TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/13 W231 2186841-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.10.2021
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Entscheidungsdatum

13.10.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W231 2186870-1/23E
W231 2186866-1/27E
W231 2186841-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX und 3. mj. XXXX , geb. XXXX , alle afghanische Staatsangehörige, alle vertreten durch RA Mag. Wolfgang AUNER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.01.2018, Zlen. 1. XXXX , 2. XXXX und 3. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Den Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, und mj. XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Die übrigen Spruchpunkte werden ersatzlos behoben.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX und mj. XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) reiste mit ihrem damals minderjährigen Bruder, dem Zweitbeschwerdeführer (BF2), sowie ihrer minderjährigen Tochter, der Drittbeschwerdeführerin (BF3), in das Bundesgebiet ein. Die BF stellten am 08.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

I.2. BF1 gab anlässlich ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 09.10.2015 zusammengefasst an, sie sei Angehörige der Volksgruppe der Hazara, Schiitin und stamme aus Bamyan in Afghanistan. Vor ca. 4 Jahren sei sie von ihrem Vater gezwungen worden, einen viel älteren Mann gegen ihren Willen zu heiraten. Zu diesem Zeitpunkt habe sie bereits ihren „jetzigen Mann“ gekannt. Ihr „jetziger Mann“ sei damals zu ihrem Vater gekommen und habe um ihre Hand gebeten. Ihr Vater sei aber dagegen gewesen. Eines Tages sei sie von ihrem „jetzigen Mann“ besucht worden, als plötzlich ihr damaliger Ehemann nach Hause gekommen sei und die beiden zusammen gesehen habe. Es sei zu einem Handgemenge gekommen, wobei ihr damaliger Ehemann bewusstlos geworden sei. Ihr „jetziger Mann“ und sie seien dann in den Iran geflüchtet und hätten sich von einem Mullah verehelichen lassen. Später habe sie erfahren, dass ihr damaliger Ehemann sich in seiner Ehre und seinem Stolz verletzt gefühlt habe, bei einem Streit ihren Vater getötet und geschworen habe, dass er auch sie und ihren jetzigen Mann umbringen würde. Vor ca. 7 Monaten sei ihr „jetziger Mann“ von den iranischen Behörden aufgegriffen worden. Seitdem wisse sie nicht, ob er nach Syrien oder nach Afghanistan geschickt worden sei. Da auch sie im Iran illegal aufhältig gewesen sei, wie ihr Mann, habe sie Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Deshalb habe sie beschlossen, nach Europa zu flüchten. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte sie, von ihrem damaligen Ehemann umgebracht zu werden.

I.3. BF2 gab anlässlich seiner Erstbefragung am 09.10.2015 zusammengefasst an, er sei ebenfalls Hazara, Schiit und stamme aus Bamyan. Vor einigen Jahren habe ein junger Mann in Afghanistan um die Hand seiner anwesenden Schwester, BF1, angehalten. Da dieser aber nicht wohlhabend gewesen sei, sei ihr Vater gegen diese Ehe gewesen. Später habe ein viel älterer Mann um die Hand der Schwester gebeten. Sein Vater habe dies gegen den Willen der Schwester akzeptiert, die somit diesen Mann heiraten habe müssen. Eines Tages habe der junge Mann seine Schwester besucht. Plötzlich sei ihr Ehemann gekommen und habe die beiden zusammen gesehen. Dann sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen und der Ehemann seiner Schwester sei vom jungen Mann bewusstlos geschlagen worden. BF1 sei daraufhin in den Iran geflüchtet. Als ihr Ehemann zu sich gekommen sei, sei er zur Familie gekommen und habe geklagt, dass er seine Ehre und seinen Stolz verloren habe und er deshalb Rache nehmen werde. Es sei zwischen diesem Mann und dem Vater zu einer Auseinandersetzung gekommen und der Vater sei von diesem Mann getötet worden. Er habe gedroht, auch die restliche Familie umzubringen, worauf seine Mutter dann mit ihm und seinen weiteren zwei Schwestern in den Iran gegangen sei. Da sie im Iran illegal aufhältig gewesen seien und die Gefahr bestanden habe, nach Afghanistan abgeschoben zu werden, habe seine hier anwesende Schwester mit ihm den Iran verlassen. Im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, vom Ehemann seiner Schwester umgebracht zu werden.

I.4. Am 15.11.2017 wurde BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich (in Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen.

Sie gab auf das Wesentlichste zusammengefasst an, sie stamme aus der afghanischen Provinz Bamyan, Distrikt Panjab, Dorf XXXX , wo sie mit ihrer Familie gelebt habe. Ihr Vater sei sehr streng gewesen und habe nicht gewollt, dass sie eine Schule besuche. Sie habe keine Schule besucht und keinen Beruf erlernt. Sie sei zu Hause gewesen, habe Hausarbeiten gemacht und in der Landwirtschaft ihrer Familie gearbeitet.

Zu ihren Fluchtgründen sagte sie aus, sie sei damals in ihrem Heimatdorf mit ihrem „jetzigen Mann“ befreundet gewesen, der bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten habe. Ihr Vater habe die Heirat nicht gewollt, weil er arm gewesen sei. Dann habe ihr Vater sie an ihren Ehemann versprochen, der reich gewesen sei. Obwohl sie dies nicht gewollt habe, habe ihr Vater sie zur Heirat mit diesem Mann gezwungen. Ihr Ehemann, bei dem sie ca. 5 Monate gelebt habe, habe sie sehr schlecht behandelt und geschlagen. Dann sei ihr „jetziger Mann“ zu ihr gekommen und habe mit ihr gesprochen. Sie habe ihre Kleidung ausgezogen. Da sei ihr Ehemann nach Hause gekommen und die beiden Männer hätten gestritten. Ihr „jetziger Mann“ habe ihren damaligen Ehemann geschlagen und dieser sei bewusstlos geworden. Daraufhin seien sie in den Iran geflüchtet, wo sie in der Folge gelebt hätten. Ein Mullah habe sie und ihren jetzigen Mann getraut. Einige Monate später sei sie schwanger geworden und ihre Tochter, BF3, sei auf die Welt gekommen, ihr „jetziger Mann“ sei der Vater von BF3. BF1 habe im Iran ca. drei Jahre lang eine Koranschule besucht und in der Landwirtschaft gearbeitet. Es sei ihnen gut gegangen, sie hätten aber Angst gehabt, weil sie keinen Aufenthaltstitel gehabt hätten. Im Iran sei ihr “jetziger Mann“ von der Polizei aufgegriffen worden und nach Afghanistan oder Syrien geschickt worden, sie habe nichts mehr von ihm gehört. Ein Bekannter habe ihr erzählt, dass ihr Vater bei einem Streit mit ihrem ersten Ehemann ein paar Tage nach ihrer Ausreise wegen ihr ermordet worden sei. Wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müsste, würde sie auf jeden Fall umgebracht werden. Ihre Mutter sei dann mit den Geschwistern von BF1, zwei Schwestern und ein Bruder, BF2, auch in den Iran gekommen. Ihr Bruder habe im Iran den Job verloren und da sie keinen Aufenthaltstitel gehabt hätten, sei BF1 schließlich mit ihrem Bruder und ihrer Tochter, BF3, aus dem Iran nach Europa ausgereist. Ihre Mutter lebe nach wie vor gemeinsam mit ihren beiden Schwestern im Iran. Für BF3 wurden darüber hinaus keine eigenen Fluchtgründe in Bezug auf Afghanistan geltend gemacht.

I.5. Am 15.11.2017 wurde auch BF2 vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

Er gab auf das Wesentlichste zusammengefasst an, er stamme aus demselben Dorf wie seine Schwester und habe dort mit der Familie gelebt. Er sei im Heimatdorf fünf Jahre lang zur Schule gegangen und habe in der Landwirtschaft seines Vaters gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen sagte er aus, seine Schwester, BF1, habe einen jungen Mann gekannt, der sie heiraten wollte. Ihr Vater habe dies nicht akzeptiert, wahrscheinlich deshalb, weil der Mann arm gewesen sei. Seine Schwester habe dann einen reichen Mann heiraten müssen. Eines Tages sei der Ehemann seiner Schwester zur Familie nach Hause gekommen und habe erzählt, er habe die Schwester mit dem jungen Mann zu Hause erwischt. Sie hätten gestritten und der Mann habe den Ehemann geschlagen, sodass er ohnmächtig geworden sei. Die Schwester sei dann mit dem jungen Mann weggelaufen. Der Ehemann habe mit dem Vater von BF2 gestritten und habe wissen wollen, wohin die Schwester mit dem jungen Mann gegangen sei. Er habe gesagt, die Familie müsse ihm die Schwester wiederbringen, lebend oder tot, das sei eine große Schande für ihn. Er habe den Vater bedroht und gesagt, wenn die Schwester in 2-3 Tagen nicht zurück sei, nehme er sich die andere Tochter als Pfand. Der Vater habe versucht, BF1 zu finden, jedoch ohne Erfolg. Der Ehemann sei immer mit zwei Brüdern zur Familie gekommen und habe dem Vater gedroht, ihn umzubringen, wenn er die Schwester nicht zurückbringen könne. 2-3 Tage später sei BF2 von der Koranschule nach Hause gekommen. Es seien viele Männer vor dem Haus gewesen. Drinnen sei ein Mann mit einem weißen Tuch bedeckt auf dem Bett gelegen. Seine Mutter und seine Schwestern seien daneben gesessen und hätten geweint. Dann habe er gewusst, dass das sein Vater gewesen sei, der vom Ehemann und seinen Brüdern umgebracht worden sei. Nach 2-3 Tagen sei der Ehemann wiedergekommen und habe BF2 mit einem Messer gedroht. Er habe der Mutter gedroht, wenn sie die Schwester nicht finde, würde er BF2 umbringen. Er habe die Familie nicht mehr in Ruhe gelassen, deshalb seien sie zunächst zum Onkel und mit dessen Hilfe in den Iran gegangen. Im Iran habe BF2 in einer Schneiderei gearbeitet, bis sie schließlich nach Europa ausgereist seien. Im Iran befänden sich nach wie vor seine Mutter und seine beiden weiteren Schwestern.

I.6. Das BFA wies mit den angefochtenen Bescheiden vom 11.01.2018 die Anträge der BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 jeweils ab (jeweils Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan jeweils ab (jeweils Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (jeweils Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (jeweils Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (jeweils Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für ihre freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (jeweils Spruchpunkt VI.).

Begründend heißt es, dass für BF1 und BF2 in Afghanistan in der Herkunftsprovinz eine Bedrohung durch den Ehemann von BF1 bestehe, es stehe den BF jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Es sprächen keine Gründe für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Zuletzt kommt die belangte Behörde zu dem Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Außerlandesbringung der BF gegenüber ihren privaten Interessen am Verbleib in Österreich überwiegen würden und ein Eingriff in ihre durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte als gerechtfertigt anzusehen sei.

I.7. Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, fristgerecht eingebrachten und zulässigen Beschwerden. Die belangte Behörde habe sich nicht ausreichend mit den Fluchtgründen der BF auseinandergesetzt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung. BF1 habe mittlerweile auch einen westlichen Lebensstil angenommen, lebe hier in Österreich ihre Freiheiten aus und sei in Afghanistan auch deswegen asylrelevant verfolgt. Jedenfalls sei den BF subsidiärer Schutz zu gewähren bzw. die Rückkehrentscheidung aufzuheben.

I.8. Mit Schreiben vom 04.02.2021 wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen der BF übermittelt.

I.9. Am 14.06.2021 fand am Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein der BF und ihrer Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde ist entschuldigt nicht erschienen. Auf die Verlesung des gesamten Akteninhalts wurde verzichtet. Die BF legten diverse weitere Unterlagen zu ihren Integrationsbemühungen vor. Als Zeuge wurde der Bürgermeister der Wohngemeinde der BF einvernommen. Von der erkennenden Richterin wurden das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan“ idF 11.06.2021, Version 4, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, sowie die EASO „Country-Guidance: Afghanistan - Guidance note and common analysis“ in das Verfahren eingebracht.

I.10. Am 21.06.2021 wurde den BF, wie in der mündlichen Verhandlung vom Rechtsvertreter der BF erbeten, das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan“ idF 11.06.2021, Version 4, zur Stellungnahme übermittelt. Die BF übermittelten am 28.06.2021 durch ihre Rechtsvertretung eine kurze Stellungnahme dazu, in der u.a. auf die westliche Orientierung von BF1 hingewiesen wurde.

I.11. Am 26.08.2021 wurden den Parteien die Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesetzliche Vertretung von Minderjährigen, Übertragung der Sorgepflicht, 18.07.2018, die Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Regeln für Obsorge bei Waisen, 27.07.2018, KI der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen, Afghanistan, 20.08.2021 sowie die UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, 8/2021 zur allfälligen Stellungnahme zugeschickt. Die BF haben eine Stellungnahme erstattet, wonach BF1 und BF2 sich seit ihrer Einreise nach Österreich gemeinsam hier aufhalten bzw. gemeinsam in einer Wohnung leben und BF1 seit der Ausreise aus dem Iran immer die faktische Obsorge über ihren Bruder BF2 (solange dieser minderjährig war) innehatte; der gerichtliche Beschluss, der in Österreich die Obsorge dem Jugendwohlfahrträger übertragen habe, sei für die BF nicht nachvollziehbar. Im Übrigen wird auf die volatile Situation im Herkunftsland seit der Machtübernahme durch die Taliban hingewiesen. Diese Stellungnahme wurde an die belangte Behörde übermittelt; die belangte Behörde hat davon Abstand genommen, zu den übermittelten Unterlagen eine Stellungnahme einzubringen.

I.12. Am 17.09.2021 wurde den Parteien das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan“ idF 16.09.2021, Version 5, im Parteiengehör übermittelt. Beide Parteien nahmen davon Abstand, dazu Stellung zu nehmen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Zur Person der BF und zu ihrem Leben in Österreich:

Die BF sind afghanische Staatsangehörige, ihre Muttersprache ist Dari. Sie gehören der Volksgruppe der Hazara an und sind schiitisch-muslimischen Glaubens. BF1 spricht weiters Farsi und Deutsch.

BF1 stammt aus der afghanischen Provinz Bamyan, Distrikt Panjab, Dorf XXXX und hat dort mit ihrer Familie gelebt. Sie hat keine Schule besucht, da ihr Vater dies nicht erlaubt hat, und keinen Beruf erlernt. Sie war zu Hause, hat Hausarbeiten gemacht und in der Landwirtschaft ihrer Familie gearbeitet. Zuletzt hat sie ca. drei Jahre lang im Iran gelebt. Im Iran ist auch ihre Tochter, BF3, auf die Welt gekommen. BF1 hat im Iran in der Landwirtschaft gearbeitet und ca. drei Jahre lang eine Koranschule besucht. Ihr Vater ist bereits verstorben. Er wurde vom Ehemann ermordet, weil er ihm BF1 nicht zurückbringen konnte. Im Iran leben noch die Mutter und die zwei Schwestern von BF1 und BF2, sie haben zu ihnen Kontakt. Die Mutter und die ältere Schwester arbeiten in der Landwirtschaft. Die Schwestern sind noch nicht verheiratet und leben bei der Mutter. BF1 und BF2 haben noch Familienangehörige (Onkel und Tanten mütterlicherseits und väterlicherseits) im Heimatdorf in Afghanistan, haben aber keinen Kontakt zu ihnen.

BF2 wurde im selben Dorf wie BF1 in der Provinz Bamyan geboren, hat dort mit der Familie gelebt und hat im Heimatdorf fünf Jahre lang die Schule besucht. Er hat ebenfalls in der Landwirtschaft seines Vaters gearbeitet. Zuletzt hat er mit seiner Familie einige Jahre im Iran gelebt, wo er in einer Schneiderei gearbeitet hat.

Die volljährige BF1 kam mit ihrem bei der Antragstellung minderjährigen, inzwischen volljährigen Bruder, BF2, und ihrer nach wie vor minderjährigen Tochter, BF3, aus dem Iran nach Österreich, wo sie gemeinsam Anträge auf internationalen Schutz stellten. BF2 befand sich von der Ausreise aus dem Iran an faktisch in der Obhut seiner älteren Schwester, eine formelle Übertragung der gesetzlich der Mutter von BF1 und BF2 zukommenden Vormundschaft auf BF1 hat nicht stattgefunden.

Die BF leben in Österreich im gemeinsamen Haushalt.

BF2 hat in Österreich Deutschkurse besucht und die Deutschprüfungen auf dem Niveau A1, A2 und B1 absolviert. Er hat zunächst ein Gymnasium und Kurse besucht, jedoch die Schule bzw. den Pflichtschulabschluss nicht abgeschlossen. BF2 hat sich in Österreich bereits ehrenamtlich betätigt bzw. Remunerationstätigkeiten für die Gemeinde durchgeführt und dabei einen sehr guten Eindruck hinterlassen; der als Zeuge einvernommene Bürgermeister der Gemeinde hat ein realistisches Szenario für eine berufliche Integration des BF2 gezeichnet. Er hat Freunde, darunter auch Österreicher. Er macht Unternehmungen mit seiner Schwester und seiner Nichte, spielt Fußball mit Freunden und geht in ein Fitness-Center.

BF1 hat in Österreich zunächst Deutschkurse besucht und die Deutschprüfungen auf dem Niveau A1 und A2 absolviert. Zuletzt hat sie einen Deutschkurs auf dem Niveau B2 besucht. Sie spricht bereits sehr gut Deutsch. BF1 hat an einem Werte- und Orientierungskurs und an verschiedenen Vertiefungskursen beim Österreichischen Integrationsfonds teilgenommen. Sie hat den Pflichtschulabschluss-Lehrgang als Abendlehrgang besucht und dann erfolgreich die Pflichtschulabschluss-Prüfung abgelegt. BF1 war mehrere Jahre lang im Rahmen von Dienstleistungsschecks als Reinigungskraft tätig. Sie hat sich bereits mehrfach ehrenamtlich engagiert. Sie ist Mitglied in einen örtlichen Verein und hilft dort ehrenamtlich bei Projekten und Veranstaltungen mit. Weiters nimmt sie in ihrer Wohngemeinde an einem Projekt teil, in dem Grundkenntnisse in der Gastronomie vermittelt werden. Sie war bei einem Fußballverein als Raumpflegerin tätig und hat auch in der Pfarre, beim Reinigen der Kirche und bei Vereinen ausgeholfen. Weiters hat sie freiwillige Tätigkeiten in einem Alten- und Pflegeheim geleistet. Die Tätigkeit im Altenheim hat ihr sehr viel Freude bereitet, deshalb möchte sie eine Ausbildung als Fachsozialbetreuerin im Altenheim machen. Sie hat sich über die konkreten Voraussetzungen und den Ablauf der Ausbildung erkundigt und bereits einen Kurs zur Vorbereitung für Pflegeassistenzberufe absolviert. Künftig möchte sie in einem Altenheim arbeiten; ihre berufliche Integration ist in diesem Bereich nach Abschluss der Ausbildung jedenfalls realistisch.

BF1 wird von ihrem Bruder BF2 nach Kräften unterstützt, so hat er etwa ihre Tochter, seine Nichte, betreut, wenn BF1 die Abendschule besucht hat. BF1 ist jedoch von ihrem Bruder weder finanziell noch sonst abhängig und organisiert ihren Alltag als alleinerziehende Mutter selbständig. Sie hat ein eigenes Konto und ein eigenes Handy. Zu Elternabenden in der Volksschule ihrer Tochter geht sie alleine. Ihre Tochter besucht die Volksschule und sie wünscht sich für sie eine gute Ausbildung und erzieht sie nach ihren eigenen, liberalen Wertvorstellungen.

BF1 hat einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, darunter auch viele Österreicher, die sie unterstützen und mit denen sie ihre Freizeit verbringt. BF1 trifft Freunde, geht Schwimmen und ins Fitness-Center. Sie konnte ein Interesse für die österreichische Kultur und aktuelle tagespolitische Themen substantiieren.

BF1 und BF2 sind in Österreich strafrechtlich unbescholten, die mj. BF3 ist strafunmündig.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen der BF1 und ihrer Situation im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

BF1 wurde in ihrem Heimatland von ihrem Vater streng erzogen und musste gegen ihren Willen einen Mann heiraten, obwohl sie in einen anderen Mann verliebt war, der aber nicht die Zustimmung des Vaters fand. Nach der Eheschließung kam es zu einem Zusammentreffen der BF1 mit dem Mann, in den BF1 verliebt war, und ihrem Ehemann, und der Ehemann fand die beiden in einer kompromittierenden Situation vor. Seither sind BF1, und BF2 als ihr Angehöriger (Bruder), von Seiten des Ehemannes im Herkunftsdorf einer Bedrohung ihres Lebens ausgesetzt. BF1 und der Mann, in den sie verliebt war, flüchteten in den Iran, wo auch die gemeinsame Tochter BF3 zur Welt kam. Dass BF1 mit diesem Mann im Iran eine gültige Ehe geschlossen hat, wird nicht festgestellt. Nach einem Aufgriff dieses Mannes durch die iranische Polizei ist der Kontakt zwischen ihm und BF1 abgebrochen. Wo sich dieser Mann aufhält, ist unbekannt. Nach der Flucht von BF1 wurde der Vater von BF1 und BF2 vom Ehemann von BF1 ermordet, weil er BF1 nicht zu ihm zurückbringen konnte.

Die BF1 ist mittlerweile eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Sie bewältigt ihren Alltag als alleinerziehende Mutter in Österreich selbständig, strebt nach (Weiter-)Bildung und wirtschaftlicher Selbständigkeit und will in Österreich einen Beruf ergreifen. Sie hat sich mehrfach ehrenamtlich betätigt und hat konkrete und realistische Berufs- und Weiterbildungspläne für die Zukunft. Sie hat Kontakte auch zu Österreichern geknüpft, betreibt Sport und nimmt aktiv am gesellschaftlichen Leben teil.

Auch ihr Erscheinungsbild entspricht nicht den in Afghanistan für Frauen bestehenden Bekleidungsvorschriften. Sie ist westlich modern gekleidet, trägt kein Kopftuch und ist dezent geschminkt. BF1 bringt deutlich zum Ausdruck, in Österreich ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen und auch künftig führen zu wollen, wobei ihr ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit sehr wichtig sind.

Diese Einstellung steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan vorherrschenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen bzw. zu den bestehenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

II.1.3. Zur aktuellen Situation in Afghanistan werden folgende Feststellungen getroffen:

II.1.3.1. Aktuelle Lage in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (16.09.2021, Version 5):

Politische Lage (letzte Änderung: 16.09.2021)

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban (letzte Änderung: 16.09.2021)

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).

Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).

Sicherheitslage (letzte Änderung: 16.09.2021)

Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).

Vorfälle am Flughafen Kabul

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).

Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).

Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vgl. NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vgl. BAMF 6.9.2021).

Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vgl. FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vgl. FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefägnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021): Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021).

Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten (letzte Änderung: 16.09.2021)

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vgl. DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vgl. ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vgl. MMM 20.8.2021).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vgl. HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vgl. SKN 27.8.2021).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).

Taliban (letzte Änderung: 14.09.2021)

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).

Taliban - Struktur und Führung (letzte Änderung: 16.09.2021)

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen (RFE/RL 6.8.2021) bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten (FR 18.8.2021) ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks (RFE/RL 6.8.2021) und der Miran Shah-Schura ist (UNSC 1.6.2021). Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der "Übergangsregierung" die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister (NZZ 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vgl. TN 3.9.2021).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Frauen (letzte Änderung: 16.09.2021)

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019).

Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuell

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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