Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann und Johannes Püller (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei DI N*, vertreten durch Dr. Johannes Schuster Mag. Florian Plöckinger Rechtsanwälte GesR in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva Maria Bachmann-Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Unterstützungsleistung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 2021, GZ 10 Rs 40/21g-12, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 29. Jänner 2021, GZ 14 Cgs 96/20i-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger ist als Ziviltechniker selbständig erwerbstätig.
[2] Mit Bescheid vom 15. 6. 2020 sprach die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen ihm gegenüber aus, dass die Unterstützungsleistung bei lang andauernder Krankheit (§ 104a GSVG) im Zeitraum von 1. 12. 2019 bis 23. 3. 2020 sowie von 24. 3. 2020 bis 18. 4. 2020 ruhe, weil die Krankmeldungen bzw Weitermeldungen nicht ordnungsgemäß bzw unvollständig und verspätet übermittelt worden seien.
[3] In seiner Klage bringt der Kläger zusammengefasst vor, er sei seinen Meldepflichten vollständig und rechtzeitig nachgekommen.
[4] Die Beklagte bestritt und wendete zusammengefasst ein, der Kläger sei nach der Erstmeldung seiner Pflicht zur 14-tägigen Erstattung von Folgemeldungen nicht ordnungsgemäß nachgekommen.
[5] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte dazu, dem Kläger insgesamt 2.158,55 EUR an Unterstützungsleistung bei lang andauernder Krankheit für die Zeiträume von 1. 12. 2019 bis 16. 1. 2020 und von 23. 3. 2020 bis 14. 4. 2020 zu zahlen. Das Mehrbegehren wies es ab.
[6] Das Erstgericht sah als von den Parteien außer Streit gestellt an, dass der Kläger von 28. 11. 2019 zumindest bis 15. 6. 2020 arbeitsunfähig war. In seiner rechtlichen Beurteilung ging es davon aus, dass der Kläger mit seinen Meldeverpflichtungen nach Ablauf von sieben Wochen ab Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit, somit ab dem Ablauf des 16. 1. 2020 in Verzug geraten sei. Die Unterstützungsleistung bei lang andauernder Krankheit stehe daher im Zeitraum von 1. 12. 2019 bis 16. 1. 2020 zu; (erst) ab 17. 1. 2020 ruhe der Anspruch. Da die nächste Folgemeldung der Krankheit ab 23. 3. 2020 die Beklagte am 24. 3. 2020 erreicht habe, gebühre dem Kläger ab 23. 3. 2020 für drei weitere Wochen die Unterstützungsleistung. Dieser Anspruch ruhe aber nach Ablauf von drei Wochen und einem Tag, also ab dem 15. 4. 2020 (§ 104b Abs 1 iVm § 104a Abs 3 Satz 3 GSVG).
[7] Das Berufungsgericht gab der gegen den klageabweisenden Teil des Urteils erhobenen Berufung (die lediglich aus den Berufungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der Aktenwidrigkeit erhoben wurde) nicht Folge. Der geltend gemachte erstinstanzliche Verfahrensmangel sei zu verneinen. Eine Aktenwidrigkeit, die darin liegen soll, dass aktenwidrig angenommen worden sei, es stehe außer Streit, dass der Kläger von 28. 11. 2019 bis zumindest 15. 6. 2020 mit bestimmten Diagnosen arbeitsunfähig gewesen sei, liege so nicht vor. Aus näher ausgeführten rechtlichen Erwägungen komme der Tatsachenrüge zu den der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen vom 28. 11. 2019 zugrundeliegenden Diagnosen keine Relevanz zu, sodass sie inhaltlich unerledigt bleiben könne.
[8] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil zur Meldepflichtverletzung und zum Ruhen des Anspruchs auf Unterstützungsleistung bei lang andauernder Krankheit höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Rechtliche Beurteilung
[9] Entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruch ist die Revision unzulässig.
1. Zum geltend gemachten Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens:
[10] 1.1 Der Oberste Gerichtshof hat an der Rechtsprechung, wonach ein vom Berufungsgericht verneinter Mangel des Verfahrens erster Instanz auch in Sozialrechtssachen keinen Revisionsgrund bildet, in Kenntnis der in der Literatur geführten Diskussion auch jüngst festgehalten (10 ObS 59/21f Rz 4 mwN).
[11] 1.2 Der Revisionswerber macht geltend, das erstgerichtliche Verfahren sei infolge der unterlassenen Einvernahme der behandelnden Ärztin des Klägers (zum Beweis dafür, dass auch am 23. 1. 2020 eine Meldung der Arbeitsunfähigkeit erfolgt sei), mangelhaft geblieben und das Berufungsgericht habe diese Mangelhaftigkeit nicht erkannt.
[12] 1.3 Dazu ergibt sich aus der Beweiswürdigung des Erstgerichts, dass dieses die Aufzählung der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen des Klägers (in der eine Arbeitsunfähigkeitsmeldung vom 23. 1. 2020 nicht enthalten ist) anhand der von der Beklagten vorgelegten Urkunden getroffen hat. Dem Beweisantrag des Klägers auf Einvernahme seiner behandelnden Ärztin zum Beweis dafür, dass auch am 23. 1. 2020 eine elektronische Meldung an die Beklagte über den Fortbestand der Arbeitsunfähigkeit eingebracht worden sei, ist das Erstgericht nicht nachgekommen.
[13] 1.4 Ob zur Überprüfung von Feststellungen ein Kontrollbeweis erforderlich ist, ist Sache der freien Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen. Wenn auch das Berufungsgericht die Einvernahme der behandelnden Ärztin als Kontrollbeweis nicht erforderlich erachtet und deshalb das Vorliegen eines erstinstanzlichen Verfahrensmangels verneint hat, ist dies der Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen zuzuordnen und kann nicht unter dem Gesichtspunkt der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens angefochten werden (RS0040246).
[14] 1.5 Ein Mangel des Berufungsverfahrens könnte nach ständiger Rechtsprechung nur vorliegen, wenn sich das Berufungsgericht mit der Verfahrensrüge in der Berufung überhaupt nicht oder nur unzureichend befasst hätte (RS0043144, RS0043086). Davon ist im vorliegenden Fall nicht auszugehen, weil sich das Berufungsgericht auch mit dem weiteren Vorbringen befasst hat, die Einvernahme der Zeugin wäre zur Schaffung entsprechender Entscheidungsgrundlagen für die Bejahung des Vorliegens von besonderen Nachsichtsgründen für die Verabsäumung von Meldepflichten gemäß § 104b Abs 2 GSVG iVm § 31 der Satzung der SVS nötig gewesen. Das Berufungsgericht hat auch in diesem Zusammenhang einen primären Verfahrensmangel nach ausdrücklicher Prüfung verneint. Eine inhaltliche Prüfung der vom Berufungsgericht herangezogenen Verwerfungsgründe hat nicht zu erfolgen, unterläge doch sonst jede zweitinstanzliche Entscheidung über eine Mängelrüge der Nachprüfung durch den Obersten Gerichtshof (RS0043051 [T4]; RS0042963 [T55]).
2. Zur geltend gemachten Aktenwidrigkeit:
[15] 2.1 Weiters wird in der Revision kritisiert, das Berufungsgericht habe die dem Erstgericht unterlaufene Aktenwidrigkeit nicht erkannt, die darin liegen soll, dass das Erstgericht als außer Streit gestellt angesehen habe, der Kläger sei von 28. 11. 2019 zumindest bis 15. 6. 2020 mit den bestimmten Diagnosen arbeitsunfähig gewesen. Dass diese Diagnosen durchgehend (somit während des gesamten strittigen Zeitraums) Ursache der Arbeitsunfähigkeit gewesen seien, sei ausdrücklich bestritten worden.
[16] 2.2 Dazu ist vorerst klarzustellen, dass die Frage, ob Arbeitsunfähigkeit – hier im Sinn der Definition des § 106 Abs 1 GSVG – vorliegt, also der Kläger von 28. 11. 2019 bis 15. 6. 2020 infolge Krankheit nicht oder nur mit Gefahr der Verschlechterung seines Zustands oder der Erkrankung fähig war, seiner bisherigen Beschäftigung nachzugehen, eine Rechtsfrage darstellt (RS0084726). Außer Streit gestellt können aber nur Sachverhalte werden (vgl RS0040092).
[17] 2.3 Da jedoch beide Parteien ihren Ausführungen im Revisionverfahren übereinstimmend zugrundelegen, dass der Kläger von 28. 11. 2019 bis zumindest 15. 6. 2020 infolge Krankheit arbeitsunfähig war, können jene Tatsachen als außer Streit stehend angesehen werden, aus denen abzuleiten ist, dass er aufgrund des Inhalts seiner selbständigen Tätigkeit und seines Gesundheitszustands im genannten Zeitraum seiner bisherigen Beschäftigung nicht nachgehen konnte (vgl Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka, ZPO5 §§ 266–267 Rz 1 mwN).
[18] 2.4 Das Revisionsvorbringen ist insofern richtig, als zu den einzelnen Krankheitsbildern bzw Diagnosen tatsächlich divergierendes Parteienvorbringen erstattet wurde, weshalb mangels inhaltlicher Übereinstimmung keine Außerstreitstellung vorliegt (vgl RS0040092).
[19] 2.5 Besteht infolge der unrichtigen Wiedergabe des Parteienvorbringens ein Widerspruch zwischen den Annahmen des Gerichts und dem Akteninhalt, kann dies eine Aktenwidrigkeit begründen, die geeignet ist die Entscheidungsgrundlagen zu verändern.
[20] 2.6 Das Berufungsgericht hat diese Aktenwidrigkeit dadurch bereinigt, dass es seiner rechtlichen Beurteilung die vom Erstgericht – neben der „Außerstreitstellung“ – getroffenen Feststellungen zu den in den Arbeitsunfähigkeitsmeldungen enthaltenen einzelnen Krankheitsbildern zugrunde gelegt hat (RS0116014). Gegen diese Vorgangsweise werden in der Revision keine Argumente vorgebracht.
3. Zur unrichtigen rechtlichen Beurteilung:
[21] 3.1 Im Rahmen seiner Rechtsrüge macht der Revisionswerber geltend, das Berufungsgericht habe die Tatsachenrüge, in der eine bestimmte Feststellung zum Inhalt der Arbeitsunfähigkeitsbestätigung vom 28. 11. 2019 gewünscht worden sei, mit einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung unerledigt gelassen. Richtigerweise wäre infolge unterschiedlicher Krankheitsbilder (ungeachtet des Fortbestehens der Arbeitsunfähigkeit) die neuerliche Krankmeldung vom 23. 3. 2020 als Erstmeldung gemäß § 104a Abs 3 Satz 1 GSVG zu werten gewesen und nicht als (alle 14 Tage zu erstattende) Fortsetzungsmeldung gemäß § 104a Abs 3 Satz 3 GSVG.
[22] 3.2 Auf diese Rechtsausführungen kann der Oberste Gerichtshof nicht eingehen. Das Erstgericht ist dieser – vom Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren vertretenen – Rechtsansicht nicht gefolgt. Hat der Kläger in seiner Berufung die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts nicht mittels Rechtsrüge bekämpft, sondern nur eine Verfahrens- und Beweisrüge erhoben und eine Aktenwidrigkeit geltend gemacht (wovon auch das Berufungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich ausgegangen ist), kann nach ständiger Rechtsprechung die in der Berufung unterlassene Rechtsrüge in der Revision nicht nachgetragen werden (RS0043480; Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 503 Rz 23).
[23] Dass seine Berufungsausführungen inhaltlich doch (auch) als Rechtsrüge zu verstehen gewesen wären (sodass das Berufungsverfahren infolge Eingehens nur auf die Verfahrens- und Beweisrüge sowie die Aktenwidrigkeit mangelhaft geblieben wäre), macht der Revisionswerber zu Recht nicht geltend.
[24] Da die vom Berufungsgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage nicht zum Gegenstand des Revisionsverfahrens werden kann und der Revisionswerber, keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen vermag, ist die Revision zurückzuweisen.
4. Kostenentscheidung:
[25] Die für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG nötige Voraussetzung der rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens werden von der Rechtsprechung auch dann als erfüllt angesehen, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt, in welchem Fall dem unterliegenden Kläger regelmäßig die Hälfte der Kosten seines Vertreters zugesprochen wird (RS0085871); dies auch dann, wenn das Berufungsgericht die ordentliche Revision zuließ und der Oberste Gerichtshof diese wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zurückwies (RS0085898 [T2]). Ein Kostenzuspruch nach Billigkeit kommt im vorliegenden Fall aber schon deshalb nicht in Betracht, weil aus der Aktenlage keine Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Klägers ersichtlich sind, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG rechtfertigen könnten. Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens daher selbst zu tragen.
Textnummer
E133584European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00150.21P.1116.000Im RIS seit
21.01.2022Zuletzt aktualisiert am
17.02.2022