Entscheidungsdatum
19.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W159 2202522-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX StA Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.06.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.11.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Hazara zugehörig, gelangte (spätestens) am 01.06.2015 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 02.06.2015 erfolgte die Erstbefragung durch das XXXX . Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund befragt an, er glaube nur an Gott, anerkenne keine Religion und fühle sich zu keiner Religion hingezogen. Sowohl im Iran und in Afghanistan werde diese Einstellung mit dem Tode bestraft, weil er sich in diesen Ländern als Moslem bekennen müsse. Deswegen sei er in ein europäisches demokratisches Land geflüchtet, wo ihm Religionsfreiheit zugestanden werde. Zusätzlich gab der Beschwerdeführer an, er habe im Iran im Gegensatz zu seiner Mutter, keinen Aufenthaltstitel erhalten können und habe sich illegal im Iran aufgehalten. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen, habe dort keine Bleibe und keine Bezugspersonen.
In der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl EAST Ost am 07.11.2017 brachte der Beschwerdeführer Fotos sowie die Geburtsurkunde seiner Mutter und seines Bruders, die Kopien der ID-Cards seiner Mutter und seines Bruders, die Heiratsurkunde seiner Eltern in Vorlage. Er erklärte, er persönlich habe niemals eine Tazkira, Geburtsurkunde, ID-Card oder einen Reisepass besessen. Er legte auch diverse Empfehlungsschreiben und einen Dienstvertrag vor. Er gab an, er sei am XXXX in XXXX im Iran geborenworden. Im Alter von sechs Jahren habe er begonnen als Aushilfe in einer Glasfirma zu arbeiten und habe dort bis zu seinem 24. Lebensjahr gearbeitet. Er sei Mitglied in zwei verschiedenen Boxvereinen gewesen. Er sei ledig, habe keine Kinder, sein Vater war Hazara, Moslem und Schiit und sei nunmehr verstorben. Er persönlich sei Atheist. Er stehe mit seiner Mutter, und seinen Geschwistern, die im Iran leben würden in Kontakt. Eine seiner Schwester würde mit ihrem afghanischen Mann und zwei Kindern in Schweden leben. Er habe keine Verwandten oder Freunde in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer gab befragt an, er sei weder vorbestraft, noch sei er in seinem Heimatland inhaftiert gewesen oder habe Probleme mit den Behörden in seiner Heimat gehabt. Es bestünden keine aktuellen staatlichen Fahndungsmaßnahmen gegen ihn. Er sei nicht politische tätig gewesen oder ein Mitglied einer politischen Partei. Er habe auch in seinem Herkunftsstaat Iran aufgrund seines Religionsbekenntnisses keine Probleme gehabt. Er habe aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit Probleme gehabt. Er habe keine größeren Probleme mit Privatpersonen. Er habe in seinem Heimatland weder an bewaffneten oder an gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen.
Er erklärte, dass sein Vater Afghane gewesen sei und seine Mutter Iranerin wäre. Er habe keine Aufenthaltspapiere bekommen. Er habe im Iran keinen Platz zum Leben gefunden und es hätten ihn immer Schwierigkeiten begleitet.
Am 10.01.2018 übermittelte der Beschwerdeführer seine Meldebestätigung, das ÖSD-A2 Zertifikat, eine AMS Arbeits- und Weiterbeschäftigung, den Lohnzettel 2017 und seinen aktuellen Boxpass.
Am 28.05.2018 gab das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Woche Frist, um zu seiner persönlichen (privaten) Situation in Österreich, bzw. allenfalls zu seinem Gesundheitszustand Stellung zu nehmen. Am 05.06-2018 gab der Beschwerdeführer u.a. bekannt, dass er die Behörde informiert habe, dass er seit 09.01.2018 bei seiner Freundin wohnen würde. Seine Freundin, XXXX und er beabsichtigen zu heiraten, wenn sein Asylbescheid positiv ausfallen würde.
Mit Bescheid des BFA vom 27.06.2018, Zl. XXXX wurde unter Spruchpunkt I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, unter Spruchpunkt II. dieser Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt IV. eine Rückkehrentscheidung erlassen und unter Spruchpunkt V. die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt.
In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt sowie Feststellungen zu Afghanistan getroffen. In der Beweiswürdigung wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer keine konkrete individuelle und asylrelevante Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) glaubhaft machen hätte können.
Rechtlich begründend wurde zu Spruchpunkt I. insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller keine glaubhaften asylrelevanten Gründe im Sinne der GFK darlegen hätte können und daher begründete Furcht als Voraussetzung für die Asylgewährung ausgeschlossen werden könne. Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde auf eine mögliche inländische Fluchtalternative in Kabul oder einer anderen afghanischen Großstadt hingewiesen. Es könnten daher aus den individuellen persönlichen Verhältnissen keine Gefährdung im Sinne des § 8 AsylG abgeleitet werden. Es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sei, seine dringendsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG lägen nicht vor (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer über keine Familienangehörigen im Bundesgebiet verfüge. Seine Beziehung zu seiner Freundin XXXX würde etwa drei Monate, gerechnet vom Einvernahmetag, bestehen und würde lt. VwGH nicht relevant sein, da die Dauer der Beziehung unter fünf Jahren liegen würde. In Anbetracht des Verstoßes gegen die Einreisevorschriften sei auch nicht von einem schützenswerten Privatleben auszugehen und es sei daher ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht zu erteilen und eine Rückkehrentscheidung für zulässig zu erachten gewesen. Zu Spruchpunkt V. wurde insbesondere dargelegt, dass keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG vorliege und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehe, sodass diese als zulässig zu bezeichnen sei (Spruchpunkt V.). In Spruchpunkt VI. (Anmerkung: wurde im Spruchteil nicht angeführt) sei eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen festgelegt worden.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch XXXX fristgerecht, gegen alle Spruchpunkte Beschwerde, in der zunächst der bisherige Verfahrensgang und das Vorbringen (gerafft) wiedergegeben wurde.
Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer Apostat -ein vom Glauben Abgefallener, ein Atheist, ein verwestlichter Mann und Hazara sei. Lt. Art. 9 EMRK bestehe das Grundrecht auf Religionsfreiheit. Der Beschwerdeführer glaube an keinen islamischen Gott, er glaube nicht an den Koran, das Paradies und göttliche Himmelreich. Er würde weder beten noch fasten. Er würde wegen seiner Intoleranz und die im Namen des Islam begangenen Verbrechen, den Islam ablehnen. Der Beschwerdeführer habe seine atheistischen Glaubensüberzeugungen verinnerlicht, es sei ihm unmöglich, nicht nach diesen Überzeugungen zu leben, sie seien Teil der Identität des Beschwerdeführers und persönlichkeitsbestimmend.
Mit der Beschwerde wurden eine Bestätigung über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft vom 06.07.2018, je ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A1 sowie Sprachniveau A2, diverse Empfehlungsschreiben u.a. der Lebensgefährtin sowie der Mutter seiner Lebensgefährtin, Lohn- und Gehaltsabrechnungen, eine Meldebestätigung, ein Mietvertrag, vorgelegt.
Am 01.01.2021 bevollmächtigte der Beschwerdeführer die XXXX ihn vor dem Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Rechtsmittelverfahren zu vertreten.
Am 19.08.2021 wurde auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses die gegenständliche Rechtssache der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.
Am 09.11.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung anberaumt, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung XXXX für die BBU GbmH, als Zeugin XXXX und eine Dolmetscherin teilnahmen. Ein Vertreter des BFA, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz war entschuldigt nicht erschienen.
Die Rechtsvertretung beantragt die Einvernahme der Zeugin XXXX zum Beweis des Abfalls vom Islam und zum bestehenden Privatleben in Österreich.
Es wurde in Vorlage gebracht ein Lebenslauf samt Fotomappe über Tattoos, das Privatleben und seine sportlichen Erfolge, ein Zeugnis zur Integrationsprüfung B1, ein Bescheid über eine Beschäftigungsbewilligung bis 05.09.2022, ein Arbeitsvertrag mit der XXXX samt Arbeitsvereinbarung, Dienstzettel, Lohn- und Gehaltsabrechnung; ein Box-Pass, Bestätigungen des österr. Box-Verbandes sowie diesbezügliche Pressemeldungen, eine Bestätigungen der Familie XXXX und eine Bestätigung des XXXX .
Der Beschwerdeführer gab an, er halte sein bisheriges Vorbringen einschließlich der Beschwerde aufrecht. Er wolle keine Ergänzungen oder Korrekturen anbringen. Seine Angaben haben der Wahrheit entsprochen.
Er gab befragt an, er sei im Iran geboren worden, da sein Vater Afghane gewesen war, sei er afghanischer StA. Die rechtliche Vertretung hielt fest, dass der Beschwerdeführer nach seiner Meinung afghanischer StA sei und kein gegenteiliges Vorbringen erstattet worden werde. Nachgefragt erklärte der Beschwerdeführer es sei ihm nicht die iranische StA verliehen worden. Er hätte über keinerlei Dokumente, weder afghanische, noch iranische, verfügt.
Er sei der Volksgruppe der Hazara zugehörig und sei schiitischer Moslem gewesen. Jetzt sei er Atheist. Auf die Frage des Richters, aus welchen Gründen er sich vom Islam abgewandt habe, antwortete der Beschwerdeführer: „Ich hatte kein Recht, meine Meinung frei zu äußern. Ich glaube grundsätzlich nicht an Gott, weil ich Atheist bin, aus diesem Grund akzeptiere ich auch keine Religion.“ Der Richter erkundigte sich, ob der Beschwerdeführer sich schon im Iran innerlich vom Islam distanziert habe. Der Beschwerdeführer erklärte: „Gewiss, ich hielt mich nicht an die Regeln des Islam, ich habe Alkohol getrunken und div. andere Dinge gemacht, die im Islam verboten sind. … Der Auslöser für meine Entscheidung Atheist zu werden, ist ein Ereignis in Griechenland. Ich habe damals dort auf der Reise nach Europa 4 Tage auf ein Schiff gewartet und in dieser Zeit kam eine griechische Dame und brachte uns zu Essen. Ich glaubte ursprünglich, dass Menschen anderen Menschen helfen, weil ihre Religion ihnen das vorschreibt, aus diesem Grund fragte, ich sie nach ihrer Religion, sie sagte, sie sei Atheistin. Trotzdem war sie nett genug, um uns Essen zu bringen, das hatte mit ihrer Religion nicht zu tun.“ Er habe sich näher mit dem Atheismus auseinandergesetzt, sehr viele Filme geschaut und in Dokumenten gelesen. Er gab nunmehr an, er leugne jegliche Existenz eines Gottes.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, wenn ein Mensch sterben würde, dann sei er tot – „Dann ist es aus, fertig.“ Der Beschwerdeführer erklärte, seine Familie wisse, dass er vom Islam abgefallen sei, sie sei nicht begeistert, habe es aber akzeptiert. Er habe viel mit seinem Bruder darüber gesprochen, welcher auch Atheist geworden sei. Sein Bruder produziere auch Alkohol.
Der Richter erkundigte sich, ob jemand in Afghanistan über seinen Glaubensabfall Bescheid wüsste. Der Beschwerdeführer erklärte, er habe niemanden in Afghanistan und würde dort auch niemanden kennen. Er sei in XXXX , Iran am XXXX geboren worden. Diese Angaben habe er auch bei der Polizei gemacht, aber der Dolmetscher habe dieses Datum nicht richtig umgerechnet. Er habe im Iran, in seinem Geburtsort bis zu seiner Ausreise gelebt und sei noch nie in Afghanistan gewesen.
Befragt gab er an, er habe ein schweres Leben im Iran gehabt, weil er über keinen Aufenthaltstitel verfügt hätte. Er habe auch nicht den Lohn, der ihm zugestanden wäre, bekommen. Abgesehen davon, sei er auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause jedes Mal von der Polizei aufgehalten worden und habe Geld zahlen müssen, um wieder freigelassen zu werden. Er habe im Iran keine Rechte gehabt. Er sei jedoch im Iran nicht eine längere Zeit im Gefängnis angehalten worden. Es sei aber versucht worden, ihn nach Afghanistan abzuschieben. In diesem Fall habe Geld seine Probleme gelöst. Der Beschwerdeführer erzählte er habe keine Schule im Iran besucht. Er habe mit 6 Jahren schon begonnen im Iran, in einer Glasfabrik zu arbeiten und habe bis zu seiner Ausreise dort gearbeitet. Er erklärte er habe auch wirtschaftliche Probleme im Iran gehabt.
Er jedoch keine Probleme mit afghanischen Behörden, bewaffneten Gruppierungen wie den Taliban oder afghanischen Privatpersonen in Afghanistan gehabt, denn er habe sich im Iran aufgehalten. Im Iran würden keine Taliban sein. Er habe den Iran mangels persönlicher Rechte, weil er keine Ausbildung machen durfte und keinen Aufenthaltsstatus gehabt hätte verlassen.
Es habe ihm auch zu 100 Prozent der islamische Gottesstaat im Iran gestört. Er sei sehr oft wegen seinen Tattoos geschlagen worden. Seine Tattos, welche er sich im Iran stechen hätte lassen, hätten keine besondere Bedeutung gehabt. Er habe sich in Österreich noch weitere Tattoos am Hals machen lassen, diese würden Freiheit bedeuten.
Er könne sich auch nicht an das genaue Datum seiner Ausreise erinnern. Es sei damals die Fußballweltmeisterschaft 2014 gewesen und er sei auf dem Landweg illegal in die Türkei gereist und dann nach Europa. Seine Familienangehörigen würden abgesehen von einer verheirateten Schwester in Schweden, alle im Iran leben. Er wisse nicht, ob er Verwandte in Afghanistan habe, er persönlich würde niemanden kennen. Ein Freund der in Österreich gewesen sei, sei nach Afghanistan abgeschoben worden. Der letzte Kontakt sei vor fünf Monaten gewesen.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe aktuell keine gesundheitlichen oder psychischen Probleme. Er würde zurzeit in einer Fleischerei arbeiten. Nach der Arbeit würde er dann trainieren, er selbst sei Boxtrainer. Er erzählte auch, er lebe in einer Lebensgemeinschaft und sie hätten keine Kinder.
Der Richter erkundigte sich wie er XXXX kennengelernt hätte. Der Beschwerdeführer erzählte:„Ich hatte eine Deutschlehrerin XXXX , meine jetzige Freundin war ihre Freundin, sie hat früher auch boxen trainiert. Ich lernte sie über meine Deutschlehrerin kennen, das war 2017, das genaue Datum weiß ich nicht. Wir haben gemeinsam trainiert und uns getroffen, ab August 2017 wurden wir dann ein Paar.“
Seit diesem Zeitpunkt würden sie in einem gemeinsamen Haushalt leben. Er habe eine Wohnung in einem Bauernhof gehabt, bereit dort hätten sie zusammen gewohnt. Jetzt hätten sie eine gemeinsame Wohnung, sie würden in dem Haus wohnen, wo auch ihre Mutter leben würde. Seine Freundin sei selbstständig und würde als Fitness-Trainerin arbeiten. In ihrer Freizeit würden sie spazieren gehen, das Kino besuchen oder in ein Restaurant essen gehen.
Der Beschwerdeführer erzählte weiter, sie würden den Haushalt gemeinsam führen. Seine Freundin sei Vegetarierin, deshalb könne er nicht alles für sie kochen, was ihm schmecken würde. Das Geschirr spülen habe er übernommen. Sie würden gerne gemeinsame Reisen unternehmen und vor allem heiraten.
Er habe die Deutschkurse A1, A2, B1 und den Trainerschein als Boxtrainer gemacht. Mangels Dokumente hätte er den österreichischen Führerschein noch nicht machen können. Er habe hier in Österreich 9 Monate als Saisonarbeiter bei einem Landwirt, einem Rinderzuchtbetrieb gearbeitet. Er esse auch gerne Schweinefleisch und trinke Alkohol. Er sei im Box-Club XXXX in XXXX Mitglied und Trainer. Er habe im Halbschwergewicht geboxt. 2019 sei er Landesmeister in XXXX geworden. In Innsbruck habe er einen 1. Platz erlangt. Jetzt würde er nur mehr als Trainer für Frauen, Mädchen und Burschen engagiert sein. Er habe auch mit Österreichern Freundschaften geschlossen.
Der Richter erkundigte sich, welche Pläne der Beschwerdeführer habe, wenn er in Österreich bleiben dürfte. Er erklärte: „Ich möchte meine Arbeit, wo ich bin, weiter fortsetzen, mein Arbeitgeber ist sehr zufrieden mit mir. Ich habe auch vor, die Lehre als Fleischer und die LAP zu machen, wobei ich gut in Deutsch sprechen kann, aber nicht so gut schreiben kann. Ich möchte gerne der beste Box-Trainer Österreichs werden. … Ich kann mir das gar nicht vorstellen, ich denke gar nicht darüber nach, nach Afghanistan zurückzukehren, eine Person wie ich, die nicht an Gott glaubt und mit meinen Einstellungen habe ich in Afghanistan überhaupt keine Chance. Schon gar nicht bei der derzeitigen Situation, wo die Taliban das Land beherrschen.“ Er habe mit vielen von seinen Freunden über den Atheismus diskutiert, jetzt seien sie alle Atheisten aufgrund der Gespräche mit ihm geworden. Er habe mit Iranern und Afghanen gesprochen. Anfänglich, als er Schweinefleisch gegessen habe, habe es Probleme gegeben. Syrer hätten ihm erklärt, es sei ihm nicht gestattet Schweinefleisch zu essen oder zu kochen.
Auf die Frage seiner Rechtsvertretung, was er von Frauenrechten halten würde, führte er aus: „Was die Muslime mit den Frauen machen ist schrecklich. Die Frauen haben im Islam gar keine Rechte. Ich bedauere sehr, dass meine Schwestern im Iran sind. Ich habe eine Schwester namens Fahesaa, sie hat eine sehr schöne Figur, sie war auch Modell und hat eine Zeitlang auch als Modell gearbeitet, da sie keinen Aufenthaltsstatus im Iran hatte, konnte sie nicht weiterarbeiten und sie bekam Probleme mit der Polizei und hat deshalb damit aufgehört.“
Befragt zu seinem Verhältnis zu den Eltern seiner Lebensgefährtin, erzählte der Beschwerdeführer: „Wir haben ein ausgezeichnetes Verhältnis miteinander. Der Großvater ms ist vor 2 Jahren verstorben. Er war ein alter Mann, ich habe ihm immer die Haare geschnitten und auch sonst gepflegt, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Ich habe mit der Familie ms nach wie vor ein sehr gutes Verhältnis, ich bin immer bei Einladungen dabei.“
Befragung der Zeugin XXXX
Die Zeugin wurde belehrt, dass sie vor Gericht die Wahrheit zu sagen habe und es wurde auf die Entschlagungsgründe hingewiesen.
Sie gab befragt an, sie habe ihren Lebensgefährten im Mai 2017 beim Thai- und Kickboxen durch eine Freundin, die Deutschkurse gehalten habe, kennengelernt. Der Beschwerdeführer habe einen Trainingspartner gesucht. Sie hätten sich dann zum Essen verabredetet, hätten Ausflüge unternommen und sich ineinander verliebt. Ab Anfang August 2017 seien sie als Paar zusammen gewesen. Anfänglich sei sie zu ihm, in seine Mietwohnung auf einem Bauernhof, gekommen. Ab Jänner 2018 sei er zu ihr in das Haus ihrer Mutter gezogen. Sie hätten zu viert eine Wohngemeinschaft geführt, denn ihr Großvater ms. hätte auch bei ihnen gewohnt.
Die Arbeiten im Haushalt würden geteilt werden. Der Beschwerdeführer würde viel für die Mutter der Zeugin kochen, manchmal auch für die Zeugin, doch sie sei Vegetarierin und der Beschwerdeführer esse gern Fleisch. Er würde auch andere Hausarbeiten erledigen.
Die Zeugin erzählte dem Richter, dass der Beschwerdeführer mit ihrer Mutter und ihr persönlich, sehr respektvoll umgehen würde. Er würde nicht verstehen, warum in verschiedenen Kulturen Frauen und Männer nicht gleichberechtigt seien. Das Paar würde gerne spazieren gehen, Ausflüge unternehmen, Sport treiben und wandern. Ihr Freund würde den XXXX lieben. Sie seien auch schon am XXXX gewesen.
Sie sei beruflich als Mediengestalterin, ( XXXX ) lange selbstständig gewesen. Jetzt arbeite sie als Fitnesstrainerin und sei zusätzlich geringfügig als Grafikerin tätig.
Sie habe noch nie erlebt, dass ihr Freund beten würde oder sich an die islamischen Fastengebote halte – im Gegenteil. Er esse gerne Sparerips, trinke auch Alkohol in gemütlicher Runde, sei aber kein Alkoholiker. Sie habe mit ihrem Freund sehr viel über ihre religiöse Einstellung gesprochen, sie selbst sei Atheistin und sei von der Wissenschaft überzeugt. Sie hätte mit einem Partner Probleme, der eine sehr religiöse Einstellung hätte. Der Beschwerdeführer würde auch mit anderen Asylwerbern und Kollegen über seine anti-religiöse Einstellung diskutieren. Es würde ihn auch stören, dass viele Asylwerber hier das gleiche Leben wie im Herkunftsland führen würden, etwa was das Verhältnis zu ihren Frauen betreffen würde oder, dass sie sich untereinander abkapseln. Er sei auch der Ansicht, dass viele nichts über den Inhalt des Korans wissen würden. Er respektiere jedoch, dass jeder ein Recht auf seinen Glauben habe.
Die Zeugin gab des Weiteren an, dass das Paar gerne heiraten würde, sie könne sich ihr Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Er sei ihr Lebensgefährte und ihr Freund. Sie erzählte auch, dass er sich sehr lieb um ihren Opa gekümmert habe. Ihr Großvater sei ein schwieriger Mensch gewesen, aber mit ihrem Lebensgefährten habe er sich verstanden. Zu ihrer Mutter habe ihr Freund ein ausgezeichnetes Verhältnis. Ihre Mutter sei bildende Künstlerin, nunmehr in Pension. Ihr Freund sei auch bei Familienfestivitäten sehr willkommen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, der Volksgruppe der Hazara zugehörig und wurde am XXXX in XXXX , im Iran geboren und führt den Namen XXXX . Er lebte bis zu seiner Ausreise immer in XXXX , im Iran. Der Vater des Beschwerdeführers war afghanischer Staatsangehöriger, seine Mutter ist iranische Staatsangehörige. Der Beschwerdeführer hat als afghanischer Staatsangehöriger, illegal im Iran gelebt und seit seinem sechsten Lebensjahr in einer Glasfabrik gearbeitet.
In Österreich ist der Beschwerdeführer offiziell aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Er ist bekennender Atheist. Auslöser war ein Ereignis in Griechenland. Eine griechische Dame brachte ihm Essen gebracht, als er bereits 4 Tage auf ein Schiff wartete, welches ihn nach Europa bringen sollte. Es schrieb ihr keine Religion vor anderen Menschen zu helfen, denn diese Dame war Atheistin. Anschließend setzte sich der Beschwerdeführer mit dem Atheismus auseinander, bevor er selbst Atheist wurde.
In Österreich hat der Beschwerdeführer Deutschprüfungen auf B1 Level erworben. Der Beschwerdeführer ist in einem Boxclub eingeschrieben und nach einer erfolgreichen aktiven Zeit selbst Boxtrainer für Mädchen und Burschen. Er arbeitete als Saisonarbeiter in einer Landwirtschaft und ist nunmehr in einer Fleischhauerei angestellt.
Durch seine sportlichen Aktivitäten als Boxer hat er seine nunmehrige Freundin und Lebensgefährtin XXXX , kennen und lieben gelernt. Sie leben seit August 2018 im Haus der Mutter. Der Beschwerdeführer kümmerte sich auch um den Großvater seiner Freundin. Der Beschwerdeführer lebt einen „sehr westlichen Lebensstil.“ Er isst Schweinefleisch, besonders XXXX und trinkt bei gesellschaftlichen Anlässen auch Alkohol. Er liebt seine in Österreich gewonnene religiöse Freiheit und lebt diese. Er hat sich von der islamischen Religion XXXX abgewandt. Er betet nicht und hält sich nicht an die Fastenregeln. Er achtet die Frauenrechte und möchte mit einer Freundin, gerne mit Trauschein zusammenleben. Seine Freundin ist auch Atheistin.
Er ist laut Strafregister nicht vorbestraft.
Zu Afghanistan wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:
Todesstrafe
Letzte Änderung: 14.09.2021
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Todesstrafe in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 16.7.2021). Und zwar für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (StGb-AFGH 15.5.2017: Art. 170).
[Anmerkung: Über dies Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die Todesstrafe in Afghanistan sind noch keine validen Informationen bekannt]
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2057829.html, Zugriff 1.9.2021
? StGb-AFGH - Strafgesetzbuch Afghanistan [Afghanistan] (15.5.2017): Strafgesetz, liegt im Archiv der Staatendokumentation auf
Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 14.09.2021
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 23.8.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 16.7.2021). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 23.8.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AP 9.9.2021). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).
In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021).
In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (USDOS 12.5.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Religionsfreiheit sind noch keine validen Informationen bekannt]
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2057829.html, Zugriff 1.9.2021
? ABC News (29.8.2021): Afghanistan's religious minorities live in fear of Taliban, brace for persecution, https://www.nbcnews.com/news/world/afghanistan-s-religious-minorities-live-fear-taliban-brace-persecution-n1277249, Zugriff 2.9.2021
? AP - Associated Press (9.9.2021): Afghanistan’s last Jew leaves after Taliban takeover, https://apnews.com/article/middle-east-religion-israel-afghanistan-evacuations-c616b5b847da79f0cfc1de6f0f37b0b7, Zugriff 13.9.2021
? CIA - Central Intelligence Agency [USA] (23.8.2021): The World Factbook - Afghanistan, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/afghanistan/#people-and-society, Zugriff 2.9.2021
? USDOS - United States Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2020-report-on-international-religious-freedom/afghanistan/, Zugriff 2.9.2021
Apostasie, Blasphemie, Konversion
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Zahl der afghanischen Christen in Afghanistan ist höchst unsicher, die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und mehreren Tausend (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 16.7.2021). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Der Islam spielt eine entscheidende Rolle in der afghanischen Gesellschaft und definiert die Auffassung der Afghanen vom Leben, von Moral und Lebensrhythmus. Den Islam zu verlassen und zu einer anderen Religion zu konvertieren bedeutet, gegen die gesellschaftlichen Kerninstitutionen und die soziale Ordnung zu rebellieren (LI 7.4.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 konnten christliche Afghanen ihren Glauben nicht offen praktizieren (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). In den fünf Jahren davor gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020); jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021).
Landinfo argumentiert, dass die größte Bedrohung für einen afghanischen Konvertiten das Risiko ist, dass seine Großfamilie von der Konversion erfährt. Wenn das der Fall ist, wird diese versuchen, ihn oder sie davon zu überzeugen, zum Islam zurückzukehren. Dieser Druck kommt oft von den engsten Familienmitgliedern wie Eltern und Geschwistern, kann aber auch Onkel, Großeltern und männliche Cousins betreffen (LI 7.4.2021). Ein Konvertit wird in jeder Hinsicht stigmatisiert: als Repräsentant seiner Familie, Ehepartner, Eltern/Erzieher, politischer Bündnispartner und Geschäftspartner. Weigert sich der Konvertit, zum Islam zurückzukehren, riskiert er, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden und im Extremfall Gewalt und Drohungen ausgesetzt zu sein. Einige Konvertiten haben angeblich Todesdrohungen von ihren eigenen Familienmitgliedern erhalten (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021).
Die dominierende Rolle des Islam schränkt den Zugang zu Informationen über andere Religionen für die in Afghanistan lebenden Afghanen ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen in Afghanistan das Christentum kennen lernen, ist relativ gering. Normalerweise sind es Afghanen, die im Ausland leben, unter anderem in Pakistan oder im Iran, die mit dem Christentum in Kontakt kommen. In den Jahren zwischen dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 und deren erneuten Machtübernahme im August 2021 war die internationale Präsenz in Afghanistan beträchtlich und einige Menschen kamen möglicherweise durch ausländische christliche Entwicklungshelfer oder anderes internationales Personal mit dem Christentum in Kontakt. Verschiedene digitale Plattformen haben ebenfalls dazu beigetragen, dass mehr Menschen mit dem Christentum bekannt gemacht wurden (LI 7.4.2021).
Die Bibel wurde sowohl in Dari als auch in Paschtu übersetzt. Es konnten keine Informationen gefunden werden, die darauf hindeuten, dass die Bibel in Afghanistan zum Verkauf steht oder anderweitig auf legalem Wege erhältlich ist. Sie ist jedoch in Pakistan und im Iran erhältlich. Mehrere Ausgaben der Bibel wurden von iranischen Verlagen veröffentlicht und sind, wenn auch in begrenztem Umfang, in gewöhnlichen Buchläden im Iran erhältlich (LI 7.4.2021; vgl. LI 2017). Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Plattformen und sozialer Medien sind Informationen über verschiedene Religionen, einschließlich des Christentums, besser verfügbar als in der Vergangenheit. Die Bibel kann sowohl in Dari als auch in Paschtu kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden, ebenso wie anderes christliches Material (LI 7.4.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Apostasie, Blasphemie, Konversion sind noch keine validen Informationen bekannt]
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2057829.html, Zugriff 2.9.2021
? LI - Landinfo, Utlendingsforvaltningens fagenhet for landinformasjon [Norwegen] (7.4.2021): https://www.ecoi.net/en/file/local/2050251/Landinfo-Report-Afghanistan-Christian-Converts-070402021.pdf, Zugriff 2.9.2021
? LIFOS - Center för landinformation och landanalys inom migrationsområdet [Schweden] (21.12.2017): Temarapport: Afghanistan -Kristna, apostater och ateister, https://www.ecoi.net/en/file/local/1420820/1226_1515061800_171221551.pdf, Zugriff 2.9.2021
? USDOS - United States Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2020-report-on-international-religious-freedom/afghanistan/, Zugriff 2.9.2021
Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 16.09.2021
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 23.8.2021). Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42% Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, 9 bis 20% Hazara, ca. 9% Usbeken, 2% Turkmenen und 2% Belutschen (AA 16.7.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vgl. Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2021): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Mai 2021), https://www.ecoi.net/en/document/2057829.html, Zugriff 1.9.2021
? AAN - Afghanistan Analysts Network (24.3.2021): Afghanistan 1400: The dawn and decline of a political movement, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/afghanistan-1400-the-dawn-and-decline-of-a-political-movement/, Zugriff 15.9.2021
? CIA - Central Intelligence Agency [USA] (23.8.2021): The World Factbook - Afghanistan, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/afghanistan/#people-and-society, Zugriff 2.9.2021
? Karrell, Daniel (26.1.2017): Ethnic Political Mobilization in Contemporary Afghanistan: An Interview with Abdul Rahman Rahmani, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/sena.12216, Zugriff 15.9.2021 [liegt im Archiv der Staatendokumentation auf]
? NSIA - National Statistics and Information Authority [Afghanistan] (1.6.2020): Estimated Population of Afghanistan 2020-21, https://www.nsia.gov.af:8080/wp-content/uploads/2020/06/??????-????-????-????-????-???.pdf, Zugriff 2.9.2021
? STDOK - Staatendokumentation des BFA [Österreich] (7.2016): AfPak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, https://www.ecoi.net/en/file/local/1236701/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf, Zugriff 2.9.2021
? USDOS - United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 - Afghanistan, https://www.state.gov/reports/2020-country-reports-on-human-rights-practices/afghanistan/, Zugriff 2.9.2021
Beweis wurde erhoben durch:
- Erstbefragung des Beschwerdeführers durch das XXXX am 02.06.2015,
- Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz am 07.11.2017, sowie
- durch Befragung des Beschwerdeführers im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.11.2021, insbesondere auch durch Befragung der Zeugin XXXX ,
- durch Vorlage diverser Empfehlungsschreiben
- durch Bestätigung des Austrittes aus der islamischen Glaubensgemeinschaft am 06.07.2018,
- durch Zeugnisse zur Integrationsprüfung Sprachniveau A1, A2, B1,
- durch Vorhalt der relevanten Teile des aktuellen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation und
- Einsicht in die den Beschwerdeführer betreffenden Strafregisterauszug durch das Bundesverwaltungsgericht.
2. Beweiswürdigung:
Die Lage in Afghanistan hat sich im August 2021 maßgeblich verändert, die afghanische Regierung ist nicht mehr im Amt und die Taliban haben die Macht übernommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat demgemäß die aktuellsten Länderinformationen mit Stand 16.09.2021 zur Entscheidungsfindung herangezogen. Diese Informationen sind allgemein zugänglich und waren auch Gegenstand umfangreicher medialer Berichterstattung in den letzten Wochen.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers wird wie folgt gewürdigt:
Das Vorbringen eines Asylwerbers ist dann glaubhaft, wenn es vier Grunderfordernisse erfüllt (diesbezüglich ist auf die Materialien zum Asylgesetz 1991 [RV 270 BlgNR 18. GP; AB 328 BlgNR 18. GP] zu verweisen, die wiederum der VwGH-Judikatur entnommen wurden).
1. Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen.
2. Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
3. Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist u.a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen und
4. Der Asylwerber muss persönlich glaubwürdig sein. Das wird dann nicht der Fall sein, wenn sein Vorbringen auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt ist, aber auch dann, wenn er wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegründet einsilbig und verspätet erstattet oder mangelndes Interesse am Verfahrensablauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in zahlreichen Erkenntnissen betont, wie wichtig der persönliche Eindruck, den das zur Entscheidung berufene Mitglied der Berufungsbehörde im Rahmen der Berufungsverhandlung von dem Berufungswerber gewinnt, ist (siehe z.B. VwGH vom 24.06.1999, 98/20/0435, VwGH vom 20.05.1999, 98/20/0505, uvam.).
Vorausgeschickt wird, dass im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers als zentrales Entscheidungskriterium herangezogen werden muss (so schon VwGH 16.01.1987, 87/01/0230, VwGH 15.03.1989, 88/01/0339, UBAS 12.05.1998, 203.037 0/IV/29/98 uvam.)
Obwohl der Beschwerdeführer keine diesbezüglichen eindeutigen Personaldokumente vorlegen konnte, ist auch schon die belangte Behörde davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer afghanischer Staatsangehöriger ist und der Volksgruppe der Hazara zugehört und im Iran geboren wurde. Der Beschwerdeführer hat in der Erstvernahme und in der Beschwerdeverhandlung angegeben, dass er am XXXX geboren wurde, dieses Datum entspricht dem XXXX im gregorianischem Kalender.
Durch die Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers zieht sich ein roter Faden. Der Beschwerdeführer hat bereits bei der Einvernahme vor der Sicherheitsbehörde angegeben, dass er sich vom Islam abgewandt hat und Atheist geworden war. Vor dem Bundesverwaltungsgericht hat er dann erzählt, dass eine Dame in Griechenland, eine Atheistin im Essen gebracht hat, obwohl sie keinem Glauben zugehörig war. Dieses Erlebnis hat nachvollziehbar und geradezu plastisch seine Auseinandersetzung und Abwendung vom Islam bewirkt. Er war aber auch schon im Iran mit dem Zwang zur Religionsausübung nicht einverstanden.
Der Beschwerdeführer wirkte insbesondere auch hinsichtlich seiner persönlichen Erlebnisse sehr überzeugend. Der Beschwerdeführer konnte überzeugend darlegen, dass er mittlerweile Atheist ist und sich von jeder Religion fernhält. Er lebt mit einer Österreicherin, XXXX , in einer Lebensgemeinschaft, die auch überzeugte Atheistin ist, wie sie vor dem Bundesverwaltungsgericht darlegte. Der Beschwerdeführer konnte auch glaubhaft ausführen, dass er einen „sehr westlichen“ zu einem österreichischen Erwachsenen nicht unterschiedlichen Lebensstil pflegt, beispielsweise Schweinefleisch isst und auch gerne Alkohol trinkt. Er konnte dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft vermitteln, dass er seine in Österreich gewonnene religiöse Freiheit schätzt und lebt. Er hat seine Familie von der Abwendung vom Islam informiert und sein Bruder hat sich seiner Überzeugung angeschlossen. Er spricht auch mit anderen Asylwerbern offen über seine religiösen Ansichten und seiner Bekennung zum Atheismus.
Die gute Integration des Beschwerdeführers ist den vorgelegten Bestätigungen zu entnehmen. Die Unbescholtenheit ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.
Was den persönlichen Eindruck betrifft, so fallen zunächst einmal die guten Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers auf und vor allem, dass die atheistische Lebenseinstellung offenbar ein Teil seiner Identität geworden ist.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Aspekt des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).
Die vom Asylwerber vorgebrachten Eingriffe in seine vom Staat zu schützende Sphäre müssen in einem erkennbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise aus seinem Heimatland liegen. Die fluchtauslösende Verfolgungsgefahr bzw. Verfolgung muss daher aktuell sein (VwGH 26.06.1996, Zl. 96/20/0414). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass als Fluchtgründe unter dem Gesichtspunkt der Schwere des Eingriffes nur solche Maßnahmen in Betracht kommen, die einen weiteren Verbleib im Heimatland aus objektiver Sicht unerträglich erscheinen lassen (VwGH 16.09.1992, Zl. 92/01/0544, VwGH 07.10.2003, Zl. 92/01/1015, 93/01/0929, u.a.).
Eine Abweisung eines Antrags auf Asyl ist nicht als rechtswidrig zu erkennen, wenn sich die vom Asylwerber konkret geschilderten, seine betreffenden Fluchtgründe nicht auf eine Bedrohung in seinem Herkunftsstaat beziehen, sodass insofern keine Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat behauptet wurde (VwGH 02.03.20016, 2004/20/020).
Wie in der obigen Beweiswürdigung ausgeführt, konnte der Beschwerdeführer nicht nur glaubwürdig jene Gründe darlegen, die zu seinem Abfall vom Islam geführt haben, sondern auch die gegenwärtige Lebenseinstellung als Atheist.
Der VwGH hat im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt einer Verfolgung aus „Gründen der Religion“ zusammengefasst bereits ausgesprochen, dass die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Menschenrechtspakte das Recht auf Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit verkünden. Dies beinhaltet die Freiheit des Menschen seine Religion zu wechseln und die Freiheit, ihr öffentlich oder privat Ausdruck zu verleihen. Nach Kälin betrifft religiöse Verfolgung Maßnahmen, welche eine Organisation gegen ihre Gegner bei Konflikten über die richtige Anschauung in Fragen des Verhältnisses des Menschen zu (einem) Gott ergreift. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 04.03.1996 betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs Flüchtling in Art. 1 der GFK ist der Begriff der „Religion“ in einem weiten Sinn aufzufassen und umfasst theistische, nichttheistische oder atheistische Glaubensüberzeugungen. Eine Verfolgung aus religiösen Gründen kann danach auch dann vorliegen, wenn maßgebliche Eingriffe eine Person betreffen, die keinerlei religiöse Überzeugung hat, sich keiner bestimmten Religion anschließt oder sich weigert, sich den mit einer Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen. In diesem Sinn gilt auch nach der Rechtsprechung in der Schweiz als religiöse Verfolgung das Vorgehen des Staates gegen Atheisten, Ungläubige etc., um sie für ihre Ungläubigkeit zu bestrafen oder zu einem bestimmten Glauben zu zwingen (vgl. VwGH 21.09.2000, 98/20/0557 mwN).
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 05.09.2012, C-71/11 und C-99/11, BRD gg Y Z, ua ausgeführt:
„62 Um konkret festzustellen, welche Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gelten können, ist es nicht angebracht, zwischen Handlungen, die in einen ‚Kernbereich‘ (‚forum internum‘) des Grundrechts auf Religionsfreiheit eingreifen sollen, der nicht die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit (‚forum externum‘) erfassen soll, und solchen, die diesen ‚Kernbereich‘ nicht berühren sollen, zu unterscheiden.
63 Diese Unterscheidung ist nicht vereinbar mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie, die alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht. Zu den Handlungen, die eine 'schwerwiegende Verletzung' im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben.
[...]
65 Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.
[...]
67 Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u. a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
[...]
69 Da der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definierte Religionsbegriff auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, umfasst, kann das Verbot einer solchen Teilnahme eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie und somit eine Verfolgung darstellen, wenn sie in dem betreffenden Herkunftsland für den Antragsteller u.a. die tatsächliche Gefahr heraufbeschwört, durch einen der in Art. 6 der Richtlinie genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
[...]
79 Sobald feststeht, dass sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird, müsste ihm daher nach Art. 13 der Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Dass er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant.“
Der Konventionsgrund der Religion umfasst daher auch die Verfolgung wegen einer nichtreligiösen Weltanschauung, wegen atheistischer oder agnostischer Überzeugungen, wie sie im Falle des Beschwerdeführers vorliegen.
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Für die Qualifikation der Verfolgung hinsichtlich der in der GFK genannten Verfolgungsmotive kommt im Fall des Beschwerdeführers einerseits seiner Ablehnung der in Afghanistan vorherrschenden sozio-kulturellen und religiös geprägten Wertvorstellungen entscheidungswesentliche Bedeutung zu, da nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Verfolgung aus religiösen Gründen auch dann vorliegen kann, wenn die Eingriffe deshalb erfolgen, weil die verfolgte Person sich weigert, sich den mit der Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen (vgl. VwGH 05.10.2020, 2020/19/0308 bis 0309/7; zB VwGH 25.01.2011, 98/20/0555; siehe ferner Putzer, Asylrecht² 45 mwN).
Es kann einem Flüchtling nicht zugesonnen werden, seine atheistische oder agnostische Weltanschauung nur auf sein Innerstes zu beschränken, sondern muss auch eine öffentliche Ausübung möglich sein (siehe auch AsylGH 14.05.2012, E1 406.206-2/2009). Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling ist dem Antragsteller weiter nicht zuzumuten, auf religiöse bzw. areligiöse Betätigungen zu verzichten (AsylGH 19.04.2013, B9 431.634-1/2013).
Dazu ist im Falle des Beschwerdeführers festzuhalten, dass er formell in Österreich aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten ist. Er pflegt ein äußerst distanziertes respektvolles Verhältnis zu allen Religionen, glaubt jedoch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen nicht mehr an die Existenz eines Gottes. Er tritt auch für eine Gleichberechtigung der Frau ein. Er pflegt des Weiteren einen in Afghanistan als „verwestlicht“ wahrgenommenen Lebensstil, er lebt in einer Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin, einer Ungläubigen nach dem islamischen Recht, die ebenfalls Atheistin ist, handelt entgegen den Geboten des Islams und genießt seine religiöse Freiheit, in Österreich indem er auch Schweinefleisch, insbesondere XXXX gerne isst und Alkohol trinkt.
Die Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers ist daher im vorliegenden Fall auf mehrfache Weise gegeben (wie sich vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen zeigt), einerseits durch die Taliban, die die Herrschaft in Afghanistan an sich gerissen haben und andererseits auch durch die einfache Bevölkerung, die von traditionell islamischen Vorstellungen geprägt ist; wobei insgesamt vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen davon ausgegangen werden kann, dass der afghanische Staat nicht willens und in der Lage ist den Beschwerdeführer entsprechend zu schützen. So ist auch eine Verfolgung durch islamistische Gruppierungen oder fundamentalistische Einzelpersonen, nicht unwahrscheinlich (vgl. auch BVwG 15.01.2018, W208 2177805 1/8E).
Das bedeutet, dass für ihn in allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in seine physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Dieses Risiko ist durch die landesweite Machtergreifung der Taliban noch erheblich größer geworden. Den Feststellungen zufolge ist dieses Risiko als spezifische Gefährdung, bei nonkonformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche oder religiöse Normen, indem er solche ablehnt) einer "Bestrafung" ausgesetzt zu sein. Aus diesem Aspekt resultierend ist der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, in der er in der Ausübung grundlegender Menschenrechte beeinträchtigt ist (siehe auch BVwG vom 03.04.2019, W119 21552992-1/32E).
Diese Lebensführung ist zu einem solch wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden ist, dass von ihm nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und religiösen Normen zu entgehen, wie er auch selbst ausgeführt hat.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan durch seine religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von hoher Intensität, die bis zur Tötung reichen können, in seine zu schützende persönliche Sphäre ausgesetzt wäre.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt vorliegend nicht in Betracht, da der Beschwerdeführer im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan im Wesentlichen der gleichen – oben beschriebenen – Situation ausgesetzt wäre (BVwG a.a.O.).
Es sind auch im Zuge des Verfahrens keine Hinweise hervorgekommen, wonach einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlusstatbestände eingetreten sein könnte.
Der Beschwerdeführer konnte somit glaubhaft machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder aufgrund eines Antrages auf internationalem Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Obwohl nicht unmittelbar verfahrensrelevant ist auch noch auf die sehr gute Integration, sowie das Privatleben des Beschwerdeführers hinzuweisen.
Da der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 01.06.2015 und damit vor dem 15.11.2015 gestellt wurde, finden die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 daher gemäß § 75 Abs. 24 leg.cit. im vorliegenden Fall NICHT Anwendung. Die Aufenthaltsberechtigung gilt eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Die gegenständliche Entscheidung stützt sich vielmehr ausdrücklich auf die aktuelle Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (und auch des EGMR).
Im Übrigen liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der im vorliegenden Fall zu lösenden Rechtsfragen vor.
Schlagworte
Apostasie asylrechtlich relevante Verfolgung gesamtes Staatsgebiet Religion Schutzunfähigkeit des Staates Schutzunwilligkeit des Staates wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W159.2202522.1.00Im RIS seit
20.01.2022Zuletzt aktualisiert am
20.01.2022