines vom Beschwerdeführer an eine Betreuungseinrichtung monatlich zu leistenden Differenzentgeltbetrages für dessen Pflege durch den Fonds Soziales Wien (FSW); mangelhafte Auseinandersetzung mit der Sinnhaftig-, Notwendig-, und Zweckmäßigkeit der vertraglich vereinbarten und durch den FSW abgedeckten Leistungen im Einzelfall für die Deckung der Leistungen durch Förderungen des FSW; keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das System der – hinreichend determinierten – Förderung von Leistungen mit Rechtsanspruch nach dem Wr ChancengleichheitsG; Förderrichtlinie des FSW kommt mangels Hoheitsgewalt des FSW kein Verordnungscharakter zu

Rechtssatz

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das System der "Förderungen für Leistungen" nach §9 und §12 Abs2 Wr ChancengleichheitsG (CGW):

Das Gesetz räumt auf Förderungen für "Tagesstruktur" (§9 CGW) und "vollbetreutes Wohnen" (§12 CGW) einen Rechtsanspruch ein, über den erforderlichenfalls durch den Magistrat der Stadt Wien mit Bescheid abzusprechen ist und der daher hinreichend determiniert (Art18 Abs1 B-VG) sein muss. §6 CGW determiniert (und begrenzt zugleich) die förderbaren Leistungen, indem sie zum Ausgleich der konkreten, behinderungsbedingten Benachteiligung "geeignet und erforderlich" und zur Unterstützung des Menschen mit Behinderung im Einzelfall "sinnvoll, notwendig und zweckmäßig" sein müssen. Die Förderung von Leistungen im Sinn der §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW hat die Kosten solcher Leistungen abzudecken.

Das CGW gewährt damit Menschen mit Behinderung keinen Rechtsanspruch auf die Förderung von Leistungen iSd §§9 und 12 Abs2 CGW, die über das Maß des §6 leg cit hinausgehen (also etwa von Leistungen, die möglicherweise wünschenswert, aber nicht im Sinne des Gesetzes "notwendig" sind), und damit auch keinen Rechtsanspruch auf Übernahme jeglicher Kosten einer vom Betroffenen frei gewählten Betreuung ("Tagesstruktur" bzw "vollbetreutes Wohnen"), wohl aber einen Rechtsanspruch auf Förderung jener Leistungen im Sinne des §9 bzw §12 CGW, die "zum Ausgleich der konkreten, behinderungsbedingten Benachteiligung geeignet und erforderlich", also "im Einzelfall sinnvoll, notwendig und zweckmäßig" sind (§6 Abs1 und 2 CGW).

Dem Gesetz liegt damit für Förderungen nach den §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW der Gedanke zugrunde, dass Menschen mit einer Behinderung, deretwegen sie Leistungen der Tagesstruktur bzw Leistungen des vollbetreuten Wohnens benötigen, einen Anspruch auf Förderung zum Ausgleich ihrer konkreten, behinderungsbedingten Benachteiligung haben. Dazu hat der Begünstigte nach Maßgabe seiner finanziellen Leistungsfähigkeit durch Eigenleistungen gemäß §§19 ff CGW beizutragen, wobei in besonderen sozialen Härtefällen von der Verpflichtung zur Eigenleistung ganz oder teilweise abgesehen werden kann (§19 Abs1 CGW). Vor diesem Hintergrund begegnet das CGW, das zur Erbringung von Eigenleistungen bei "Tagesstruktur" und "vollbetreutem Wohnen" nur aus pflegebezogenen Geldleistungen und dem (laufenden) Einkommen verpflichtet, auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf §330a ASVG.

Keine Veranlassung die Allgemeinen Förderrichtlinien des Fonds Soziales Wien für Förderungen ohne Rechtsanspruch einem Verordnungsprüfungsverfahren nach Art139 B-VG zu unterziehen:

Wie vom Beschwerdeführer zutreffend moniert, sieht §2 (Abs3) CGW die Erlassung von "Richtlinien" durch den FSW nur für Förderungen ohne Rechtsanspruch vor. Dass keine "Richtlinien" für die Gewährung von Förderungen mit Rechtsanspruch vorgesehen sind, schadet nicht, weil bereits das Gesetz die förderbaren Leistungen und das Förderungsmaß hinreichend determiniert. (Dies würde allerdings die Wiener Landesregierung nicht hindern, auch ohne explizite Verordnungsermächtigung im Gesetz allein auf Grundlage von Art18 Abs2 B-VG die gesetzlichen Förderungskriterien für Förderungen mit Rechtsanspruch zu präzisieren).

Die in Rede stehenden "Richtlinien" wurden vom FSW geschaffen. Der FSW ist als selbstständiger Rechtsträger des Privatrechts organisiert und weder durch das CGW noch durch ein anderes Gesetz mit Hoheitsgewalt zur Erlassung von Verordnungen beliehen. Die vom FSW herausgegebenen "Richtlinien" haben daher - schon mangels Hoheitsgewalt ihres Urhebers - keinen Verordnungscharakter, weshalb ihre Prüfung nach Art139 B-VG ausscheidet. Mangels Verordnungsqualität sind sie auch nicht geeignet, die durch das CGW eingeräumten - und letztlich in Hoheitsverwaltung zu bemessenden - Rechtsansprüche nach §2 Abs2 iVm §6 CGW und den §§9 und 12 Abs2 leg cit zu schmälern. Sie tragen daher auch nichts zur Begründung der Abweisung von Anträgen auf Förderungen bei.

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Verkennung der Rechtslage in entscheidenden Punkten und Unterlassung jeglicher Ermittlungstätigkeit:

Der Beschwerdeführer hat gemäß dem System des CGW Leistungen eines privaten Rechtsträgers, der eine "anerkannte Einrichtung" iSv §6 Abs4 CGW ist, auf vertraglicher Basis in Anspruch genommen. Der FSW leistet für diese Inanspruchnahme Zahlungen an diesen Rechtsträger in vom Verwaltungsgericht Wien (VGW - LVwG) nicht näher festgestellter Höhe. Überdies stellt dieser Rechtsträger für seine Leistungen dem Beschwerdeführer ein näher beziffertes "Differenzentgelt" in Rechnung, ohne dass in den zugrunde liegenden Verträgen präzisiert wäre, für welche Leistungen dieses Entgelt verrechnet wird. Der Beschwerdeführer hat - augenscheinlich geleitet von der Auffassung, dass dieses "Differenzentgelt" für "Leistungen" iSv §6 iVm den §§9 und 12 Abs2 CGW verrechnet wird - den bescheidmäßigen Abspruch darüber begehrt, dass auch dieses Entgelt auf Grundlage der zitierten Bestimmungen vom Sozialhilfeträger zu tragen sei. Das VGW hat diesen Antrag letztlich mit der Begründung abgewiesen, dass das CGW keinen Anspruch auf Übernahme eines "Differenzentgeltes" vorsehe.

Mit dieser rein formalen Sichtweise verkennt das VGW jedoch das inhaltliche Begehren des Beschwerdeführers und die damit ausgelösten Ermittlungspflichten: Der Beschwerdeführer macht nämlich der Sache nach geltend, dass die ihm gemäß §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW zustehende Förderung nicht nur den in dem zwischen ihm und dem Rechtsträger abgeschlossenen Betreuungsvertrag als "Zuschuss des Fonds Soziales Wien" ausgewiesenen Betrag, sondern auch den dort als "Differenzentgelt" genannten Betrag umfassen müsse.

Vor dem Hintergrund dieses Vorbringens hätte das VGW prüfen müssen, welche zwischen dem Beschwerdeführer und dem Rechtsträger vertraglich vereinbarten Leistungen als im Einzelfall sinnvoll, notwendig und zweckmäßig durch die den Beschwerdeführer vom Fonds Soziales Wien gewährte Förderung abgedeckt werden und ob vor diesem Hintergrund diese Förderung den Vorgaben des §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW entspricht. Auf dieser Grundlage hätte dann das VGW zu beurteilen, ob der Förderungsbetrag, der dem Beschwerdeführer nach §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW zusteht, auch das (oder Teile des) Differenzentgelt(s) umfasst, wenn es zur Auffassung gelangt, dass der Fonds Soziales Wien und im Gefolge der Magistrat der Stadt Wien bei der Festsetzung des dem Beschwerdeführer zustehenden Förderbetrages, wie er im Vertrag zwischen dem Beschwerdeführer und dem Rechtsträger ausgewiesen ist, den gesetzlichen Vorgaben aus §6 iVm §§9 und 12 Abs2 CGW nicht entsprechend Rechnung getragen haben.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Behinderte, Förderungen, Ermittlungsverfahren, Unterbringung, Verordnungsbegriff, Determinierungsgebot

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E782.2020

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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