Index
001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AVG §56;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pokorny und die Hofräte Dr. Sulyok, Dr. Robl, Dr. Rosenmayr und Dr. Baur als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Loibl, über die Beschwerde des L in B, vertreten durch Dr. R, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland vom 20. Juni 1996, Zl. Fr-59/95, betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens zur Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Der Beschwerde und dem angefochtenen Bescheid zufolge stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom 6. April 1995 gemäß § 54 des Fremdengesetzes (FrG) fest, daß die Abschiebung des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen der Bundesrepublik Jugoslawien, in die Bundesrepublik Jugoslawien nicht unzulässig sei. Am 7. März 1996 stellte der Beschwerdeführer den Antrag auf Wiederaufnahme des zur Erlassung dieses Bescheides führenden Verfahrens und begründete dies im wesentlichen damit, daß er am 1. März 1996 ein Schreiben des Regionalbüros in Wien des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge vom 29. Februar 1996 mit folgendem Wortlaut erhalten habe:
"TO WHOM IT MAY CONCERN
Betr.: Herr L, Kosovo
Die obengenannte Person hat sich am 1. Juni 1995 über die Gemeinsame Flüchtlingskommission an das Büro des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissärs der Vereinten Nationen gewandt und um Schutz vor Abschiebung in den Kosovo ersucht.
Nach Durchsicht der uns vorliegenden Unterlagen ist davon auszugehen, daß Herr L aufgrund seiner Fluchtgründe Gefahr läuft, in seinem Heimatland einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung bzw. einer konkreten Bedrohung seines Lebens ausgesetzt zu sein und somit schutzbedürftig ist.
Eine Abschiebung des Betreffenden in den Kosovo würde angesichts der gegenwärtigen Umstände jedenfalls eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie des Art. 3 der UN-Konvention gegen Folter und unmenschliche Behandlungen nach sich ziehen.
UNHCR hat Herrn L registriert und bestätigt hiemit aufgrund des Fehlens anderweitiger staatlicher Dokumente seine Schutzbedürftigkeit. In Anbetracht der obigen Ausführungen wird ersucht, die festgestellte Schutzbedürftigkeit in jeder Hinsicht zu respektieren.
Die Überprüfung der Schutzbedürftigkeit des Obengenannten am 28. Februar 1996 hat ergeben, daß die insoweit maßgeblichen Umstände fortbestehen und eine erneute Ausstellung eines Schutzbriefes erforderlich machen.
Dieses Dokument verliert seine Gültigkeit am 31. Mai 1996."
Eine Urkunde mit demselben Wortlaut wurde am 20. Mai 1996 mit Gültigkeitsdauer bis zum 31. August 1996 ausgestellt.
Der Beschwerdeführer vertrat in seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens die Auffassung, der Inhalt dieses Schreibens sei als neue Tatsache im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG zu werten, weil davon (sowie aus einer allfälligen Rückfrage beim Amt des UNHCR über die Umstände, welche zur Ausstellung dieser Bescheinigung der Schutzwürdigkeit geführt haben) ein anderer Verfahrensausgang zu erwarten wäre, als dies mit dem Bescheid der Sicherheitsdirektion vom 6. April 1995 der Fall gewesen sei.
Dieser Antrag wurde mit dem mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland vom 20. Juni 1996 gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG abgewiesen. Die Entscheidung wurde im wesentlichen damit begründet, daß gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG einem Antrag auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens nur dann stattzugeben sei, wenn es sich bei den in dieser Bestimmung erwähnten "Tatsachen und Beweismitteln" um neu hervorgekommene, d.h. um solche handle, die bereits zur Zeit des Verfahrens bestanden haben, jedoch erst später nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens bekannt geworden sind. Der seinerzeitige Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland vom 6. April 1995, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien abgewiesen worden sei, sei am 26. April 1995 zugestellt und damit erlassen worden. Aus dem durch den Wiederaufnahmeantrag des Beschwerdeführers beigefügten Schutzbrief des UNHCR gehe jedoch hervor, daß er sich erst am 1. Juni 1995 an das Büro des Vertreters des hohen Flüchtlingskommissärs der Vereinten Nationen gewandt habe. Dies mache deutlich, daß es sich bei den vom Beschwerdeführer vermeintlich neu hervorgekommenen Tatsachen nicht um solche handeln könne, die bereits zur Zeit des Verfahrens bestanden hätten und erst später bekannt geworden seien. Vielmehr handle es sich um solche, die erst nach Abschluß des Verfahrens entstanden und damit eben nicht neu hervorgekommen seien.
In der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde macht der Beschwerdeführer inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.
Der Beschwerdeführer hält den angefochtenen Bescheid im wesentlichen deswegen für rechtswidrig, weil eine Wiederaufnahme gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG bei Hervorkommen sowohl neuer Tatsachen als auch neuer Beweismittel zu bewilligen sei. Es müsse daher möglich sein, daß ein Beweismittel als nova producta anzusehen sei, aber Tatsachen hervorkommen lasse, die ihrerseits als nova reperta zu gelten hätten, weil sie bereits auch vor dem rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens vorgelegen hätten. So habe auch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch in erst nach dem rechtskräftigen Abschluß des Verwaltungsverfahrens errichteten Urkunden belegte Tatsachen, welche bereits vor Abschluß des Verfahrens ihren Ausgang genommen hätten, als Tatsachen im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG anerkannt. Auch in bezug auf nach der Rechtskraft eines Bescheides erstellte Gutachten habe der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, daß eine Tatsache, die bereits vor Abschluß des Verfahrens vorhanden war, durch den Befund eines solchen Gutachtens als neu hervorgekommene Tatsache im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG anzusehen sei. Für diese Rechtsauffassung sprächen im vorliegenden Fall auch verfassungskonforme Überlegungen. Würde man nämlich auch die im Verfahren vorgelegten Gutachten als nova producta ansehen, so wäre ihre nachträgliche Geltendmachung als novae causae supervenientes gemäß § 54 Abs. 2 FrG ausgeschlossen, weil nach dieser Gesetzesstelle nach Abschluß eines Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes kein neuerlicher Feststellungsantrag eingebracht werden dürfe. Dies würde Fremde, die in ihrem Heimatland in Lebensgefahr oder in Gefahr wären, unmenschlich behandelt oder bestraft zu werden, aber diesen Umstand erst nach Abschluß des Verfahrens durch ein Gutachten unter Beweis stellen könnten, in ihren Rechten auf Leben, und körperliche Unversehrheit beeinträchtigen und in beispielloser Härte gegenüber inländischen Schutzsuchenden diskriminieren. Jeder Inländer könne nova producta ohne die Schranken der Rechtskraft eines Bescheides geltend machen, aber ein sich in unvergleichlich lebensgefährlicherer Situation befindlicher Fremder nicht. Eine derartige Rechtslage wäre daher auch ein Verstoß gegen Art. 1 des B-VG, BGBl. Nr. 390/1973, und gerade auch gegen das rechtsstaatliche Prinzip, welches ein Mindestmaß an verfahrensrechtlichen Möglichkeiten für jeden Antragsteller vorsehe, das in diesem Fall unterschritten wäre. In dem vom Beschwerdeführer vorgelegten "Schutzbrief" des UNHCR werde explizit von "Fluchtgründen" des Beschwerdeführers ausgegangen und die Schutzwürdigkeit anhand "vorliegender Unterlagen" beurteilt, zu denen die Niederschriften, Bescheide und Eingaben sowohl des Asylverfahrens als auch des bereits abgeschlossenen Feststellungsverfahrens gehörten. Dies hätte die belangte Behörde bei entsprechender Ermittlungstätigkeit, etwa durch Nachfrage beim Amt des UNHCR, feststellen können. Dem Beschwerdeführer sei die Erlangung eines Schutzbriefes als Beweismittel für das Feststellungsverfahren vor dem 1. März 1996 nicht möglich gewesen, weil sowohl UNHCR, als auch die im "Schutzbrief" genannte Kommission (eine von Flüchtlingshilfsorganisationen gegründete "Gemeinsame Flüchtlingskommission") eine Intervention in Form der Ausstellung eines "Schutzbriefes" ablehne, solange der Schutzwürdigkeit denkbarerweise auch noch in offenen Asyl- oder Feststellungsverfahren Rechnung getragen werden könne.
Mit diesen Ausführungen kann der Beschwerdeführer im Ergebnis keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides aufzeigen. Er verweist zwar zutreffend auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, daß die Auffassung verfehlt ist, daß ein Gutachten, das nach Rechtskraft des Bescheides erstattet worden sei, auf keinen Fall einen Wiederaufnahmegrund darstellen könne. Ein Gutachten besteht nämlich aus einer Tatsachenfeststellung durch einen Sachverständigen
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Befundaufnahme - und aus Schlußfolgerungen - dem Gutachten im engeren Sinn. Sollte ein Sachverständiger Tatsachen, die zwar bereits früher bestanden, erst später feststellen, oder sollten solche Tatsachen einem Sachverständigen erst später zur Kenntnis kommen, so können solche neue Befundergebnisse - die sich auf seinerzeit bestandene Tatsachen beziehen müssen - durchaus einen Wiederaufnahmegrund darstellen, wenn die weiteren Voraussetzungen nach § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG
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insbesondere der Mangel eines Verschuldens - gegeben sind. Anders steht es nach dieser Rechtsprechung aber mit den vom Sachverständigen gezogenen Schlußfolgerungen. Weder ein Irrtum des Sachverständigen noch neue Schlußfolgerungen stellen einen Wiederaufnahmegrund dar. Ein Wiederaufnahmegrund ist auch nicht gegeben, wenn ein im früheren Verfahren nicht vernommener Sachverständiger aufgrund unveränderter Sachverhaltsgrundlagen nunmehr zu anderen Schlüssen kommen sollte als der im Verfahren vernommene Sachverständige (vgl. die bei Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage 1996, 657, dargestellte Rechtsprechung).
Zwar kann der vom Büro des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge ausgestellte "Schutzbrief" im vorliegenden Zusammenhang wie ein Gutachten im Sinne der genannten Rechtsprechung gewertet werden, zumal es sich beim Hochkommissär der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge um eine auf den Schutz der Flüchtlinge spezialisierte Einrichtung der Staatengemeinschaft handelt, und die Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention gemäß Art. 35 Abs. 1 dieser Konvention verpflichtet sind, das Büro des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge in seiner Arbeit zu unterstützen und insbesondere dessen Aufsichtspflichten bei der Anwendung der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu erleichtern.
In dem vom Beschwerdeführer vorgelegten "Schutzbrief" des UNHCR sind jedoch keine Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG enthalten, das Dokument kann nur als Gutachten einer qualifizierten Schutzwürdigkeit des Beschwerdeführers gewertet werden. Konkrete - und bereits vor Rechtskraft des Bescheides vom 6. April 1995 bestehende - Tatsachen, die allenfalls zu dieser Beurteilung geführt haben, kommen darin nicht zum Ausdruck. Auch bestand keine Verpflichtung der belangten Behörde, angesichts des vorgelegten "Schutzbriefes" von sich aus Ermittlungen auf das Vorliegen derartiger konkreter neu hervorgekommener Tatsachen, die im Verfahren ohne Verschulden des Beschwerdeführers nicht geltend gemacht werden konnten und voraussichtlich einen anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, anzustellen, zumal auch niemandem ein Rechtsanspruch auf eine amtswegige Wiederaufnahme gemäß § 69 Abs. 3 AVG zusteht (vgl. dazu Hauer-Leukauf, a.a.O., 662).
Auch mit der Überlegung, die Wiederaufnahme des Verfahrens sei im vorliegenden Fall aus gleichheitsrechtlichen und rechtsstaatlichen Überlegungen deswegen geboten, weil gemäß § 54 Abs. 2 FrG ein Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung nur während des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung oder eines Aufenthaltsverbotes eingebracht werden könne und bei nachträglichem Eintreten eines Abschiebungshindernisses ein Bescheid auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung gemäß § 54 Abs. 1 FrG nicht mehr erlassen werden könne, kann der Beschwerdeführer im vorliegenden Falle keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides aufzeigen. Zwar trifft es zu, daß § 54 Abs. 2 FrG die Möglichkeit der Stellung eines Antrages auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung in einen bestimmten Staat auf die Zeit vor der Rechtskraft eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung einschränkt. Gegen diese Einschränkung hegte einerseits der Verfassungsgerichtshof aus der Sicht von zwei Beschwerdefällen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. die Erkenntnisse vom 4. Oktober 1993, B 364/93, Slg. Nr. 13561, und vom 16. Juni 1994, B 1774/93, Slg. Nr. 13776); andererseits enthebt auch das Vorliegen eines abweislichen Bescheides gemäß § 54 FrG die Organe der Verwaltung nicht von ihrer Verpflichtung, in jedem Fall einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung eines Fremden das in § 37 Abs. 1 und 2 FrG zum Ausdruck gebrachte Refoulement-Verbot zu beachten und hiebei auf jede Änderung des für die Erlassung eines Bescheides gemäß § 54 FrG maßgeblichen Sachverhaltes - und damit die Grenzen der Rechtskraft dieses Bescheides - Bedacht zu nehmen. Im Falle der Unzulässigkeit der Abschiebung hat die Behörde gemäß § 36 Abs. 2 FrG auf Antrag oder von Amts wegen einen Abschiebungsaufschub zu erteilen. Somit ist bei Vorliegen eines "Schutzbriefes" des UNHCR in der vom Beschwerdeführer vorgelegten Art in diesen Fällen im Hinblick auf Art. 33 und 35 der Genfer Flüchtlingskonvention eine Auseinandersetzung mit den für dessen Ausstellung maßgeblichen Umständen ohnehin notwendig.
Die behauptete Rechtsverletzung liegt somit nicht vor. Dies läßt bereits die Beschwerde selbst erkennen; sie war daher gemäß § 35 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
Schlagworte
Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1996:1996210698.X00Im RIS seit
11.07.2001