TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/30 W184 2216505-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.11.2021
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Entscheidungsdatum

30.11.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W184 2216505-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2019, Zl. 16-1102260100/160076783, zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, eine weibliche Staatsangehörige Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 10.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass ihr Schwiegersohn von den Taliban einen Brief erhalten habe, dass er sowie seine Familie und sie selbst die Arbeit aufgeben sollten, da es Frauen untersagt sei, als Schauspielerinnen tätig zu sein. Sie habe in Afghanistan 12 Jahre die Schule einschließlich das Gymnasium besucht und sei anschließend als Schauspielerin tätig gewesen. Sie gehöre der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Religion an.

Am 23.05.2018 wurde die beschwerdeführende Partei vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen und gab im Zuge dieser Einvernahme zu Protokoll, dass ihre zwei Töchter, ihr Sohn, ihr Schwiegersohn und ihr Enkel in Österreich leben würden. Sie sei als Schauspielerin in Afghanistan oftmals belästigt worden. Befragt, wie sie zum Schauspiel gekommen sei, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass sie sich für diesen Beruf interessiert habe und ein Bewerbungsgespräch durchgeführt worden sei. Die Frage, ob ihre Familie irgendwelche Besitztümer habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Sie habe zu keinen in Afghanistan wohnenden Personen Kontakt.

Zum Fluchtgrund tätigte die beschwerdeführende Partei folgende Angaben:

F: Was war der konkrete Grund, warum Sie die Heimat verlassen haben? Erzählen Sie bitte möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die Sie zum Verlassen der Heimat veranlasst haben (freie Erzählung)!

A: Ich bin aus demselben Grund ausgereist wie mein Schwiegersohn. Ich selbst habe keine weiteren Gründe vorzubringen und berufe mich auf seine Fluchtgründe. Was mein Schwiegersohn gesagt hat, ist die Wahrheit, ich wurde auch im Drohbrief erwähnt. Falls Sie noch etwas wissen wollen, werde ich Ihre Fragen beantworten. Das ist alles, weitere Gründe gibt es nicht. (Ende der freien Erzählung)

F: Sie werden nochmals auf das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren aufmerksam gemacht. Ich frage Sie daher jetzt nochmals, ob Sie noch etwas Asylrelevantes angeben möchten oder etwas vorbringen möchten, was Ihnen wichtig erscheint, ich jedoch nicht gefragt habe?

A: Nein, ich habe alles erzählt. Ich habe keine weiteren Gründe mehr vorzubringen.

F: Was ist damals konkret passiert, damit Ihre Familie Ihre Heimat verlassen musste?

A: Den ersten Drohbrief haben wir am 07.05.1394 (= 29.07.2015) bekommen. Die Taliban verlangten, dass wir mit unserer Arbeit aufhören müssen. Der Brief wurde von XXXX , das ist der Bruder von XXXX , gefunden und er hat ihn dann XXXX gegeben. Dann hat XXXX eine Anzeige bei der Polizei im Distrikt 16 gemacht. Die Taliban verlangten, dass XXXX , XXXX und XXXX zusammen mit den Taliban gegen die Regierung Jihad machen mussten. Sie verlangten von mir und meinen beiden Töchtern, dass wir mit unserer Arbeit aufhören mussten. Falls wir das nicht befolgen würden, würden sie gegen uns gemäß dem islamischen Gesetz vorgehen, weil die TV-Sendungen gegen die islamische Moral sind und diese Sendungen die Menschen vom Islam wegbringen. Laut dem islamischen Gesetz müssen die Frauen zuhause sein und die Frauen dürfen nicht ohne Schleier oder Burka nach draußen gehen. Das ist total unakzeptabel, dass Frauen und Männer zusammen an einer Fernsehsendung arbeiten, gemäß dem islamischen Gesetz. Wir hätten mit dieser Arbeit aufhören und zurück zu den islamischen Gesetzen kommen müssen. Die Polizisten sagten, dass wir uns keine Sorgen machen sollen, denn falls es Schwierigkeiten gibt, sollen wir uns bei ihnen melden. Trotzdem hatten wir Angst, aber wir haben unsere Arbeit weitergeführt. Wir sind mit Angst zur Arbeit gegangen und haben dann den zweiten Drohbrief bekommen. Wir bekamen eine Frist von 20 Tagen. Falls wir während dieser 20 Tage unsere Arbeit nicht verlassen, werden wir von ihnen getötet. Vor einem Jahr wurde ein Journalist namens XXXX mit seiner ganzen Familie von den Taliban getötet, er ist ein Bekannter, der Cousin von XXXX Vater. XXXX Vater wurde von den Taliban auch geschlagen, als er von der Moschee nach Hause kam, ist dieser Vorfall passiert. Als XXXX Vater unterwegs nach Hause war, traf er ein paar Leute und zuerst fragten sie nach seinem Namen, sie fragten, ob er XXXX wäre. Dann hat eine dieser Personen seinen Mund festgehalten und der andere hat ihn mit seiner Pistole bedroht. Dann brachten sie XXXX auf die Grundstücke und haben ihn dort geschlagen und ihn wieder bedroht. Sie sagten, dass die Familie, die im Drohbrief auch steht, innerhalb von 20 Tagen mit der Arbeit aufhören muss. Die Männer hätten in den Jihad ziehen müssen, ansonsten wären sie getötet worden. Dann bekam der XXXX einen zweiten Drohbrief von den Taliban und diese haben gesagt, dass sie in 20 Tagen kontrollieren kommen. Als XXXX nach Hause kam, blutete seine Nase und er war am Mund und im Gesicht verletzt. Dann gab er den Brief an XXXX . XXXX wollte die Polizei anrufen, aber sein Vater hat ihn zuerst davon abgehalten. Aber er hat das dann trotzdem getan und dann kamen drei Polizisten. Die Polizisten haben es nicht ernst genommen, XXXX aber schon. Er hat das alles sehr ernst genommen. XXXX sagte, dass wir eine 20-tägige Frist bekommen haben, und fragte die Polizei, warum sie das nicht ernst nehmen. Am nächsten Tag war XXXX wieder bei der Polizei und die Polizei sagte, warum wir sie zum Zeitpunkt des Überfalles nicht kontaktiert haben. XXXX sagte, dass das nicht möglich war. Wie soll man die Polizei anrufen, wenn man überfallen wird. Die Polizei sagte, dass sie keinen Bodyguard bereitstellen und auch keinen Check-Point bei uns zuhause aufbauen können. Sie konnten uns nicht schützen, deshalb haben wir Afghanistan verlassen. In jeder Sekunde in Afghanistan waren wir in Gefahr. Ich konnte es nicht erlauben, dass mein Sohn mit den Taliban mitgeht, weder mein Sohn, noch mein Schwiegersohn.

F: Was halten Sie als Frau von diesen islamischen Gesetzen?

A: Laut den islamischen Gesetzten dürfen die Frauen nicht arbeiten und nach draußen gehen. Ich wurde in einer sehr liberalen Familie geboren und bin dort aufgewachsen. Ich habe meine Freiheit auch ausgelebt. Ich habe als Schauspielerin gearbeitet. Falls ich einen positiven Bescheid bekomme, will ich auch hier wieder als Schauspielerin arbeiten. Diese Freiheit hat mich zum Schauspiel gebracht.

F: Hat es von Seiten Ihres Umfeldes in Afghanistan jemals irgendwelche Probleme gegeben wegen Ihrer liberalen Einstellung?

A: Diejenigen, die liberal waren, waren damit einverstanden, aber die meisten waren dagegen. Diese Personen haben mich dann oft belästigt und mich beschimpft.

F: Hat es wegen Ihres „modernen“ Lebensstils jemals körperliche Übergriffe gegeben?

A: Ich habe nur einmal eine Ohrfeige bekommen. Eine Person, er war traditionell gekleidet und ca. 45 Jahre alt, ist zu mir gekommen und hat zu mir gesagt, warum ich als Schauspielerin arbeite, und gab mir eine Ohrfeige. Er sagte, dass ich, wenn er mich noch einmal auf der Bühne oder im Fernseher sehe, schon sehen werde, was ich davon habe. Ich wollte dann schreien und dann ist er weg. Das war ca. eineinhalb Jahr vor unserer Ausreise. Das war in der Mitte des Jahres 2013.

F: In welchen Produktionen waren Sie als Schauspielerin tätig?

A: Ich habe bei den Produktionen für FGH Produktion, TOLO TV, 1 TV, Ariana TV, Shamshad TV, National TV und Saba Produktion mitgewirkt.

F: Welche Rollen haben Sie gespielt?

A: Meistens habe ich die Rollen einer Mutter, Schwester oder Ehefrau gespielt.

F: Können Sie Theaterstücke nennen, bei denen Sie mitgewirkt haben?

A: Ja, ich kann ein paar nennen, Yal-e Kachken, Fajeha, Bandagi und Sultan Mahmud, Ghaznawi. Wir haben auch live Theater veranstaltet. Es gibt auch eine Serie in Tolo TV, die heißt „Baine Man wa to“. Im Shamshad TV gibt es auch eine Serie namens „Main-Paki“. Im Nationalen TV gab es auch die Serien namens „Ishqe-Piri“ und „Separ-Natio“. Es gibt auch eine berühmte Serie namens „Raz-hayae-in Kahna“ auf Tolo TV. Es gibt auch noch eine Serie namens „Kommissar Amanlullah“. Mir fällt noch eine von Tolo TV namens „Manzel“ ein.

F: Haben Sie eher Haupt- oder Nebenrollen gespielt?

A: Im Film „Manzel“ und bei „Kommissar Amanullah“ habe ich die Hauptrolle gespielt. Bei „Baine Man wa to“ habe ich eine Anwältin gespielt. In „Ferashtagan“ war ich die Rolle der Antagonistin.

F: Wie hoch würden Sie Ihren Bekanntheitsgrad in Afghanistan einschätzen?

A: Viele Leute haben mich gekannt.

F: Hat von den Zuschauern das positive oder das negative Feedback überwogen?

A: Ca. 30% war positiv, der Rest war nicht gut.

F: Wie haben Sie sich in Afghanistan gekleidet?

A: Ich habe mich dort so gekleidet wir hier, ich habe nur einen Schleier getragen.

Anmerkung: Antragstellerin zeigt ein Video von sich auf Youtube.

F: Wie konnten Sie in Afghanistan mit Ihrem modernen Lebensstil leben? Gab es diesbezüglich jemals Probleme?

A: Ja, wie vorher gesagt. Die, die eine moderne Mentalität hatten, haben sich nicht daran gestört, die anderen hat es schon gestört.

F: Hatten Sie auch Schauspiel-Kolleginnen?

A: Ja, Yasamin Yarmal, Nasima Jalal, Lila Haidari.

F: Was ist mit diesen Personen? Sind diese noch in Afghanistan?

A: Momentan weiß ich das nicht.

F: Wurden diese Personen jemals bedroht?

A: Ja, natürlich.

F: Sind Sie in Ihrer Heimat oder in einem anderen Land vorbestraft bzw. haben Sie im Herkunftsland oder hier Strafrechtsdelikte begangen?

A: Nein.

F: Werden Sie in der Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat jemals von den Behörden angehalten, festgenommen oder verhaftet?

A: Nein, nur in der Türkei.

F: Hatten Sie in Ihrer Heimat Probleme mit den Behörden?

A: Nein, mit den Behörden niemals.

F: Waren Sie in Ihrer Heimat jemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer politischen Gesinnung verfolgt?

A: Nein, das ist niemals passiert.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Rasse verfolgt?

A: Nein.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Religion verfolgt?

A: Nein, niemals.

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Nationalität, Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt?

A: Nein, das niemals.

F: Gab es jemals bis zu den besagten Vorfällen auf Sie irgendwelche Übergriffe oder ist an Sie persönlich jemals irgendwer herangetreten?

A: Nein, bis auf die Ohrfeige gab es auf mich niemals irgendwelche Übergriffe.

F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?

A: Wir haben nur 20 Tage Frist gehabt, jetzt sind wir seit zweieinhalb Jahren hier, falls wir abgeschoben werden, würde ich getötet werden.

F: Hätten Sie Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden im Falle Ihrer Rückkehr?

A: Nein, sicher nicht.

F: Wissen Sie über die aktuelle politische Lage und über die Sicherheitslage in Ihrer Heimat

Bescheid?

A: Ja, darüber weiß ich Bescheid.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung getroffen:

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt.

IV. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG wird eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen.

V. Es wird gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

VI. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass bezüglich der Beweiswürdigung betreffend die Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates der Vollständigkeit halber auf den Bescheid des Schwiegersohnes der beschwerdeführenden Partei verwiesen werde. Zu den vom Schwiegersohn vorgelegten Briefen sei weiters anzuführen, dass Afghanen in der Hoffnung, sich nach Europa als Flüchtlinge einschleichen zu können, gefälschte Todesdrohbriefe kaufen würden. Überdies sei nach über drei Jahren nach der Ausreise aus Afghanistan nicht davon auszugehen, dass seitens der Taliban oder sonstiger Akteure ein besonderes Interesse an der Person der beschwerdeführenden Partei bestehe. Von der erkennenden Behörde werde nicht verkannt, dass die beschwerdeführende Partei seit ihrem Aufenthalt in Österreich und auch in Zukunft ein selbstständiges Leben führen und arbeiten wolle. Im konkreten Fall sei jedoch zu befinden, dass die Behörde davon ausgehe, dass das auch in Kabul, Herat oder Mazar e-Sharif möglich wäre, da sie selbstständig vorgebracht habe, sich bereits in Afghanistan so gekleidet zu haben wie sie dies in Österreich tue. Weiters habe sie in ihrer Heimat seit dem Jahr 2011 als Schauspielerin und Bühnenbildnerin gearbeitet und habe in diesem Zusammenhang bis auf die ausreisekausalen Gründe keine wie auch immer geartete Bedrohung bzw. Verfolgung vorgebracht. Sowohl aus den Länderfeststellungen als auch der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 18.09.2017 gehe hervor, dass sich die Lage der Frauen in Afghanistan seit dem Ende der Talibanherrschaft deutlich gebessert habe; dies betreffe vor allem die Bildungssituation. Entgegen ihrer Behauptungen sei sie in Kabul auch nicht gezwungen, eine Burka zu tragen. Zusammenfassend wäre es der beschwerdeführenden Partei daher möglich, gemeinsam mit ihrer Familie einen für Afghanistan modernen Lebensstil in den Großstädten Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif zu pflegen, wie sie es bereits vor ihrer Ausreise getan habe.

Gegen den Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass der belangten Behörde vorzuwerfen sei, dass sie kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt habe. Die westliche Orientierung der beschwerdeführenden Partei sei in der Bescheidbegründung nicht gewürdigt worden. Festzuhalten sei weiters, dass die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und teils veraltet seien, und zwar allgemeine Aussagen treffen, sich jedoch in keiner Weise mit dem konkreten Fluchtvorbringen der beschwerdeführenden Partei befassen würden. Den Länderberichten sei auch eine zunehmende Gewalt gegen berufstätige Frauen zu entnehmen, welche aufgrund ihrer Berufstätigkeit vermehrt Ziele von Anschlägen seien. Die belangte Behörde habe es zudem unterlassen, ihrer Begründungspflicht ausreichend nachzukommen, da sie sich nicht mit dem Einzelfall der beschwerdeführenden Partei auseinandergesetzt habe. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die beschwerdeführende Partei ist afghanische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie ist in Kabul geboren, ihre Muttersprache ist Dari und sie hat im Herkunftsstaat 12 Jahre die Schule einschließlich das Gymnasium besucht sowie einen Schulabschluss erworben. Die beschwerdeführende Partei ist verwitwet und hat drei Kinder. Die beschwerdeführende Partei war im Herkunftsstaat von 2011 bis 2015 als Schauspielerin und Bühnenbildnerin tätig und hat bei verschiedenen TV-Produktionen sowie am Theater mitgewirkt. Die drei volljährigen Kinder der beschwerdeführenden Partei sind in Österreich aufhältig.

In Österreich hat die beschwerdeführende Partei einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 und einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Derzeit besucht sie mehrmals die Woche einen Deutschkurs. Sie hat bereits freiwillig gearbeitet und Kontakte zu österreichischen Staatsbürgern geknüpft. Die beschwerdeführende Partei trägt kein Kopftuch, kleidet sich westlich und geht allein Einkaufen. Sie hat keinen Kontakt mehr zu in Afghanistan lebenden Angehörigen. Die beschwerdeführende Partei will in Österreich einer Tätigkeit als Schauspielerin nachgehen und Kochkurse besuchen.

Die beschwerdeführende Partei ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die beschwerdeführende Partei lebt nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, da sie ihre eigenen Entscheidungen trifft, sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum bewegt und eine Zukunftsperspektive hat, sie möchte weiterhin frei leben, sich bilden und die deutsche Sprache erlernen sowie einen Beruf ausüben. Weiters möchte sie auch ihren Kindern ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.

Die beschwerdeführende Partei ist nicht gewillt, sich den afghanischen Vorschriften, insbesondere unter dem derzeitigen Taliban-Regime, entsprechend zu verhalten. Eine Fortsetzung des Lebens, das sie derzeit in Österreich führt, wäre ihr in Afghanistan nicht möglich.

Die beschwerdeführende Partei lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach einer konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die beschwerdeführende Partei stammt aus einer liberalen Familie und würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden und würde dadurch Gefahr laufen, aufgrund ihrer westlichen Orientierung verfolgt zu werden.

Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei:

Es wird dem Verfahren nicht zugrunde gelegt, dass die beschwerdeführende Partei Afghanistan aufgrund der Fluchtgründe ihres Schwiegersohnes verlassen hat. Ihr Schwiegersohn hat keine Drohbriefe von den Taliban erhalten.

Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat der beschwerdeführenden Partei:

„COVID-19 Letzte Änderung: 16.09.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO:

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-HopkinsUniversität:

https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467 b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.

Aktuelle Lage in Afghanistan (Stand 18.08.2021):

Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz

einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996– 2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Quellen:

• BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email

• bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from

countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021

• Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab,

https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegen-fluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021

• IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email

• orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021

• orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021

• orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021

orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021

• tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen,

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021

• UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021

• VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email

• VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des

öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).

Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021). Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021). Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese, wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden.

Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste

Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im

Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAXProgramm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021). Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAXProgramm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in

Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind.

Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19- Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID- 19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im AlfalahLabor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisenoder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020

im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti- Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische

Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021). Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID- 19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA

30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021). IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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