Entscheidungsdatum
23.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W174 2191419-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Viktoria MUGLI-MASCHEK, als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , auch XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.02.2018, Zl.15-1091471009/1515744747, nach einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg.cit wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 18.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, in Herat geboren, ledig und sunnitischen Glaubens zu sein sowie der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören. Die Schule habe sie von 2002 bis 2009 besucht, und zwar sowohl in Herat als auch in Kashan im Iran, wo sie auch vor ihrer Reise nach Europa gelebt habe. Zuletzt sei sie Hausfrau gewesen, früher habe sie sich zu Hause als Schneiderin etwas dazuverdient.
Zu ihrem Fluchtgrund erklärte die Beschwerdeführerin, ihre Familie sei das erste Mal von Afghanistan in den Iran geflüchtet, als sie selbst etwa sechs Monate alt gewesen sei, und später nochmals im Jahr 2003. Grund sei jedes Mal gewesen, dass es in Afghanistan keine Sicherheit gegeben habe. Ihre Eltern hätten ihr erzählt, dass damals die Taliban an der Macht gewesen seien und es deshalb eine sehr kritische Sicherheitslage gegeben habe. Vor allem Frauen hätten damals gar keine Rechte gehabt, hätten immer zu Hause bleiben müssen und seien von den Taliban hart bestraft und ausgepeitscht worden. Im Iran sei die Beschwerdeführerin wegen ihres illegalen Aufenthaltes nicht geblieben. Viele von ihren Bekannten und Verwandten wären in den letzten Monaten nach Afghanistan abgeschoben worden, was ihre Familie auch befürchtet habe. In Afghanistan hätte sie niemanden und deshalb sei es für sie als Frau absolut undenkbar, dort zu leben. Auch im Iran habe sie keine Zukunft, ihr Vater sei im Jahr 2013 ums Leben gekommen, weshalb es viele Probleme gegeben und die Beschwerdeführerin mit ihrem Bruder beschlossen habe, nach Europa zu reisen.
3. Am 6.2.2018 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen, erklärte zunächst, vollkommen gesund zu sein und legte diverse Integrationsdokumente vor: eine Bestätigung gemeinnütziger Tätigkeit in einer Gemeinde, eine Teilnahmebestätigung „So tickt Österreich“, eine Teilnahmebestätigung Kompetenzanalyse, ein Teilprüfungszeugnis Pflichtschulabschluss Mathematik, eine Bestätigung Übergangsstufe eines Gymnasiums, eine Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs sowie eine Teilnahmebestätigung in einem Erste-Hilfe Kurs.
Ansonsten gebe es keine Dokumente, die Beschwerdeführerin sei illegal gereist.
Im Wesentlichen wie bisher brachte die Beschwerdeführerin vor, in der Stadt Herat geboren zu sein, der Volksgruppe der Tadschiken und dem muslimisch-sunnitischen Glauben anzugehören. Zuletzt habe sie in Kashan im Iran gelebt, ihr Vater sei an einem Herzinfarkt verstorben, ihre Mutter sowie die beiden Schwestern lebten nach wie vor im Iran, ein Bruder sei Asylwerber in Salzburg. Sie selbst habe vom ca. 7.bis ca. 12. Lebensjahr die Grundschule und vom ca. 14. Lebensjahr bis zum 17. Lebensjahr die Mittelschule besucht, es seien afghanische Schulen im Iran gewesen. Ein Jahr lang habe sie zudem eine Schneiderausbildung erhalten. Vom ca. 15. bis zum 17. Lebensjahr habe sie selbstständig als Schneiderin gearbeitet, zum Beispiel für Schuluniformen. Vom ca. 15. bis ca. 18. Lebensjahr sei sie Mitarbeiterin in einer Teppichfirma gewesen.
Die Beschwerdeführerin sei zusammen mit ihren Geschwistern bei den Eltern aufgewachsen, als sie sechs Monate gewesen sei, hätten die Eltern Herat verlassen, die Familie sei nach Mashad gezogen und habe dort gelebt, bis die Beschwerdeführerin ca. sechs Jahre alt gewesen wäre. Anschließend seien sie nach Afghanistan zurückgekehrt, später wieder in den Iran, nach Kashan, gereist, wo die Beschwerdeführerin bis zu ihrer Ausreise geblieben sei. Solange ihr Vater gelebt habe, habe er für die Familie gesorgt und es sei ihnen gut gegangen. Nach dessen Tod hätten sie ein mittelmäßiges Leben gehabt, alle hätten gearbeitet und so für ihren Lebensunterhalt selbst gesorgt.
Die Beschwerdeführerin habe überhaupt niemanden mehr in Afghanistan, sie hätte überhaupt keine Tanten gehabt, väterlicherseits auch keinen Onkel. Es gebe nur einen Onkel mütterlicherseits im Iran. Der Vater habe eine Schwester gehabt, die vor der Geburt der Beschwerdeführerin verstorben sei.
Die Beschwerdeführerin sei mit dem Enkel der Tante väterlicherseits verlobt. Als sie den Iran verlassen habe, sei er dort gewesen, mittlerweile habe sie erfahren, dass er nach Afghanistan zurückgekehrt wäre, dort lebe und arbeite.
Zwei- bis dreimal wöchentlich kommuniziere die Beschwerdeführer mit ihrer im Iran befindlichen Familie.
Zu ihrem Fluchtgrund gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, als sie 14 Jahre alt gewesen sei, wäre sie im Iran zwangsweise von ihrem Vater mit dem Enkel seiner Schwester verlobt worden. Weder sie noch ihre Mutter wären damit einverstanden gewesen. Zwei Jahre später sei dann der Vater gestorben und die Beschwerdeführerin habe daraufhin ihrem Verlobten mitgeteilt, dass sie ihn nicht liebe und dies nur wegen ihres Vaters nicht gesagt hätte. Sie habe gewollt, dass er sie in Ruhe lasse. Über die Verlobung habe es eine mündliche Bestätigung des Mullahs gegeben, weshalb der Verlobte die Verlobung nicht habe annullieren wollen. Er habe die Beschwerdeführerin nicht in Ruhe gelassen, sie mit dem Tode bedroht, falls sie ihn verlasse, und sie habe kein Sicherheitsgefühl mehr gehabt. Er hätte zu ihr gesagt, wenn sie nicht mit ihm zusammenlebe, bringe er sie um. Da ihr Bruder auch den Iran habe verlassen wollen, habe ihre Mutter ihn aufgefordert, die Beschwerdeführerin mitzunehmen. Der Verlobte befinde sich jetzt in Afghanistan, weswegen die Beschwerdeführerin nicht zurückgehen könne.
Kennengelernt habe sie ihn als er sie aufgesucht habe, nachdem die Verlobung zwischen ihrem Vater und dem Verlobten und seiner Familie abgemacht worden wäre. Er habe ihr einen Ring mitgenommen, sie hätten sich dann bei ihr zu Hause getroffen, sie könne aber nicht sagen, wann dies gewesen sei. Gelebt habe der Verlobte in Qhom und sie hätten sich manchmal wöchentlich oder manchmal nur einmal monatlich gesehen. Nach dem Tod des Vaters hätte sie ihn aufgefordert, sie in Ruhe zu lassen, woraufhin er sie nicht mehr so oft besucht habe. Aufgefordert, ihn zu beschreiben, erklärte die Beschwerdeführerin, er sei mittelgroß, habe dunkle Haut und einen Bart gehabt, sei weder hässlich noch schön, sondern normal gewesen. Er habe nicht gewollt, dass Frauen raus oder in die Schule gingen oder arbeiteten. Mehr könne sie über ihn nicht sagen.
Zum Zeitpunkt der Verlobung sei sie 14 Jahre alt und es sei Sommer gewesen. Zuerst habe ihr Vater mit der Mutter gesprochen, die Beschwerdeführerin habe zugehört, dann ihre Mutter gefragt, welche es dann erzählt habe. Daraufhin wären die Mutter ihres Verlobten und zwei seiner Schwestern zu ihnen gekommen und hätten mit ihrer Mutter gesprochen. Dies sei im Sommer 2010 gewesen, genauer wisse sie es nicht. Der Verlobte sei ca. 15 Jahre älter als sie.
Bei der Verlobung seien der Mullah, der Vater, Freunde des Vaters und die Familie des Verlobten anwesend gewesen.
Nach dem Tod ihres Vaters und nach Ablauf der 40-tägigen Trauerzeit habe die Beschwerdeführerin ihrem Verlobten das erste Mal gesagt, dass sie mit der Verlobung nicht einverstanden sei. Sie sei nicht freundlich zu ihm gewesen und habe ihn nicht sehen wollen, er hätte bemerkt, dass sie ihm aus dem Weg gehe, mit ihrer Mutter gesprochen, damit sie endlich heirateten, woraufhin die Beschwerdeführerin ihm mitgeteilt habe, dass sie ihn nicht heiraten werde. Ihr Verlobter habe gemeint, dass ihr Vater sie an ihn verkauft hätte und behauptet, er wäre der Besitzer der Beschwerdeführerin, sie könne sich nicht von ihm trennen. Nachgefragt, wie konkret die Beschwerdeführerin von ihrem Verlobten bedroht worden sei, antwortete sie, er habe gesagt, sie hätte keine andere Wahl und könne sich nicht von ihm trennen. Aufgefordert, dies konkreter anzugeben, antwortete die Beschwerdeführerin, in der Trauerphase habe er die Familie sehr oft besucht, danach vielleicht alle sechs Monate. Ihr Vater sei 1391 verstorben und danach hätten sie zwei Jahre lang aus Respekt nicht geheiratet. Als er ihr dann gesagt habe, er wolle endlich heiraten, habe sie ihm die kalte Schulter gezeigt. Dann sei er wieder gegangen, nach ca. fünf Monaten wiedergekehrt und habe versucht, sie zu ehelichen, was sie aber abgelehnt habe. Als ihr Bruder 1394 den Iran habe verlassen wollen, sei sie mitgegangen.
Warum ihr Verlobter jetzt in Afghanistan lebe, wisse sie nicht, er habe jedoch Geschwister dort und bringe Teppiche nach Afghanistan. Neulich habe sie gehört, dass er dort geheiratet habe. Er hätte immer gedroht, sie umzubringen oder mit Säure zu übergießen. Dass er in Afghanistan aufhältig sei, habe sie von ihrer Mutter gehört.
Weitere Bedrohungen gebe es nicht.
Zu ihrem Privatleben in Österreich brachte die Beschwerdeführerin vor, derzeit keinen Deutschkurs, jedoch das BFI zu besuchen und dort Deutsch zu lernen. Zudem arbeite sie gemeinnützig in einem Kindergarten oder in der Schule und habe verschiedene Aufgaben in der Gemeinde, in der sie seit März 2016 regelmäßig tätig sei. Einer legalen Beschäftigung dürfe sie nicht nachgehen und sie lebe von der Grundversorgung. Falls sie hierbleiben könne, wolle sie gerne als Dolmetscherin und Geschäftsfrau arbeiten und ein eigenes Lebensmittelgeschäft eröffnen. Zu ihren sozialen Kontakten gab sie an, dass sie von Dorfbewohnern zu lokalen Festen eingeladen würden. Einkaufen gehe sie manchmal alleine und manchmal mit den Nachbarn, ihr Bruder sei nicht immer dabei. Sie würde gerne arbeiten und Sport betreiben, wegen der Sprache habe sie keine österreichische Freundin.
4. Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.) festgelegt.
Begründend wurde im Wesentlichen angeführt, dass die Gründe der Beschwerdeführerin für das Verlassen ihres Heimatlandes äußerst widersprüchlich und unglaubwürdig geschildert worden seien. Der vorgebrachte Fluchtgrund habe nicht als asylrelevanter Sachverhalt festgestellt werden können. Zudem habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin eine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde bzw. dass sie eine westliche Geisteshaltung angenommen habe.
5. Dagegen wurde fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang erhoben. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Antragstellerin zwar ein Kopftuch trage, im Rahmen der Rechtsberatung allerdings einen figurbetonten roten Mantel, Jeans usw. angehabt habe und zudem dezent geschminkt gewesen sei. Ein derartiger Kleidungstil sei nicht im Iran und noch weniger in Afghanistan zulässig.
6. Am 26.11.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Teilnahmebestätigung an einem Testverfahren zur Erfassung und Förderung praktischer beruflicher Kompetenzen für Bildung und Arbeit als Integrationsunterlage der Beschwerdeführerin ein.
Am 30.8.2021 folgten ergänzend nochmals Bestätigungen der Heimatgemeinde (datiert vom November 2018 sowie November 2019) über ehrenamtliche Tätigkeiten, Einladungen der Heimatgemeinde vom November 2019 zu einem gemütlichen Beisammensein, eine Teilnahmebestätigung am Deutschkurs Niveau A 1 vom März 2019, eine Terminliste bezüglich ÖIF Integrationsmaßnahmen vom März 2019, ein Teilnahmezertifikat Deutschkurs Niveau A1/A2, ein Zeugnis zur Integrationsprüfung A1 des ÖIF, eine Deutschkurs Teilnahmebestätigung A2 vom Mai 2021, ein ÖIF Zeugnis zur Integrationsprüfung Niveau A2, eine Teilnahmebestätigung eines Boardingkurses am BFI 230 Unterrichtseinheiten vom Dezember 2020 samt Zertifikat, die Einladung des BFI zur Teilnahme am Pflichtschulabschluss (Dauer: 13.9.2021 bis 11.2.2022), die Einladung des BFI zum Pflichtschulabschluss vom 15.2.2021 bis 2.7.2021, eine Teilnahmebestätigung des BFI am Pflichtschulabschlusskurs datiert mit 12.11.2020, ein Zeugnis des BFI über Absolvierung der Teilprüfung Englisch-Globalität und Transkulturalität vom 29.6.2021, ein Teilprüfungszeugnis der Externisten-prüfungskommission der Pflichtschulabschlussprüfung an einer Mittelschule bezüglich Berufsorientierung vom 21.6.2021, ein Teilprüfungszeugnis über die Teilprüfung Mathematik der Pflichtschulabschlussprüfung des BFI vom 2.7.2021 sowie ein Unterstützungsschreiben.
7. Am 14.9.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu der das Bundesamt als Verfahrenspartei entschuldigt nicht erschienen ist.
Dabei erklärte die Beschwerdeführerin die Tatsache, dass sie in der Erstbefragungen nichts von ihrer Verlobung erwähnt habe damit, dass sie nicht danach gefragt worden wäre.
Sie gehöre der Sprachgruppe der Tadschiken sowie dem sunnitischen Glauben an, sei in Herat geboren und ihre Muttersprache sei Farsi bzw. Dari. Im Alter von sechs Monaten habe sie mit ihren Eltern die Heimat verlassen, sie seien in den Iran gereist, sechs Jahre später nach Afghanistan zurückgekehrt, hätten sich dort ein oder zwei Jahre lang aufgehalten, bevor sie wieder in den Iran gegangen seien. Dort hätten sie sich illegal ohne Dokumente aufgehalten. Grund für die zweite Ausreise aus Afghanistan seien die schlechte Sicherheitslage sowie der Krieg gewesen.
In Afghanistan habe die Familie ein Haus gehabt, das durch den Krieg zerstört worden sei. Das Grundstück habe die Mutter verkauft, um die Reise zu bezahlen.
Sie selbst sei acht Jahre zur Schule gegangen, es habe sich um eine Grundschule für Afghanen gehandelt, nicht um eine staatliche iranische Schule. Zuhause habe sie als Schneiderin gearbeitet und sei in den letzten Jahren in einem Teppichladen tätig gewesen. Nach dem Tod des Vaters hätten sowohl sie als auch die Mutter arbeiten müssen. Eine Nachbarin sei Schneiderin gewesen, dort habe die Beschwerdeführerin dieses Handwerk gelernt.
In Afghanistan gebe es keine Familienangehörigen, in Österreich lebe ein Cousin mütterlicherseits in Salzburg, die Mutter und die Geschwister befänden sich im Iran, ihr Bruder, der in Österreich gewesen sei, sei im Februar nach Afghanistan abgeschoben worden und befinde sich momentan bei der Mutter im Iran, in Kashan.
Die Beschwerdeführerin stehe mit ihrer Mutter im Kontakt, zwei- bis dreimal wöchentlich telefonierten sie.
Eigene Fluchtgründe für das Verlassen des Heimatlandes habe die Beschwerdeführerin nicht.
Befragt zu ihrer Verlobung gab die Beschwerdeführerin an, sei sie ca. 14 Jahre alt gewesen, ihr Vater habe sie mit diesem Mann verlobt und zwar in Anwesenheit von Freunden und Bekannten sowie der Familie des Verlobten. In Österreich habe die Beschwerdeführerin keinen Kontakt zu diesem, aber sie würden nach wie vor als Verlobte bezeichnet, was nicht in Ihrem Sinne sei.
Die Beschwerdeführerin möge diesen Mann nicht, er sei ein Verwandter ihres Vaters und wie ihr Vater. 40 Tage nach dem Tod ihres Vaters habe sie dem Verlobten mitgeteilt, dass sie ihn nicht heiraten wolle, zuvor habe sie es nur ihrer Mutter gesagt. Von 2010 bis 2015 habe sich der Verlobte im Iran aufgehalten. Nachdem sie ihm mitgeteilt habe, dass sie ihn nicht wolle, habe er sie ein- bis zweimal aufgesucht, danach habe es keinen Kontakt mehr gegeben. Als er zu ihr gekommen sei, habe sie ihm nur Tee oder Essen gebracht, dies sei alles gewesen. Vorgehalten, dass ihre Angaben vor der Behörde über die Anzahl der Treffen mit ihrem Verlobten unterschiedlich gewesen seien, und auch die heutigen Angaben sich davon unterschieden, antwortete die Beschwerdeführerin, sie sehe keinen Unterschied.
Nachdem sie ihm mitgeteilt habe, dass sie ihn nicht heiraten wolle, habe sie ihr Verlobter mit dem Tod bedroht und erklärt, er werde sie nicht gehen lassen, sogar wenn ihre Haare weiß würden. An ihrem Leben habe sich jedoch nichts geändert. Wo er sich momentan aufhalte, wisse die Beschwerdeführerin nicht, nur als sie den Iran verlassen habe, habe er ihrer Mutter mitgeteilt, dass er nach Afghanistan gefahren sei.
Persönliche Bedrohungen wegen ihrer Rasse, Herkunft oder Religion habe es nicht gegeben.
Dass sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2012 oder 2013 noch bis 2015 im Iran geblieben sei, erklärte sie damit, dass sie zunächst kein Geld gehabt habe und letztendlich von ihrem Bruder mitgenommen worden wäre.
In Afghanistan sei sie immer zu Hause geblieben und weder spazieren noch einkaufen gegangen. Dies wäre von ihrer Mutter abhängig gewesen, die auch nicht hinausgehen habe wollen, weil der Vater es nicht erlaubt habe.
Im Iran habe die Beschwerdeführerin zu Hause als Schneiderin gearbeitet, nach dem Tod des Vaters auswärts einen Job gesucht und sei in einem Teppichunternehmen tätig gewesen. Draußen habe sie im Iran einen Mantel und ein Kopftuch und darüber eine Burka getragen. Da sie in Afghanistan nur sechs oder sieben Jahre alt gewesen sei, habe sie nur ein Kopftuch oder einen Schal gehabt.
Bei ihrem Schulbesuch im Iran habe sie die Mutter bis zur fünften Klasse zur Schule begleitet. Danach sei die Beschwerdeführerin zu Hause geblieben, habe dort gearbeitet, sei nach dem Tod des Vaters zwei bis drei Tage wöchentlich in einem Teppichunternehmen tätig gewesen und habe auch zwei bis drei Tage wöchentlich die Schule besucht. Hinausgegangen sei sie nur wegen der Arbeit, sie habe Angst gehabt, sich alleine mit Freunden zu treffen.
Im Bundesgebiet trage sie Zuhause eine Hose mit einem T-Shirt oder eine kurze Hose, auswärts eine Hose mit einem Hemd, zwar keine kurze Hose, aber Shirts mit kurzen Ärmeln.
Seitens der erkennenden Richterin wurde festgehalten, dass die Beschwerdeführerin in der Verhandlung eine dunkelblaue Hose mit Jacke und eine rosa Bluse mit langen Ärmeln trägt. Das Haar sei offen, die Beschwerdeführerin habe Ohrringe sowie einen Ring, lackierte Fingernägel und sei geschminkt.
Dazu erklärte die Beschwerdeführerin, selbst über die Kleidung zu entscheiden. Im Iran habe sie einen langen Mantel, eine Burka, tragen müssen, obwohl sie lieber eine Hose gewollt hätte.
Im Bundesgebiet mache sie im BFI einen Schulabschluss, kaufe unterwegs ein und treffe sich am Wochenende mit ihren Freundinnen. Sie gingen spazieren oder Radfahren oder kochten etwas. Zum Arzt gehe die Beschwerdeführerin alleine, ihre Deutschkenntnisse reichten dafür aus. Zudem jogge die Beschwerdeführerin und trage dazu eine lange Sporthose mit einer Bluse. Schwimmen gehe sie deswegen nicht, weil sie Angst vor Wasser habe.
Die Beschwerdeführerin habe drei Freundinnen und einen Freund aus Österreich, mit denen sie sich treffe. Der Mann, mit dem sie befreundet sei, sei der Chef in der Schule, in der sie arbeite; sie redeten miteinander und tränken zusammen Kaffee. Zudem sei die Beschwerdeführerin in ihrem Heim mit einigen Männern befreundet. Sie habe normalen Kontakt zu ihnen, sie redeten miteinander und besuchten sich. Wenn sie kein Gefühl für einen Mann habe, wolle sie nicht, dass dieser zu ihr komme und in ihrem Zimmer schlafe. Wenn er dies ohne Erlaubnis verlange, werde sie entweder die Polizei rufen oder den Heimleiter informieren.
Auch habe die Beschwerdeführerin mit einer österreichischen Familie Kontakt und besuche sie einmal wöchentlich. Zudem sei sie noch mit anderen Familien, zum Beispiel aus der Türkei oder Bulgarien, befreundet. Mit Freundinnen gehe sie oft raus, zum Beispiel zum Einkaufen oder sowas, mit ihrem Freund sei sie einmal nach der Prüfung rausgegangen, einmal zum Flohmarkt und einmal habe er sie zum Kaffeetrinken besucht.
Die Beschwerdeführerin erhalte ihr Geld von der Grundversorgung und habe ein eigenes Bankkonto.
Der wichtigste Unterschied zu ihrem Leben in Afghanistan sei, dass die Frauen dort nicht rausgehen dürften, besonders in der jetzigen Situation. Sie dürften nicht zur Schule gehen. Rot sei ihrer Lieblingsfarbe, hier könne sie rote Kleidung tragen, aber in Afghanistan dürfe man das nicht in der Öffentlichkeit. Hier könne sie zum Beispiel mit einem Mann, der nicht ihr Vater oder Bruder sei, rausgehen oder zusammenarbeiten oder sich mit ihm unterhalten. Zudem habe sie hier psychische Ruhe und Sicherheit und könne frei sein.
Falls sie in Österreich bleiben könne, wolle sie künftig als Verkäuferin arbeiten, wozu sie zuerst den Schulabschluss benötige. Wegen des Jobs als Verkäuferin habe sie sich informiert, dazu müsse man mit den Kunden und Kundinnen eine gute Kommunikation haben, immer lächeln, insgesamt ein gutes soziales Verhältnis zu anderen pflegen. In Zukunft wolle sie auch als Dolmetscherin arbeiten, wenn ihr Deutschniveau ausreiche. Diesbezüglich habe sie in der Schule ihre Lehrerin gefragt und sich über das Internet informiert.
Aktives Mitglied in einem Verein sei die Beschwerdeführerin nicht. In zehn Jahren wolle sie ein einfaches und normales Leben, zum Beispiel einen Job, einen Führerschein, eine Wohnung und einen guten Mann, mit dem sie leben könne, haben. Sie könne auch mit einem Mann zusammenleben, der kein Afghane sei, wichtig wäre, dass sie sich gegenseitig respektierten.
Im Fall einer Rückkehr habe die Beschwerdeführerin Angst vor den Taliban, dass sie wieder in eine Welt ohne Sicherheit zurückmüsse und dass sie die Freiheit, die sie hier habe, verliere.
Die Beschwerdeführerin legte ergänzend zu ihren bisherigen Integrationsunterlagen die Bestätigung einer Marktgemeinde für im Zeitraum vom März 2019 bis Mai 2019 geleistete gemeinnützige Dienste sowie weitere Unterstützungserklärungen vor.
Seitens der erkennenden Richterin wurde eine Frist von 14 Tagen für eine allfällige Stellungnahme zu den Länderinformationen gewährt.
8. Diese Stellungnahme langte beim Bundesverwaltungsgericht am 23.9.2021 ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grundlage der Einsichtnahme in den Verwaltungs- und Gerichtsakt der Beschwerdeführerin, des persönlichen Eindrucks, den die erkennende Richterin im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, der vorgelegten Unterlagen sowie der Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt.
1.1. Zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie ist sunnitischer Moslem. Ihre Muttersprache ist Dari.
Die Beschwerdeführerin stammt ursprünglich aus der Stadt Herat, reiste zuletzt im Kindesalter wegen der schlechten Sicherheitslage mit ihren Eltern und Geschwistern in den Iran aus, wo sie in Kashan lebte, bevor sie 2015 weiter nach Europa zog. Im Iran besuchte sie eine Schule für Afghanen, war zuhause als Schneiderin tätig und nach dem Tod ihres Vaters 2012/2013 in einem Teppichgeschäft. Ihre Angehörigen sind nach wie vor im Iran aufhältig.
Die Beschwerdeführerin gehört zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Frauen. Sie führt mittlerweile einen westlich orientierten, selbstständigen und selbstbestimmten Lebensstil. Diese Lebensführung ist zu solch einem Bestandteil ihrer Identität geworden, dass nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken.
1.2. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Version 5, Stand 16.9.2021, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Stand 30.08.2018, die UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, Stand August 2021, die EASO Guidelines, die Analyse der Staatendokumentation zur Gesellschaftlichen Einstellung zu Frauen in Afghanistan, Stand 25.6.2020, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan vom 3.5.2019 über Kinderehen, Zwangsehen, das Statement des UNHCR vom August 2021 betreffend einer Rückkehr, das Emergency Update UNHCR vom 20.8.2021 und der Ausblick des UNHCR vom August 2021 betreffend die Situation von Juli bis Dezember 2021 stellen einen integrierten Bestandteil dieses Erkenntnisses dar und werden als Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat herangezogen.
2. Beweiswürdigung:
Die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakt, den vorgelegten Unterlagen und Schriftsätzen sowie dem vom Bundesverwaltungsgericht durchgeführten Ermittlungsverfahren, insbesondere der Einvernahme der Beschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung und dem persönlichen Gesamteindruck, den die erkennende Richterin dort gewinnen konnte.
2.1. Zur Person und zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrem Lebenslauf, der Muttersprache sowie ihrer familiären Situation gründen sich auf ihre diesbezüglich stringenten und somit schlüssigen Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen zu zweifeln.
Die Feststellungen zur Beschwerdeführerin als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau ergeben sich aus ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem persönlichen Gesamteindruck, der dort gewonnen werden konnte. Diese Angaben werden zudem durch die – unter Punkt I. detailliert angeführten – Bestätigungen, Zeugnisse und Unterstützungserklärungen untermauert.
Die Beschwerdeführerin vermochte zu überzeugen, dass sie sich aus innerer Überzeugung einer westlichen Wertehaltung und einem westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild zugewandt hat, danach lebt und daran festzuhalten gewillt ist.
Sie hat in der Beschwerdeverhandlung verdeutlicht, dass sie ihr Äußeres und ihre Lebensführung an das Leben westlicher Frauen anpasst und dass sie sich vor – in Afghanistan für Frauen üblichen – traditionellen Einschränkungen und gesellschaftlichen Vorgaben fürchtet. Sie hat glaubhaft dargelegt, vom Willen getragen zu sein, den Alltag selbstständig zu bestreiten. Sie bildet sich weiter, hat ein eigenes Konto, verwaltet ihr eigenes Geld, geht alleine einkaufen, zu Ärzten und trifft sich mit (auch österreichischen) Freunden – unter denen es Männer gibt. Ein männlicher österreichischer Freund besucht sie auch z.B. zum Kaffeetrinken zuhause. Sie ist sich jedoch dessen bewusst, dass sie sich an die Polizei oder die Heimleitung wenden würde, wenn jemand gegen ihren Willen zudringlich wäre.
Ihre (westliche) Kleidung sucht sie sich selbst aus, sie fährt Fahrrad und geht Laufen. Das Kopftuch hat sie abgelegt. Zudem konnte sie glaubhaft machen, in Hinkunft auch selbst berufstätig sein zu wollen. Diesbezüglich besucht sie Pflichtschulabschlusskurse, hat bereits einige Teilprüfungen bestanden und sich bei ihrer Lehrerin und im Internet über die Voraussetzungen für ihren Wunschberuf – Verkäuferin und auch Dolmetscherin – erkundigt. Zurzeit verfügt sie über das Niveau A2, worüber sie ein ÖIF-Zeugnis vorlegen konnte, besucht B1/B2 Kurse, absolvierte den Wertekurs, nahm an diversen weiteren Veranstaltungen teil und ist seit Jahren ehrenamtlich in der Gemeinde tätig. In Österreich lebt sie alleine und sie kann sich vorstellen, auch einen nicht-afghanischen Partner zu haben.
Sie wünscht sich ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben und es ist ihr wichtig, dass sie eine Ausbildung machen, arbeiten, selbstständig über ihr Leben entscheiden und in Freiheit – ohne die traditionellen Beschränkungen in Afghanistan - leben kann.
Die erkennende Richterin gewann im Rahmen der Verhandlung den Eindruck, dass es sich bei der Beschwerdeführerin in einer Gesamtschau um eine Frau handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild und die konservativ-afghanische Tradition ablehnt, demgegenüber bereits stark westliche Werte verinnerlicht hat und – aus Überzeugung und in Abkehr zu der konservativ-afghanischen Tradition – auch danach lebt.
Insgesamt führt die Beschwerdeführerin mittlerweile einen westlichen, selbstständigen und selbstbestimmten Lebensstil, der zu solch einem Bestandteil ihrer Identität geworden ist, dass nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken.
2.2. Zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zuständigkeit und verfahrensrechtliche Grundlagen:
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, liegt gegenständlich die Zuständigkeit der nach der geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts zuständigen Einzelrichterin vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte ist mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts durch das Verwaltungsgerichtsverfahrens (VwGVG) geregelt. Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG idgF bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zweck des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG idgF sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 des BFA-Verfahrensgesetz - BFA-VG entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) das Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß §§ 16 Abs 6 und 18 Abs 7 BFA-VG idgF sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.
3.2. Zu Spruchpunkt A.)
3.2.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.2.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt also dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "begründete Furcht vor Verfolgung" (VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthalts zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011 ua).
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).
Eine Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zahl 98/01/0370; 22.10.2002, Zahl 2000/01/0322).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256). Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).
Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der Flüchtlingskonvention. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. hiezu VwGH 21.01.1999, 98/18/0394; 19.10.2000, 98/20/0233, mwH).
Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation kann nach ständiger Judikatur nicht als hinreichender Grund für eine Asylgewährung herangezogen werden (vgl. VwGH vom 17.06.1993, Zl. 92/01/1081; VwGH vom 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).
Nach der Rechtsprechung des VwGH können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017-0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388).
3.2.3. Die Beschwerdeführerin gehört zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Frauen.
Nach der Rechtsprechung des VwGH können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden (vgl. etwa VwGH vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017-0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388).
Wie oben in den Feststellungen und der Beweiswürdigung gezeigt, führt die Beschwerdeführerin mittlerweile einen westlichen, selbstständigen und selbstbestimmten Lebensstil. Diese Lebensführung ist zu solch einem Bestandteil ihrer Identität geworden, dass nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken.
Den getroffenen Länderfeststellungen sowie den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.8.2018 (siehe Abschnitt III.A.7f.) ist zu entnehmen, dass die Fortführung dieser Lebensweise in Afghanistan zu einer asylrelevanten Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen führen würde.
Auf Grund der Ermittlungsergebnisse ist daher davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung, nämlich aus Gründen ihrer politischen Gesinnung bzw. Religion (überwiegende Orientierung an dem als "westlich zu bezeichnenden Frauen- und Gesellschaftsbild) und ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten afghanischen Frauen außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Beschwerdeführerin nicht, weil im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer derartigen Verfolgung auszugehen wäre.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
3.3. Zu Spruchpunkt B)
Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG im vorliegenden Fall nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Zudem ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht kann sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen oder es steht in vielen Punkten die Tatfrage im Vordergrund.
Schlagworte
asylrechtlich relevante Verfolgung gesamtes Staatsgebiet geschlechtsspezifische Verfolgung politische Gesinnung Rechtsanschauung des VwGH soziale Gruppe westliche Orientierung wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W174.2191419.1.00Im RIS seit
20.01.2022Zuletzt aktualisiert am
20.01.2022