TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/23 W251 2165200-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.11.2021
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Entscheidungsdatum

23.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W251 2165200-2/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.11.2018, Zl. 1071897207 - 180891333, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und III. bis VI. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für weitere zwei Jahre erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 02.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge Bundesamt) vom 03.07.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde damit begründet, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr aufgrund der Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wäre. Er verfüge in anderen Landesteilen Afghanistans über kein tragfähiges soziales oder familiäres Unterstützungsnetzwerk, habe weder eine Schul- noch Berufsausbildung genossen und habe bisher nur als Hirte gearbeitet bzw. habe er Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft ausgeübt. Der Beschwerdeführer würde dementsprechend mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, sich in einer anderen von der Sicherheitslage her objektiv zumutbaren Provinz eine Existenz aufzubauen, sodass nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liege daher nicht vor.

3. Der Beschwerdeführer erhob hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Asylstatus gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, welche von diesem mit Erkenntnis vom 09.11.2017 als unbegründet abgewiesen wurde.

4. Am 28.05.2018 brachte der Beschwerdeführer fristgerecht einen Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ein.

5. Er wurde dazu vom Bundesamt am 19.07.2018 niederschriftlich einvernommen.

6. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 15.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt (Spruchpunkt I.). Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen (Spruchpunkt II.). Es wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III.-V). Es wurde eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass sich die subjektive Situation des Beschwerdeführers im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt dahingehend geändert habe, dass dem Beschwerdeführer nunmehr eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe. So könne der Beschwerdeführer aufgrund des funktionierenden Bankenwesens in Afghanistan mit finanzieller Unterstützung durch die Vielzahl seiner in Afghanistan aufhältigen Familienmitglieder und Verwandten rechen und nun auch auf eine Vielzahl an internationalen Einrichtungen, die Rückkehrer unterstützen, zurückgreifen. Weiters könne dem Beschwerdeführer auch eine finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für seinen Neubeginn im Heimatland gewährt werden. Er würde dabei vom ersten Informations-gespräch bis zur tatsächlichen Rückreise in einer Einrichtung beraten, begleitet und umfassend unterstützt werden. Gerade darin liege der Unterschied zum Entscheidungs-zeitpunkt als ihm subsidiärer Schutz gewährt wurde, zumal er nunmehr auf eine Vielzahl an Unterstützungsmöglichkeiten zurückgreifen könne. Überdies habe der Beschwerdeführer in Österreich Erfahrungen gesammelt (Arbeitserfahrung bei der Gemeinde, aktive Teilnahme am Projekt POLE Position), die er in Afghanistan gezielt einsetzen könne. Es sei dem Beschwerdeführer daher zuzumuten, dass er selbst unter durchaus schweren Bedingungen am Arbeitsmarkt durch das Verrichten von Gelegenheitsarbeiten seine Existenz sichern könne. Während zum früheren Entscheidungszeitpunkt die Notwendigkeit von bestehenden familiären Netzwerken und das Fehlen solcher zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt habe, verlange die derzeitige allgemeine Lage und insbesondere jene für Rückkehrer die Existenz solcher nicht, zumal diese auf eine Reihe von nationalen und internationalen Unterstützungsorganisationen zurückgreifen könnten.

7. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass trotz der marginalen Unterstützung der Rückkehrhilfe weiterhin erhebliche Gefahr für den Beschwerdeführer in Afghanistan bestehe. Die Angehörigen des Beschwerdeführers seien zudem nicht in der Lage, diesen finanziell zu unterstützen. Es sei nicht ersichtlich, wie das Bundesamt zu dem Schluss komme, dass nunmehr kein soziales bzw. familiäres Netzwerk mehr notwendig sei. Der Beschwerdeführer könne nach wie vor auf keine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtere sich weiterhin. Zudem sei der Beschwerdeführer in Afghanistan als verwestlicht anzusehen, weil er in Österreich Werte der Demokratie gelernt und anerkannt habe, die in Afghanistan nicht in diesem Ausmaß gegeben seien. Auch wenn der Beschwerdeführer die Gepflogenheiten Afghanistans nicht vollständig verlernt habe, wolle er diesen jedoch nicht mehr folgen und stehe ihnen teilweise sogar ablehnend gegenüber.

8. Mit Stellungnahme vom 25.11.2019 brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Sicherheitslage Afghanistans eine tiefgreifende Verschlechterung erfahren habe, was durch aktuelle Berichte belegt werde. Kabul komme nicht mehr als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage. Der Beschwerdeführer unterliege dem Risiko der Blutrache, weshalb er aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in Afghanistan verfolgt werde. Beim Beschwerdeführer bestehe im Falle einer Rückkehr intensiv und realistisch die Gefahr, dass er in eine ausweglose Lage geraten würde. Er sei aufgrund seiner westlichen Lebensausrichtung, die sich in seiner tiefen Integration in Österreich und seiner Annahme der österreichischen Lebensart zeige, der zusätzlichen Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt. Es sei ihm daher die Flüchtlingseigenschaft bzw. allenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren. Aufgrund der umfassenden Integration des Beschwerdeführers in Österreich sei jedenfalls die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.12.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

10. Mit Stellungnahme vom 11.12.2019 brachte das Bundesamt vor, dass schon zum Zeitpunkt der Gewährung des subsidiären Schutzes eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorgelegen sei, die Prüfung einer solchen jedoch nicht in geeigneter Weise in die Entscheidungsfindung miteinbezogen worden sei. So sei entgegen der ständigen Judikatur eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative verneint worden, weil kein tragfähiges Netzwerk existiere, obwohl der Beschwerdeführer sehr wohl Familie in Afghanistan gehabt habe. Auch die in der Verhandlung behauptete Änderung seiner familiären Situation ändere nichts an der Möglichkeit im Falle der Rückkehr nach Afghanistan eine taugliche Fluchtalternative vorfinden zu können. Man sei zum Zeitpunkt der Gewährung subsidiären Schutzes von einem anderen Kenntnisstand ausgegangen, zumal den Beschwerdeführer betreffende Tatsachen, die bereits im Zeitpunkt der Zuerkennung vorgelegen seien, fälschlicherweise nicht berücksichtigt worden seien. Es sei daher zu einer „fehlerhaften“ Schutzgewährung gekommen, die den Bestimmungen der Statusrichtlinie entsprechend nun mit der Aberkennung zu korrigieren sei, zumal § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG das Ziel verfolge, sicherzustellen, dass nur jenen Fremden, die die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfüllen, diesen auch zukommen. Ginge man davon aus, dass zum Zeitpunkt der Gewährung subsidiären Schutzes tatsächlich keine innerstaatliche Fluchtalternative vorgelegen habe, so sei nunmehr festzustellen, dass die Voraussetzungen für subsidiären Schutz iSd § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG nicht mehr vorliegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben (Verhandlungsprotokoll vom 04.12.2019 = OZ 6, S. 6 f). Er spricht Dari als Muttersprache und zudem Paschtu und etwas Englisch (Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018 = NS, S. 2).

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Baghlan, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern in einem Eigentumshaus aufgewachsen (OZ 6, S. 7 f). Die Mutter des Beschwerdeführers verstarb als der Beschwerdeführer ca. sieben Jahre alt war (OZ 6, S. 8). Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan keine Schule besucht (OZ 6, S. 7). Der Vater des Beschwerdeführers bewirtschaftete seine eigenen Grundstücke landwirtschaftlich und bestritt damit den Lebensunterhalt seiner Familie. Der Beschwerdeführer hat seit seinem siebten Lebensjahr in der Landwirtschaft seines Vaters mitgearbeitet (OZ 6, S. 7, S. 11).

Der Beschwerdeführer ist weder verheiratet noch verlobt, er hat keine Kinder (OZ 6, S. 7).

Der Vater und beide Schwestern des Beschwerdeführers leben nach wie vor in Afghanistan im Heimatdorf des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen Schwestern (NS S. 3 f; OZ 6, S. 10).

Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, er ist gesund. Er nimmt weder Medikamente noch benötigt er eine Therapie (OZ 6, S. 16).

1.2. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und hält sich seit zumindest 02.06.2015 – abgesehen von einem Besuch eines Freundes in Belgien – durchgehend in Österreich auf (OZ 6, S. 8). Er ist in Österreich aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat die ÖSD Deutschprüfung auf dem Niveau A2 am 19.02.2018 bestanden (Anlage 7 der Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018), jene auf dem Niveau B1 am 23.10.2018 und 18.12.2018 jeweils nicht bestanden (Beilage ./C und ./D). Er verfügt über durchschnittliche Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2.

Der Beschwerdeführer hat 2017/18 am Projekt POLE Position – einer Vorbereitung auf das Schul-, Ausbildungs- oder Beschäftigungssystem – teilgenommen (Anlage 5 der Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018). Er hat am 03.11.2016 an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen (Anlage 6 der Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018).

Der Beschwerdeführer ist seit 27.08.2019 als Handelsarbeiter angestellt und verdient brutto EUR 1.612,00 pro Monat (Beilage ./A). Von 27.01.2019 bis 30.08.2019 war der Beschwerdeführer als Küchenhilfe angestellt und hat monatlich brutto EUR 1.540,00 verdient (Beilage ./E). Davor hat er gemeinnützige Arbeit für die Gemeinde erbracht (OZ 6, S. 13 f; Anlagen 4 und 5 der Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018). Der Beschwerdeführer geht nunmehr keiner ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Arbeit mehr nach (OZ 6, S. 14).

Der Beschwerdeführer ist Mitglied eines örtlichen Fußballvereins und dort seit 02.10.2017 spielberechtigt (Anlage 1 und 2 der Niederschrift des Bundesamtes vom 19.07.2018; OZ 6, S. 14). Er hat freundschaftliche Kontakte zu seinen Mitspielern geknüpft, trifft sich mit diesen jedoch außerhalb der Trainings und Fußballspiele sowie Veranstaltungen des Fußballvereins nicht (OZ 6, S. 16).

Der Beschwerdeführer hat Bekanntschaften zu afghanischen Staatsangehörigen aus dem Deutschkurs geknüpft, mit denen er sich ca. einmal im Monat trifft (OZ 6, S. 16). Er konnte in Österreich freundschaftliche Kontakte zu zwei afghanischen Staatsangehörigen knüpfen, mit denen er nunmehr in einem Haushalt wohnt (OZ 6, S. 15). Der Beschwerdeführer hat auch eine vertrauensvolle bzw. freundschaftliche Beziehung zu seinem früheren Deutschlehrer begründet, der den Beschwerdeführer in Österreich nunmehr (unter anderem bei Behördengängen) in Österreich unterstützt. Der Beschwerdeführer bekommt derzeit keine finanzielle Unterstützung von seinem früheren Deutschlehrer (OZ 6, S. 20; AS 149). Es besteht keine enge soziale Beziehung zu seinen freundschaftlichen Kontakten noch ist er von diesen (finanziell) abhängig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten (OZ 6, S. 15).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I.).

1.3. Zum bisherigen Verfahrensablauf:

Der Beschwerdeführer stellte am 02.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 03.07.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde wie folgt begründet:

„In Ihrem Fall ging die Behörde von einer realen Gefahr einer solchen Bedrohung aus:

Den aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ist nämlich zu entnehmen, dass Sie im Fall einer Rückkehr als Zivilperson aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Ihrer Heimatprovinz in Afghanistan einer ernsthaften Bedrohung Ihres Lebens oder Ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt wären. Zudem verfügen Sie in anderen Landesteilen von Afghanistan über kein tragfähiges soziales oder familiäres Unterstützungsnetz, haben keine Schulausbildung genossen sowie keine Berufsausbildung absolviert und bis dato nur als Hirte gearbeitet bzw. Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft ausgeübt. Sie hätten dementsprechend mit äußerst großen Schwierigkeiten zu kämpfen, sich in einer anderen, von der Sicherheitslage her objektiv zumutbaren Provinz Ihres Heimatlandes eine Existenz aufzubauen, sodass nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass Sie im Fall der Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liegt daher nicht vor. Weiters geht aus Ihren Angaben hervor, dass Sie keinen Ausschlussgrund nach §9 Abs.2 AsylG gesetzt haben.“ (AS 229)

Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wegen der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 09.11.2017 als unbegründet abgewiesen.

Am 28.05.2018 brachte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ein.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 15.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt (Spruchpunkt I.). Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen (Spruchpunkt II.). Es wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III.-V). Es wurde eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Die nunmehr erfolgte Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten durch das Bundesamt wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass für den Beschwerdeführer als jungen, arbeitsfähigen und gesunden Mann nunmehr die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative auch ohne familiäres Netzwerk zumutbar sei, da sich seine subjektive Lage geändert habe. Er könne nunmehr finanzielle Unterstützung seiner Familie und von internationalen Einrichtungen in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht die gegenständliche Beschwerde.

1.5. Zur aktuellen Situation in Afghanistan:

Den Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat wurden folgende Länderinformationen zu Grunde gelegt:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 11.06.2021

-        Kurzinformation der Staatendokumentation, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan vom 02.08.2021

-        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Lage in Afghanistan vom 17.08.2021

-        Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan vom 20.08.2021

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 16.09.2021

1.5.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Es gibt Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul sind erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen.

Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen. Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan insgesamt unterrepräsentiert

Häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen ist auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist, wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert.

Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben.

Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt. COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei. Es kam zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise von 17%. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird.

1.5.2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein Der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt. Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab, sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung.

Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden. Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt.

1.5.3. Sicherheitslage

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Die Sicherheitslage veränderte sich seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021. Innerhalb von zehn Tagen eroberten die Taliban 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif.

Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt.

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security, sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein.

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen.

Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen.

Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen. Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren. Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt. Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag. Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden.

Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Es gibt jedoch Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten sind auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird.

Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen.

1.5.4. Erreichbarkeit:

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Die „Ring Road“ verbindet das Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern. Es handelt sich um eine Straße, die das Landesinnere ringförmig umgibt und Teil des 3.360 Kilometer langen Hauptverkehrsstraßenprojekts ist, das 16 Provinzen und Großstädte wie Kabul, Mazar, Herat, Ghazni und Jalalabad miteinander verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk wurden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau, aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege.

Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit.

Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden. Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan.

Die vier internationalen Flughäfen liegen in Kabul, Herat, Mazar-e Sharif und Kandahar. Es gibt zudem einige Inlandsflughäfen in Afghanistan.

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Überlandverbindungen sind riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Ausreise. Die Taliban haben weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen.

1.5.5. Allgemeine Menschenrechtslage

Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021. Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet. Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt.

1.5.6. IDPs und Flüchtlinge

Im Jahr 2020 gab es 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen und bis 22.8.2021 wurden 558.123 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert. Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich jedoch nicht bestimmen, zumal viele in abgelegenen Regionen oder städtischen Slums Zuflucht suchen oder in Gebieten leben, die von aufständischen Gruppen kontrolliert werden und daher nicht erfasst werden können.

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Mit Stand Mai 2021 werden im laufenden Jahr etwa eine halbe Million Binnenvertriebene auf humanitäre Hilfe angewiesen sein.

IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen. Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging.

Die Auswirkungen einer schweren Dürre, einer einbrechenden Wirtschaft, der COVID-19-Pandemie und des sich verschärfenden Konflikts in den ersten acht Monaten des Jahres haben die Menschen bereits dazu veranlasst, ihre Heimat - und das Land - zu verlassen, und es wird erwartet, dass die Situation durch den Übergang zu einer Taliban-Regierung wahrscheinlich noch verschärft werden wird.

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen. Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen. Taliban haben weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen.

1.5.7. Grundversorgung und Wirtschaft

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig.

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%.

Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt.

Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen.

Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört

1.5.8. Armut und Lebensmittelunsicherheit

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden.

Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen.

1.5.9. Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten:

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden Die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen lagen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.

Die COVID-19-Pandemie hatte keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch konnten die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls waren höher. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.

1.5.10. Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht.

Die Arbeitslosenquote ist innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten. Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können.

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen.

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner.

1.5.11. Rückkehrer

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten. Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan.

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration. Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich, da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk. Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten. Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen.

Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw.

Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren.

„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa, was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden Ein Verdacht verwestlicht zu sein, sich der Spionage zu betätigen oder reich zu sein und die Gesellschaft auszunutzen, kann Probleme für Rückkehrer darstellen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann. Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen.

Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden.

1.6. Zur Situation in Afghanistan zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung im Jahr 2017:

Den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat wurden bei der Zuerkennung des subsidiären Schutzes an den Beschwerdeführer im Bescheid des Bundesamtes vom 03.07.2017 das Länderinformationsblatt vom 02.03.2017 samt Kurzinformation vom 22.06.2017 (LIB 22.06.2017) zu Grunde gelegt:

1.6.1. Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan war durch eine tief verwurzelte militante Opposition beeinträchtigt. (LIB 22.06.2017, Kapitel 2).

Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (LIB 22.06.2017, Kapitel 2).

Im zweiten Quartal 2017 war die Sicherheitslage in Afghanistan weiterhin volatil, insbesondere in den östlichen und südöstlichen Regionen, die zu den volatilsten zählen (LIB 22.06.2017, Kapitel 1).

1.6.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan blieb trotz eines gewaltigen Fortschritts innerhalb einer Dekade, eines der ärmsten Länder. Die Sicherheit und politische Ungewissheit, sowie die Reduzierung internationaler Truppen, gemeinsam mit einer schwachen Regierung und Institutionen, haben Wachstum und Beschäftigung gehemmt und seit kurzem zu einer erhöhten Migration geführt (LIB 22.06.2017, Kapitel 21).

Trotz eines guten Wirtschaftswachstums von 2007 bis 2011, stagnierte die Armutsrate bei 36%. Am häufigsten trat Armut in ländlichen Gebieten auf, wo die Existenzgrundlage von der Landwirtschaft abhängig war. Die Regierung hat die landwirtschaftliche Entwicklung zur Priorität erhoben. Dadurch sollen auch gering qualifizierte Afghaninnen und Afghanen bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz bekommen. Insbesondere sollen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Afghanistans wieder eine stärkere Rolle auf den Weltmärkten spielen. Gerade im ländlichen Raum blieben die Herausforderungen für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung angesichts mangelnder Infrastruktur, fehlender Erwerbsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft und geringem Ausbildungsstand der Bevölkerung (Analphabetenquote auf dem Land von rund 90%) aber groß. Sicher ist, dass die jährlich rund 400.000 neu auf den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen nicht vollständig vom landwirtschaftlichen Sektor absorbiert werden können (LIB 22.06.2017, Kapitel 21).

Wichtige Erfolge wurden im Bereich des Ausbaus der Infrastruktur erzielt. Durch den Bau von Straßen und Flughäfen konnte die infrastrukturelle Anbindung des Landes verbessert werden (LIB 22.06.2017, Kapitel 21).

1.6.3. Medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung litt trotz erkennbarer und erheblicher Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärztinnen und Ärzten, sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v.a. Hebammen). (LIB 22.06.2017, Kapitel 22).

Es gab keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter waren überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Die staatlich geförderten öffentlichen Krankenhäuser boten ihre Dienste zwar umsonst an, jedoch waren Medikamente häufig nicht verfügbar und somit mussten bei privaten Apotheken von den Patient/innen selbst bezahlt werden. Untersuchungen, Labortests sowie Routine Check-Ups waren in den Krankenhäusern umsonst. Da kein gesondertes Verfahren existierte, hatten alle Staatsbürger Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Für verschiedene Krankheiten und Infektionen war medizinische Versorgung nicht verfügbar. Chirurgische Eingriffe konnten nur in ausgewählten Orten geboten werden, welche zudem meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufwiesen. Diagnostische Ausstattungen wie Computer Tomographie war in Kabul verfügbar (LIB 22.06.2017, Kapitel 22).

Medikamente waren auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variierten je nach Marke und Qualität des Produktes. Obwohl freie Gesundheitsdienstleistungen in öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt wurden, konnten sich viele Haushalte gewisse Kosten für Medikamente oder den Transport zu Gesundheitsvorsorgeeinrichtungen nicht leisten bzw. war vielen Frauen nicht erlaubt alleine zu einer Gesundheitseinrichtung zu fahren (LIB 22.06.2017, Kapitel 22).

1.6.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan letben laut Schätzungen vom Juli 2016 mehr als 33.3 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existierten nicht. Schätzungen zufolge, waren 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existierten noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (LIB 22.06.2017, Kapitel 16).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagte: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 22.06.2017, Kapitel 16).

Der Gleichheitsgrundsatz war in der afghanischen Verfassung verankert. Fälle von Sippenhaft oder sozialer Diskriminierung waren jedoch nicht auszuschließen und kamen vor allem in Dorfgemeinschaften auf dem Land häufig vor. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB 22.06.2017, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara machte etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasste die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es konnten auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara waren die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen wurden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat lebten, waren Ismailiten. Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung war für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (LIB 22.06.2017, Kapitel 16.1).

Ihre Gesellschaft war traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara wurden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestanden in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara bestand größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden konnten (LIB 22.06.2017, Kapitel 16.1).

Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich verbessert; sie haben sich ökonomisch und politisch durch Bildung verbessert. Gesellschaftliche Spannungen bestanden fort und lebten lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (LIB 22.06.2017, Kapitel 16.1).

1.6.5. Religionen

Etwa 99.7% der Bevölkerung waren Muslime, davon waren 84.7-89.7% Sunniten. Schätzungen zufolge, waren etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machten zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus (LIB 22.06.2017, Kapitel 15).

Militante Gruppen haben sich unter anderem als Teil eines größeren zivilen Konfliktes gegen Moschen und Gelehrte gerichtet. Konservative soziale Einstellungen, Intoleranz und das Unvermögen oder die Widerwilligkeit von Polizeibeamten individuelle Freiheiten zu verteidigen bedeuten, dass jene, die religiöse und soziale Normen brachen, anfällig für Misshandlung waren (LIB 22.06.2017, Kapitel 15).

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wurde auf 10-19% geschätzt Zu der schiitischen Bevölkerung zählten die Ismailiten und die ethnischen Hazara. Die meisten Hazara Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert war allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gab einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten (LIB 22.06.2017, Kapitel 15.1).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren in Afghanistan selten. Afghanische Schiiten und Hazara waren dazu geneigt weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein, als ihre religiösen Brüder im Iran. Afghanischen Schiiten ist es möglich ihre Feste öffentlich zu feiern - manche Paschtunen sind über die öffentlichen Feierlichkeiten verbittert, was gelegentlich in Auseinandersetzungen resultiert. (LIB 22.06.2017, Kapitel 15.1).

Die Situation der afghanisch schiitisch-muslimischen Gemeinde hat sich seit dem Ende des Taliban-Regimes wesentlich gebessert. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung gegen die schiitische Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch gab es Berichte zu lokalen Vorfällen (LIB 22.06.2017, Kapitel 15.1).

Ethnische Hazara waren gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Hazara waren entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung, keiner gezielten Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt (LIB 22.06.2017, Kapitel 15.1).

Einige Schiiten bekleideten höhere Ämter; sowie andere Regierungsposten. Schiiten verlautbarten, dass die Verteilung von Posten in der Regierung die Demographie des Landes nicht adäquat berücksichtigte. Das Gesetz schränkte sie bei der Beteiligung am öffentlichen Leben nicht ein - dennoch verlautbarten Schiiten - dass die Regierung die Sicherheit in den Gebieten, in denen die Schiiten die Mehrheit stellten, vernachlässigte. Hazara lebten hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen, während die Ismailiten hauptsächlich in Kabul, den zentralen und nördlichen Provinzen lebten (LIB 22.06.2017, Kapitel 15.1).

1.6.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichten aber nach wie vor nicht alle Landesteile und waren außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (LIB 22.06.2017, Kapitel 10).

1.6.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantierte interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr, die Regierung schränke die Bewegung der Bürger/innen gelegentlich aus Sicherheitsgründen ein.

In manchen Teilen des Landes war fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In manchen Teilen machten Gewalt von Aufständischen, Landminen und Improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständisc

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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