TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/22 W205 2212659-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.09.2021
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Entscheidungsdatum

22.09.2021

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
AsylG 2005 §34 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W205 2212661-1/18E
W205 2212655-1/18E
W205 2212662-1/19E
W205 2212659-1/17E
W205 2212664-1/17E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Karin SCHNIZER-BLASCHKA über die Beschwerden von 1 XXXX , gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2018 zu 1.) Zl. 1099958501-152029253, 2.) 1099959106-152029415, 3.) Zl. 1099959607-152029466, 4.) Zl. 1099960009-152029431. und 5.) Zl. 1099959803-152029440, alle StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Julian A. MOTAMEDI, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG sowie XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern sowie gesetzlichen Vertreter der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin, der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin und des minderjährigen Fünftbeschwerdeführers.

2.       Die Beschwerdeführer reisten gemeinsam unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweibeschwerdeführerin stellten am 18.12.2015 für sich und die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

3.       Hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers liegt zu Griechenland ein EURODAC Treffer der Kategorie 2 (erkennungsdienstliche Behandlung) vor.

4.       Die niederschriftlichen Erstbefragungen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin erfolgten am 19.12.2015 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.

Zu ihren Fluchtgründen befragt gaben der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass sie immer wieder von den Taliban bedroht worden seien. Elf Monate zuvor sei ihr Haus von Raketen getroffen worden und ihr vierjähriges Kind dabei umgekommen. Im Falle einer Rückkehr befürchte der Erstbeschwerdeführer einen Mangel an Sicherheit, die Zweitbeschwerdeführerin religiöse Konflikte und Krieg.

3. Am 24.07.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

Hinsichtlich seiner Fluchtgründe führte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er in Afghanistan als Busfahrer tätig gewesen sei und die Taliban ihn auf seinem Weg nach Ghazni aufgehalten hätten. Sie hätten zwei seiner Passagiere, die Regierungsmitglieder gewesen seien, ermordet. Danach sei der Erstbeschwerdeführer mit den restlichen Passagieren nach Ghazni weitergefahren. Dort habe er telefonisch von einem Freund erfahren, dass zwischenzeitig die Regierung einige Mitglieder der Taliban in seinem Dorf getötet habe. Die Taliban hätten ihn dafür verantwortlich gemacht und ihn beschuldigt, ein Spion zu sein und sie verraten zu haben. Daher hätten die Taliban zweimal sein Zuhause durchsucht und dabei seine Familie bedroht und misshandelt. Seine Frau sei von den Taliban vergewaltigt worden. Derselbe Freund habe seine Familie dann zu ihm nach Ghazni gebracht. Anschließend sei die Familie in den Iran gereist. Dort hätten sie aber keine Aufenthaltsberechtigung gehabt und Angehörige des Militärs hätten ihn deswegen unter Druck gesetzt, damit er im Syrienkrieg kämpfen würde. Deshalb hätten sie den Iran verlassen. Zudem sei es für ihn als Hazara nicht leicht gewesen, weswegen er ebenfalls Afghanistan verlassen habe. Weiters sei ihm von den Dorfältesten in seinem Heimatdorf immer vorgeworfen worden, dass er kein richtiger Moslem sei, weil er nicht bete. Von der Regierung sei er wegen der Ermordung der zwei Regierungsmitglieder beschuldigt worden, dass er mit den Taliban kollaboriere.

Befragt zu ihren Fluchtgründen verwies die Zweitbeschwerdeführerin auf das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers und gab an, dass Frauen in Afghanistan keine Sicherheit und keinen Wert hätten. Die Leute hätten geglaubt, dass ihr Ehemann die Taliban verraten habe. Als die Taliban ihn ein zweites Mal nicht zu Hause angetroffen hätten, hätten sie die Zweitbeschwerdeführerin geschlagen und vergewaltigt. Diese habe daraufhin nicht mehr zu Hause bleiben können und der Freund ihres Ehemannes habe sie mit den Kindern zu ihrem Ehemann nach Ghazni gefahren. Nach Österreich seien sie gekommen, weil ihre Kinder im Iran nicht die Schule hätten besuchen dürfen und ihr Ehemann nach Syrien in den Krieg geschickt worden wäre.

Im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde legten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Integrationsunterlagen, darunter diverse Deutschkurs-bestätigungen, Zeugnisse der Kinder und medizinische Unterlagen vor.

5.       Die belangte Behörde wies mit den im Spruch angeführten Bescheiden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 5 iVm Abs. 4 AsylG 2005 wurde ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 23.11.2019 bzw. „23.11.2018“ erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Insbesondere sei das Vorbringen zur Verfolgung durch die Taliban und die Regierung widersprüchlich und aufgrund der knappen Angaben insgesamt nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführer hätten vielmehr das Land verlassen, um eine Verbesserung ihrer Lebenslage zu erreichen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würden sie in eine existenzielle Notlage geraten, weswegen ihnen subsidiärer Schutz zu erteilen gewesen sei.

6.       Mit Verfahrensanordnung vom 28.11.2018 wurde den Beschwerdeführern amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

7.       Gegen Spruchpunkt I. der obgenannten Bescheide erhoben die Beschwerdeführer durch ihre bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie „der Verletzung von Verfahrensvorschriften“.

In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen der Beschwerdeführer aus dem erstbehördlichen Verfahren zusammengefasst wiederholt und vorgebracht, dass die mangelhafte Befragung und Ermittlung des Sachverhaltes durch die belangte Behörde zu einer mangelhaften Beweiswürdigung geführt hätten. Dies betreffe das Vorbringen der Beschwerdeführer zu ihrer Diskriminierung als Angehörige der schiitischen Hazara, die ihnen drohende Verfolgung aufgrund der unterstellten Ungläubigkeit und der unterstellten politischen Gesinnung des Erstbeschwerdeführers seitens der Regierung und der Taliban, weiters das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand und die Frage der Verfügbarkeit der ihr verordneten Medikamente in Afghanistan. Die belangte Behörde habe sich nicht bzw. unzureichend mit den Auswirkungen einer Rückkehr für die Erst- und Zweitbeschwerdeführer als Analphabeten, der Lage der Frauen in Afghanistan sowie der westlichen Gesinnung und Einstellung der Zweitbeschwerdeführerin, ihrem Vorbringen zur Vergewaltigung durch die Taliban, ihrer Traumatisierung und dem ihr unterstellten Führen einer außerehelichen Beziehung (Zina) sowie den damit verbundenen Folgen auseinandergesetzt. Zudem hätte die belangte Behörde den Beschwerdeführern auch die Möglichkeit einräumen müssen, zu Widersprüchen Stellung zu nehmen. Darüber hinaus seien die von der Behörde zugrunde gelegten Länderfeststellungen unvollständig und veraltet sowie die getroffenen Feststellungen mangelhaft. Die belangte Behörde habe ebenso nicht die Minderjährigkeit der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer berücksichtigt. Auch aufgrund der Zugehörigkeit der Zweitbeschwerdeführerin zur sozialen Gruppe der Frauen sei den Beschwerdeführern der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

8.       Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 10.01.2019 eingelangter Beschwerdevorlage die gegenständlichen Verwaltungsakten.

9.       Mit Eingabe vom 10.05.2019 bzw. vom 22.06.2021 legten die Beschwerdeführer durch ihre zum jeweiligen Zeitpunkt bevollmächtigte Vertretung Integrationsbelege, diverse medizinische Unterlagen und Unterstützungsschreiben bzw. Empfehlungsschreiben vor.

10.      Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.06.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer sowie deren Rechtsvertretung teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Die Rechtsvertretung der Beschwerdeführer legte bereits vorab übermittelte Integrationsunterlagen sowie medizinische Unterlagen vor. Dieser wurde zu den in der Verhandlung in das Verfahren eingebrachten Länderberichten eine Frist von 14 Tagen zur Stellungnahme eingeräumt (vgl. Seite 23 des Verhandlungsprotokolls).

11.      Hierzu wurde von den Beschwerdeführern in der Folge keine Stellungnahme ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Die Beschwerdeführer führen die im Spruch genannten Namen und die darin genannten Geburtsdaten.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind Ehegatten. Sie sind die leiblichen Eltern und gesetzlichen Vertreter der minderjährigen ledigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer.

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Ihre Muttersprache ist Dari. Sie stammen aus dem Dorf XXXX in der Provinz Ghazni.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin erhielten in Afghanistan weder eine Schul- noch Berufsausbildung und waren zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Afghanistan Analphabeten. Der Erstbeschwerdeführer ist als Landwirt und Taxifahrer für den Unterhalt der Familie aufgekommen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat in Afghanistan gelegentlich als Schneiderin gearbeitet. Ihre finanzielle Situation im Herkunftsland war gut.

Die Drittbeschwerdeführerin und die Viertbeschwerdeführerin mussten in Afghanistan ein Kopftuch tragen. Die Drittbeschwerdeführerin hat als Kind vier Jahre die Schule besucht, danach durfte sie nicht mehr zur Schule gehen.

1.1.2. Die Beschwerdeführer lebten in ihrem Heimatdorf bis zu ihrer Ausreise in den Iran, wo sie ca. vier Monate aufhältig waren bevor sie nach Europa weitergereist sind.

Die Beschwerdeführer kamen gemeinsam im Jahr nach Österreich. Am 18.12.2015 stellten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin für sich und die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

1.1.3. Ein weiterer Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin namens XXXX ist in Österreich aufhältig. Er stellte im Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet und erhielt den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

1.1.4. In Österreich hat der Erstbeschwerdeführer an Alphabetisierungskursen und Deutschkursen bis Niveau A2 teilgenommen. Zudem hat er den Werte- und Orientierungskurs des ÖIF absolviert. Er ist als Mitglied eines Laufvereines sportlich aktiv und ehrenamtlich in einem Verein zur Verteilung von Lebensmitteln an Bedürftige tätig.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat in Österreich an Alphabetisierungskursen und Deutschkursen bis Niveau A0.2 teilgenommen, war aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation in ihrer Weiterbildung aber eingeschränkt.

Die Viertbeschwerdeführerin besucht eine Mittelschule und spielt dort auch Volleyball. Sie kleidet sich im westlichen Stil und möchte Rechtsanwältin werden.

Der Fünftbeschwerdeführer besucht in Österreich eine Mittelschule und ist ebenfalls sportlich aktiv.

1.1.5. Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

1.1.6. Alle Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten bzw. strafunmündig.

1.2. Zu den Lebensumständen der Drittbeschwerdeführerin im Bundesgebiet:

Die Drittbeschwerdeführerin ist eine junge, auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben.

Die Drittbeschwerdeführerin trägt kein Kopftuch und kleidet sich „modern“. Derzeit besucht sie ein Bundesoberstufengymnasium mit naturwissenschaftlichem Zweig. Die Direktorin dieses Gymnasiums und ihr Klassenvorstand attestieren der Drittbeschwerdeführerin, dass sie sich gut in die Klasse integriert habe. In ihren Unterstützungsschreiben heben sie den Fleiß und das außergewöhnliche schulische Engagement der Drittbeschwerdeführerin hervor und würdigen ihre Teilnahme an sportlichen Aktivitäten. In ihrer Freizeit betreibt die Drittbeschwerdeführerin Sport, wie Fahrrad fahren und trifft ihre Freundin. Ebenso ist sie mit männlichen Personen befreundet. Sie beabsichtigt, in Österreich eine Ausbildung zu machen und selbst einer Erwerbstätigkeit als Ärztin für Allgemeinmedizin nachzugehen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Die Drittbeschwerdeführerin ist sich ihrer im Bundesgebiet ermöglichten Freiheiten bewusst und fühlt sich durch diese hier sehr wohl.

Ihre Einstellung steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen und der Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würde die Drittbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen (s. dazu näher die rechtliche Beurteilung 3.4.).

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Hier wird vorausgeschickt, dass die zum Verhandlungszeitpunkt ins Verfahren eingeführten Länderberichte angesichts des in der Zwischenzeit erfolgten Abzuges der internationalen Truppen aus Afghanistan und der erfolgten Machtübernahme durch die Taliban hinsichtlich der politischen Situation und den Kämpfen zwischen (damaligen) Regierungskräften und Taliban nicht mehr aktuell sind. Allerdings sind die Berichte z.B. zum traditionalistisch-religiös geprägten Rollenbild der Frau innerhalb der Gesellschaft und jene zu den Auswirkungen der Covid 19- Pandemie weiterhin heranziehbar, weswegen sie hier dennoch teilweise Eingang in die Sachverhaltsfeststellungen finden.

Hierzu wurden im Verfahren ua. die folgenden Quellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer herangezogen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan aus dem COI-CMS, generiert am 11.06.2021, Version 4, kurz „COI-CMS“ Beilage ./1

-        „Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan“ vom 25.06.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/document/2032387/html Beilage ./2

-        Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan vom 20.08.2021

-        Sonderkurzinformation der Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Afghanistan vom 17.08.2021

-        ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 30. August 2021, abrufbar unter

https://www.ecoi.net/de/laender/afghanistan/themendossiers/allgemeine-sicherheitslage-in-afghanistan/

Konvolut aktueller Medienberichte der letzten Tage

-        über den vollständigen Abzug der US-Truppen, https://apa.at/news/us-truppen-vollstaendig-aus-afghanistan-abgezogen-3;

-        Frauenrechte unter den Taliban Rechte von Frauen in Afghanistan: Gefährlich war es immer Rechte von Frauen in Afghanistan: Gefährlich war es immer (faz.net)

-        Berichte über „standrechtliche Hinrichtungen” durch die Taliban https://apa.at/news/afghanistan-berichte-ueber-standrechtliche-hinrichtungen/ ;

-        Ungewisse Zukunft für Zurückgelassene nach den letzten Evakuierungsflügen; https://orf.at/stories/3226847/

-        UNO: Nahrung für Afghanistan wird bis Ende September knapp https://orf.at/stories/3227027/

ZIB 2 vom 14.09.2021 https://tvthek.orf.at/ zur aktuellen Versorgungslage im Gesundheitswesen und zur Sicherheitslage insbesondere für Frauen

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11.06.2021:

„[…]

COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021, HRW 13.1.2021, UNOCHA 19.12.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, Martins/Parto 11.2020, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse

Letzte Änderung: 11.06.2021

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr "Emirat" wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der "islamischen Regierung" meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021).

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z.B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach "Unmoral" und "Unanständigkeit" fördern (RFE/RL 13.4.2021).

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im "Jihad" der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt (BBC 15.4.2021; vgl. VIDC 26.4.2021). Für die Taliban ist die Errichtung einer "islamischen Struktur" eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert (VIDC 26.4.2021).
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Religionsfreiheit (nochmals Anm: Stand vor dem Machtwechsel)

Letzte Änderung: 11.06.2021

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 19.5.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 19.5.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (USDOS 12.5.2021; vgl. UP 16.8.2019,BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 12.5.2021; vgl. FH 4.3.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 12.5.2021), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 12.5.2021). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 12.5.2021). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 12.5.2021).

Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 12.5.2021). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 12.5.2021; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 12.5.2021).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 12.5.2021).

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 12.5.2021).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates(IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 12.5.2021; vgl. FH 4.3.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 12.5.2021).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 12.5.2021). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 12.5.2021).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 12.5.2021).

In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (USDOS 12.5.2021).

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Schiiten

Letzte Änderung: 11.06.2021

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 19.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 12.5.2021).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.7.2020). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35 % gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren (USDOS 10.6.2020). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019). Nach einer Reihe tödlicher Angriffe des ISKP im März 2020, die sich gegen Sikhs richteten und 25 Personen töteten, verließen etwa 200 Mitglieder der Sikh-Gemeinschaft das Land in Richtung Indien und gaben an, dass sie wegen der mangelnden Sicherheit und des unzureichenden Schutzes durch die Regierung ausgereist seien (USDOS 12.5.2021).

Vertreter der überwiegend schiitischen Hazara-Gemeinschaft sagen weiterhin, dass die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten unzureichend sind. Vertreter der Schiiten sagen, dass sie keine Erhöhung des Schutzes durch die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) festgestellt haben; sie sagen jedoch, dass die Regierung vor großen schiitischen Versammlungen direkt Waffen an die schiitische Gemeinschaft verteilt hat (USDOS 12.5.2021).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.3.2020). Einige Schiiten haben weiterhin hochrangige Positionen in der Regierung inne, darunter der zweite Vizepräsident Sarwar Danish und eine Reihe von stellvertretenden Ministern, Gouverneuren und ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs, abervanders als in den Vorjahren keine Positionen auf Kabinettsebene. Schiitische Führer erklären weiterhin, dass der Anteil der von Schiiten besetzten offiziellen Positionen nicht ihrer Einschätzung der Demographie des Landes entspreche, was sie auf die Marginalisierung von Minderheitengruppen durch die Regierung und das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds zurückführen. Sunnitische Mitglieder des Ulema-Rates erklären jedoch weiterhin, dass Schiiten in der Regierung überrepräsentiert seien, basierend auf sunnitischen Schätzungen des Anteils der Schiiten an der Bevölkerung. Drei ismailitische Muslime waren Mitglieder des Parlaments, einer weniger als 2019, und der Staatsminister für Frieden, Sadat Mansoor Naderi, ist ebenfalls ein ismailitischer Muslim. Führer der ismailitischen Gemeinschaft berichten weiterhin von Bedenken über den, wie sie es nennen, Ausschluss von Ismailis aus anderen Positionen der politischen Autorität (USDOS 12.5.2021).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 8.9.2020; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 12.5.2021).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Letzte Änderung: 11.06.2021

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt (LI 7.4.2021; cf. FH 4.3.2020, AA 16.7.2020, USDOS 12.5.2021). Weder in der afghanischen Verfassung noch im Strafgesetzbuch wird Apostasie erörtert, und daher sollte Apostasie im Einklang mit der Scharia bestraft werden. Eine wichtige Bedingung ist, dass die Ablehnung des Islams und die Konversion freiwillig sein müssen, um als Apostasie zu gelten. Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion gilt als Apostasie und ist sowohl nach der sunnitischen HanafiRechtsprechung als auch nach der schiitischen Jafari-Rechtsprechung verboten (LI 7.4.2021). Die Scharia sieht die Verhängung der Todesstrafe gegen erwachsene, geistig gesunde Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen (LI 7.4.2021; vgl. FH 4.3.2020, AA 16.7.2020, USDOS 12.5.2021). Frauen werden sowohl nach der Hanafi- als auch nach der Jafari-Jurisprudenz anders bestraft als Männer, wobei beide die Auspeitschung und Schläge vorschreiben, um sie zur Rückkehr zum Islam zu bewegen (LI 7.4.2021).

Die Zahl der afghanischen Christen in Afghanistan ist höchst unsicher, die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und mehreren Tausend, allerdings gibt es derzeit keine zuverlässigen Schätzungen über die Zahl der Christen in Afghanistan (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 16.7.2020). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Der Islam spielt eine entscheidende Rolle in der afghanischen Gesellschaft und definiert die Auffassung der Afghanen vom Leben, von Moral und Lebensrhythmus. Den Islam zu verlassen und zu einer anderen Religion zu konvertieren bedeutet, gegen die gesellschaftlichen Kerninstitutionen und die soziale Ordnung zu rebellieren (LI 7.4.2021).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 12.5.2021) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.5.2017: Art. 323).

Christliche Afghanen können ihren Glauben nicht offen praktizieren (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021). Es gibt wenig konkrete Informationen darüber, wie sie ihren Glauben tatsächlich praktizieren; das einzige verfügbare Material, das ihre Situation und Herausforderungen beschreibt, ist bescheiden und anekdotisch. Christliche Afghanen, die sich in der Öffentlichkeit oder über digitale Medien zu ihrem Glauben bekennen, sind ausnahmslos Afghanen, die außerhalb des Landes leben. Es gibt keine Anzeichen für christliche Traditionen, christliche Präsenz oder Kirchengebäude jeglicher Art in Afghanistan. Es gibt derzeit eine einzige offizielle Kirche im Land; die katholische Kirche in der diplomatischen Enklave in Kabul (LI 7.4.2021). Nach Angaben von Landinfo sind weder diese Kirche noch die evangelische Kirche für Ausländer in Kabul, die Community Christian Church of Kabul (CCK), für Afghanen zugänglich. Christliche Afghanen müssen ihren Glauben allein oder in kleinen Gemeinschaften in Privathäusern in so genannten Hauskirchen praktizieren (LI 7.4.2021).

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020); jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 12.5.2021).

Landinfo argumentiert, dass die größte Bedrohung für einen afghanischen Konvertiten das Risiko ist, dass seine Großfamilie von der Konversion erfährt. Wenn das der Fall ist, wird diese versuchen, ihn oder sie davon zu überzeugen, zum Islam zurückzukehren. Dieser Druck kommt oft von den engsten Familienmitgliedern wie Eltern und Geschwistern, kann aber auch Onkel, Großeltern und männliche Cousins betreffen (LI 7.4.2021). Ein Konvertit wird in jeder Hinsicht stigmatisiert: als Repräsentant seiner Familie, Ehepartner, Eltern/Erzieher, politischer Bündnispartner und Geschäftspartner. Weigert sich der Konvertit, zum Islam zurückzukehren, riskiert er, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden und im Extremfall Gewalt und Drohungen ausgesetzt zu sein. Einige Konvertiten haben angeblich Todesdrohungen von ihren eigenen Familienmitgliedern erhalten (LI 7.4.2021; vgl. USDOS 12.5.2021).

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird (AA 16.7.2020). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 4.3.2020). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020).

Die dominierende Rolle des Islam schränkt den Zugang zu Informationen über andere Religionen für die in Afghanistan lebenden Afghanen ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen in Afghanistan das Christentum kennen lernen, ist relativ gering. Normalerweise sind es Afghanen, die im Ausland leben, unter anderem in Pakistan oder im Iran, die mit dem Christentum in Kontakt kommen. In den letzten Jahren jedoch, seit dem Sturz des Taliban-Regimes, ist die internationale Präsenz in Afghanistan beträchtlich und einige Menschen kommen möglicherweise durch ausländische christliche Entwicklungshelfer oder anderes internationales Personal mit dem Christentum in Kontakt. Verschiedene digitale Plattformen haben ebenfalls dazu beigetragen, dass mehr Menschen mit dem Christentum bekannt gemacht werden (LI 7.4.2021).

Die Bibel wurde sowohl in Dari als auch in Paschtu übersetzt. Es konnten keine Informationen gefunden werden, die darauf hindeuten, dass die Bibel in Afghanistan zum Verkauf steht oder anderweitig auf legalem Wege erhältlich ist. Sie ist jedoch in Pakistan und im Iran erhältlich. Mehrere Ausgaben der Bibel wurden von iranischen Verlagen veröffentlicht und sind, wenn auch in begrenztem Umfang, in gewöhnlichen Buchläden im Iran erhältlich (LI 7.4.2021; vgl. LI 2017). Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Plattformen und sozialer Medien sind Informationen über verschiedene Religionen, einschließlich des Christentums, besser verfügbar als in der Vergangenheit. Die Bibel kann sowohl in Dari als auch in Paschtu kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden, ebenso wie anderes christliches Material (LI 7.4.2021).

Apostaten haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Apostaten durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 12.5.2021).

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Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 11.06.2021

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).

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Hazara

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich (erg.: Vor dem Machtwechsel) grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).

Anmerkung: Ausführliche Informationen zu Angriffen auf schiitische Glaubensstätten sind dem Kapitel "Sicherheitslage" zu entnehmen; ausführlichere Informationen zu den Hazara können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden. Informationen zur religiösen Gruppe der Schiiten, die auch andere Volksgruppen umfasst, können dem Unterkapitel "Schiiten" entnommen werden.

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Frauen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (SIGAR 2.2021; vgl. HRW 30.6.2020, STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Dennoch arbeiten Frauen als Gesetzgeberinnen, Richterinnen, Lehrerinnen, Gesundheitsarbeiterinnen, Beamtinnen, Journalistinnen und Führungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Von den etwa 9 Millionen eingeschriebenen Schülern sind 3,5 Millionen Mädchen. Der gesetzliche Rahmen Afghanistans bietet Frauen - zumindest auf dem Papier - viele Schutzmaßnahmen, einschließlich gleicher Rechte für Frauen und Männer (SIGAR 2.2021).Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte e

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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