TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 W158 2243832-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W158 2243832-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde des XXXX XXXX XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Mutter XXXX XXXX , geb. XXXX , diese vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.05.2021, Zl. XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Für den Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein im Bundesgebiet als Kind zweier subsidiär Schutzberechtigter geborener Staatsangehöriger Afghanistans, wurde am 21.04.2021 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sowohl im schriftlichen Antrag als auch in der Einvernahme der Mutter wurde keine eigenen Fluchtgründe für den BF geltend gemacht, sondern auf die seiner Eltern verwiesen.

I.2. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) mit Bescheid vom 26.05.2021, der gesetzlichen Vertreterin am 31.05.2021 durch Hinterlegung zugestellt in Bezug auf den Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte es dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt II. und III.).

Soweit verfahrenswesentlich führte das BFA aus, dass sich aus den rechtskräftigen Verfahren seiner Familienmitglieder ergebe, dass er keiner individuellen Verfolgung ausgesetzt wäre. Auch für ihn selbst könnten mangels Geltendmachung keine Fluchtgründe festgestellt werden.

I.3. Nachdem den BF mit Verfahrensanordnung vom 27.05.2021 amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt worden war, erhob der BF gegen Spruchpunkt I. des Bescheids Beschwerde wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Verletzung von Verfahrensvorschriften und beantragte, eine Verhandlung durchzuführen, dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu den Bescheid im angefochtenen Umfang zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Begründend wurde geltend gemacht, der BF sei als vulnerables Kleinkind und Angehöriger einer religiösen und ethnischen Minderheit ohne familiäres Netzwerk einer asylrelevanten Gefahr ausgesetzt.

I.4. Der Akt und die Beschwerde langten am 28.06.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in das Befragungsprotokoll seiner Mutter;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX XXXX XXXX . Er ist am XXXX in Österreich geboren. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung an. Seine Muttersprache ist Paschtu.

Der BF ist der im Bundesgebiet geborene Sohn zweier afghanischer Staatsangehöriger. Außerdem leben zwei minderjährige Schwestern des BF im Bundesgebiet. Sein Vater XXXX XXXX reiste im Sommer 2012 ins Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde in Bezug auf den Status des Asylberechtigten vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 02.06.2016, W166 1434065-2/7E rechtskräftig abgewiesen. Seine Mutter stellte ihren Antrag auf internationalen Schutz am 23.12.2019. Auch dieser wurde in Bezug auf den Status der Asylberechtigten rechtskräftig abgewiesen. Auch die Anträge seiner Schwestern wurden in Bezug auf den Status der Asylberechtigten rechtskräftig abgewiesen. Alle Familienmitglieder sind im Bundesgebiet subsidiär schutzberechtigt und verfügen über entsprechende Aufenthaltsberechtigungen.

Der BF ist gesund.

II.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht

dem BF, individuell und konkret, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder durch andere Personen.

II.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (LIB Version 3):

II.3.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziellerklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnt“ gemacht(SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genausogewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021). Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante – Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ‚green-on-blue-attack‘: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani- Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

Quellen:

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•        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.07.2020.pdf, Zugriff 22.10.2020

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•        WP - The Washington Post (19.8.2019): The Islamic State is far from defeated. Here‘s what you need to know about its affiliate in Afghanistan, https://www.washingtonpost.com/world/2019/08/19/islamic-state-is-far-defeated-heres-what-you-need-know-about-its-affiliate-afghanistan/?noredirect=on, Zugriff 23.10.2020

II.3.1.1. Paktia

Die Provinz Paktia [alternative, weniger gebräuchliche Schreibweisen: Paktya, Paktiya] befindet sich im Osten Afghanistans (NPS Paktia o.D.) und grenzt an Logar im Norden, Pakistan im Osten, Khost im Südosten, Paktika im Süden und Ghazni im Westen (UNOCHA Paktia 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, der Provinzhauptstadt Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (oder Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (oder Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran und Zurmat (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019, UNOCHA Paktia 4.2014, NPS Paktia o.D., PAJ Paktia o.D.). Weiters gibt es vier temporäre Distrikte: Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Paktia 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in der Provinz Paktia im Zeitraum 2020/21 auf 611.952 Personen (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Paschtunen, gefolgt von Tadschiken (NPS Paktia o.D.; vgl. OPr Paktia 1.2.2017). Eine kleine schiitische Gruppe namens Sadat (Singular: Sayyed) lebt in Khwajah Hassan, nordöstlich der Provinzhauptstadt, größtenteils konfliktfrei neben den sunnitischen (tadschikischen und paschtunischen) Gemeinschaften (AAN 18.8.2020)

Eine befestigte Straße (USAID 7.5.2019) verbindet Kabul über die Provinz Logar mit der Provinzhauptstadt Gardez (MoPW 16.10.2015; vgl. TN 7.7.2020) und führt weiter durch die Distrikte Shawak und Zadran in die Provinz Khost nach Ghulam Khan an der afghanisch-pakistanischen Grenze (MoPW 16.10.2015; vgl. PAJ 21.8.2019, USAID 7.5.2019). Insbesondere entlang des Teilstückes durch die Provinz Logar gibt es eine starke Taliban-Präsenz (AAN 18.7.2020; vgl. SATP 16.7.2020). Die ebenso asphaltierte Straße Ghazni-Gardez (JIA/AADA 12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015) wird seit der Frühjahrsoffensive 2019 von den Taliban blockiert und der gesamte Verkehr über eine ungepflasterte Straße durch Sultanbagh umgeleitet (JIA/AADA 12.2019; vgl. PAJ 3.11.2019).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Nach der Räumung der US-Militärbasis im März 2020 hat sich der Einflussbereich der Taliban in der Provinz vergrößert. Es kommt vermehrt zu gezielten Tötungen (WP 10.10.2020). Im Laufe des Sommers 2020 hat sich die Sicherheitslage in Paktia verschlechtert. Die Taliban haben ihre Angriffe verstärkt und mehrere lokale Verbindungsstraßen gesperrt (PAJ 1.10.2020). Jedoch ist die Provinz nicht stark umkämpft; es kommt zu kleinmaßstäbigen Angriffen und die Taliban versuchen nicht, städtische Gebiete zu erobern sondern konsolidieren ihre Herrschaft in bereits zuvor kontrollierten Gebieten (WP 10.10.2020).

In der Provinz Paktia hat das Haqqani-Netzwerk eine starke Präsenz (LWJ 23.6.2019; vgl. TSG 24.5.2020, AnA 29.5.2020), der Distrikt Dand-e-Pathan gilt als Hochburg der Haqqanis (AnA 29.5.2020). Al-Qaida ist in ländlichen Gebieten der Provinz, unter anderem im Distrikt Jaji, präsent (ST 16.7.2020; vgl. LWJ 23.6.2019, CT 22.10.2019). Ebenfalls eine kleine Präsenz in der Provinz haben Jaish-e-Mohammad (JeM) (EFSAS 10.4.2020; vgl. BW 25.6.2020). Der Islamische Staat (ISKP) versuchte im ersten Halbjahr 2019 erfolglos, die Provinzen Paktia und Logar einzunehmen (UNSC 31.7.2019).

Die Spezialeinheit Khost Protection Force (KPF) ist für die Zentralregierung tätig (AAN 17.8.2019). Die KPF wird vom US-amerikanischen Nachrichtendienst CIA unterstützt und ist gegenüber der Provinzregierung nicht rechenschaftspflichtig. Der KPF werden Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtliche Tötungen, Folter und willkürliche Verhaftungen vorgeworfen (AAN 21.1.2019; vgl. TRT 20.11.2019, WOZ 7.11.2019, TRT 8.5.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Paktia im Verantwortungsbereich des 203. Afghan National Army (ANA) Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. WP 10.10.2020), das der Task Force Southeast angehört, die von US-Truppen geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Im Zusammenhang mit dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban wurde die US-Militärbasis bei Gardez im März 2020 geräumt (WP 10.10.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 206 zivile Opfer (62 Tote und 144 Verletzte) in der Provinz Paktia. Dies entspricht einem Rückgang von 6% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenkämpfe (UNAMA 2.2021).

In der Provinz kommt es zu Sicherheitsoperationen (PAJ 11.2.2020, PAJ 30.1.2020, BN 25.8.2019) und Luftschlägen durch afghanische und ausländische Sicherheitskräfte (BN 10.10.2020, Qantara 5.6.2020, PAJ 12.11.2019). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt (Garda 2.11.2020, AnA 29.5.2020, XI 16.5.2020).

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•        UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (2.2021): Afghanistan Annual Report On Protection Of Civilians In Armed Conflict: 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/afghanistan_protection_of_civilians_report_2020.pdf, Zugriff 24.2.2021

•        UNOCHA - United Nations Office on Coordination of Humanitarian Affairs (4.2014, Paktia): Afghanistan: Paktya Province Distrikt Atlas, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/Paktya.pdf, Zugriff 5.11.2020

•        UNSC - United Nations Security Council (31.7.2019): Ninth report of the Secretary-General on the threat posed by ISIL (Da’esh) to international peace and security and the range of United Nations efforts in support of Member States in countering the threat [S/2019/612], https://www.ecoi.net/en/file/local/2014117/S_2019_612_E.pdf, Zugriff 5.11.2020

•        USAID - United States Agency for International Development [USA] (7.5.2019): Gardez-Khost National Highway (NH08), https://www.usaid.gov/news-information/fact-sheets/gardez-khost-national-highway-nh08, Zugriff 4.11.2020

•        USDOD - United States Department of Defense [USA] (1.7.2020): Enhancing Security and Stability In Afghanistan June 2020, https://media.defense.gov/2020/Jul/01/2002348001/-1/-1/1/ENHANCING_SECURITY_AND_STABILITY_IN_AFGHANISTAN.PDF, Zugriff 22.10.2020

•        WOZ - Die Wochenzeitung (7.11.2019): Die Todesschwadronen der CIA, https://www.woz.ch/-a20f, Zugriff 5.11.2020

•        WP - Washington Post (10.10.2020): With U.S. troops gone, Taliban expands influence in one Afghan province, https://www.washingtonpost.com/world/2020/10/10/afghanistan-us-troop-withdrawal/, Zugriff 4.11.2020

•        XI - Xinhua News Agency (16.5.2020): 9 militants killed, 2 soldiers wounded in water dam attack in Afghanistan, http://www.xinhuanet.com/english/2020-05/16/c_139061732.htm, Zugriff 4.11.2020

II.3.2. Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 6.10.2020; vgl. AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.7.2020; vgl. CIA 6.10.2020, USDOS 10.6.2020). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.6.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.6.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.6.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 10.6.2020). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 10.6.2020). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 10.6.2020). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 10.6.2020; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 10.6.2020).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 10.6.2020).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 10.6.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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