Entscheidungsdatum
01.10.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs3Spruch
I415 2246668-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hannes LÄSSER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. TUNESIEN, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion XXXX ( XXXX ) vom 25.08.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge: BF), ein Staatsangehöriger von Tunesien, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 14.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
2. Mit Bescheid vom 13.12.2016, Zl. XXXX , wies die das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Tunesien (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt III.). Es wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt IV.) und einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).
3. Der gegen den Bescheid vom 13.12.2016 erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.01.2017, GZ. XXXX , die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt und wurde die Beschwerde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.07.2017, GZ. XXXX , als unbegründet abgewiesen.
4. Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 08.02.2017, rechtkräftig mit 08.02.2017, zu GZ XXXX , wurde der BF nach §§ 27 Abs 1 8. Fall, 27 Abs 2a 2. Fall, 27 Abs 3, 27 Abs 4 Z 1 SMG, § 15 StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt.
5. Mit Bescheid des BFA vom 14.02.2017 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Zudem erließ die belangte Behörde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung und wurde gegen den BF gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
6. Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 06.04.2018, rechtkräftig mit 06.04.2018, zu GZ XXXX , wurde der BF nach § 12 2. Fall, 15 StGB, § 302 Abs 1 StGB sowie § 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt.
7. Mit 25.10.2019 wurde der BF zur Sicherung seiner Abschiebung in Schubhaft genommen und aus dieser am 29.10.2019 aufgrund eines Hungerstreiks wieder entlassen.
8. Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 08.06.2020, rechtkräftig mit 13.06.2020, zu GZ XXXX , wurde der BF nach § 28a Abs 1 5. Fall, Abs 2 Z 3 SMG, § 15 StGB sowie § 27 Abs 1 Z 1 2. Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten, verurteilt.
9. Mit Schriftsatz der belangten Behörde vom 05.03.2021 ("Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme") wurde dem BF zur Kenntnis gebracht, dass beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot, einer Schubhaft sowie einer Abschiebung zu erlassen und ihm die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb von vierzehn Tagen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.
10. Mit Schreiben des BF, eingelangt am 22.03.2021, nahm er Stellung zu den von Seiten des BFA aufgelisteten Fragen. So führte er aus, dass es richtig sei, dass er bereits drei Mal im Bundesgebiet verurteilt wurde, seine Familie in Tunesien lebe, er sich in Österreich seinen Lebensunterhalt durch das Austragen von Zeitungen finanziert habe, er nicht in der Lage sei in seiner Heimat aufgrund seiner Verfolgung einer Arbeit nachzugehen und er derzeit krank sei, da er an Nierensteinen leide und diesbezüglich einer Behandlung bedürfe.
11. Mit dem im Spruch genannten Bescheid wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt I.) erteilt, erließ die belangte Behörde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Zudem wurde ihm gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt V.) gewährt. Zudem wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.).
12. Der Bescheid wurde am 27.08.2021 zugestellt und fristgerecht mit Schriftsatz vom 15.09.2021 die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben.
13. Mit Schriftsatz vom 21.09.2021, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 23.09.2021, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige BF ist tunesischer Staatsangehöriger. Er spricht muttersprachlich Arabisch. Seine Identität steht fest.
Der BF leidet an Nierensteinen. Die Steinlage ist stabil und ist diese ohne weitere Interventionsnotwendigkeiten zu bezeichnen. Ansonsten leidet er an keinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Er ist erwerbs- und arbeitsfähig. Er ist ledig und hat keine Sorgepflichten.
Die Erkrankung des BF steht einer Rückkehr und Abschiebung nach Tunesien nicht entgegen. In Tunesien ist die medizinische Versorgung samt funktionierendem Gesundheitssystem gewährleistet.
Der BF wurde in Tunesien geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise Der BF besuchte in seinem Herkunftsstaat die Pflichtschule. Er absolvierte im Anschluss eine Berufsausbildung als Elektriker und ging seit seinem 16. Lebensjahr seinem Beruf als Elektriker nach. Die gesamte Familie des BF ist in Tunesien aufhältig – dazu zählen eine Schwester und ein Bruder des BF. Ein Cousin lebt in Wien.
Im Jahr 2015 fasste der BF den Entschluss seinen Herkunftsstaat zu verlassen. Dies begründete er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes mit der Armut in seinem Herkunftsland. Er reiste von Tunesien legal auf dem Luftweg in die Türkei aus bis er über den Landweg schließlich Österreich erreichte. Spätestens am 14.08.2015 reiste der BF unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Er war von 10.10.2016 bis 09.06.2017 mit einem Hauptwohnsitz in Österreich behördlich gemeldet. Ansonsten war er lediglich von 31.01.2018 bis 31.07.2018, von 24.01.2020 bis 11.08.2020 und von 11.08.2020 bis heute mit Hauptwohnsitz in einer Justizanstalt gemeldet. Von 25.10.2019 bis 28.10.2019 war er mit Hauptwohnsitz in einem Polizeianhaltezentrum melderechtlich erfasst.
Nach Abschluss des ersten Asylverfahrens kam der BF seiner Verpflichtung zur freiwilligen Ausreise nicht nach.
In Österreich verfügt der BF, bis auf seinen Cousin, über keine familiären Anknüpfungspunkte.
Der BF ging im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nach und bezieht seit dem Jahr 2017 keine Leitungen mehr aus der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig bzw. verfügt nicht über die finanziellen Mittel, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.
Der BF weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.
Der BF wurde insgesamt drei Mal rechtskräftig von einem österreichischen Strafgericht verurteilt:
Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 08.02.2017, rechtkräftig mit 08.02.2017, zu GZ XXXX , wurde der BF nach §§ 27 Abs 1 8. Fall, 27 Abs 2a 2. Fall, 27 Abs 3, 27 Abs 4 Z 1 SMG, § 15 StGB, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt.
Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 06.04.2018, rechtkräftig mit 06.04.2018, zu GZ XXXX , wurde der BF nach § 12 2. Fall, 15 StGB, § 302 Abs 1 StGB sowie § 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten, unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt.
Mit Urteil des LG XXXX für Strafsachen, vom 08.06.2020, rechtkräftig mit 13.06.2020, zu GZ XXXX , wurde der BF nach § 28a Abs 1 5. Fall, Abs 2 Z 3 SMG, § 15 StGB sowie § 27 Abs 1 Z 1 2. Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten, verurteilt.
Diesem Urteil liegt zugrunde, dass der BF in Wien vorschriftswidrig Suchtgift, und zwar Cannabiskraut mit durchschnittlichem Wirkstoffgehalt von zumindest 1,27% Delta-9-THC und 16,77% THCA,
A./
I./ seit ca. April 2019 bis zum 23.01.2020 in einer das Fünfzehnfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, und zwar zumindest 5.000 Gramm, in zahlreichen Angriffen durch gewinnbringenden Verkauf anderen überlassen bzw. zu überlassen versucht hat, und zwar an XXX und weiteren unbekannten Abnehmern zu einem Grammpreis zwischen 8,-- Euro und 10,-- Euro;
II./ am 23.01.2020 XXX und weiteren Abnehmern zu überlassen versucht hat, indem er 74,3 Gramm brutto bereits in 17 verkaufsfertigen Portionen zum unmittelbaren Verkauf mit sich führte, wobei es lediglich deshalb beim Versuch blieb, weil der BF noch vor der Übergabe von der Polizei festgenommen wurde;
B./
am 23.01.2020 135,6 Gramm brutto besessen hat.
Im Zuge der Strafzumessung wertete das Gericht das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen, die zwei einschlägigen Vorstrafen, sowie das Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 StGB (alte Fassung) als erschwerend, als mindernd wurde hingegen das überschießende Geständnis, die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes, die lange Verfahrensdauer (Abzug von zwei Monaten Freiheitsstrafe) sowie, dass es teils beim Versuch geblieben ist, gewertet.
Es wird festgestellt, dass der BF die genannten Straftaten begangen hat.
Der BF befindet sich derzeit in Strafhaft und verbüßt seine Freiheitsstrafe zu GZ XXXX .
1.2. Zur Rückkehrsituation:
Eine Rückkehr des BF nach Tunesien ist möglich und zumutbar und führt nicht dazu, dass er dort in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten würde. Es ist ihm zumutbar wieder in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren, sich dort eine Unterkunft zu nehmen, am Erwerbsleben teilzunehmen und sich daraus sein Einkommen zu sichern und sein Leben in seinem Herkunftsstaat wieder fortzuführen.
Der BF hat zudem die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.
1.3. Zur medizinischen Situation in Tunesien:
Auf Basis des Länderinformationsblattes ist festzustellen:
Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung (einschließlich eines akzeptabel funktionierenden staatlichen Gesundheitswesens) hat das für ein Schwellenland übliche Niveau (AA 19.2.2021). Tunesien hat lange Zeit in das Gesundheitswesen investiert, es gibt in allen Landesteilen staatliche Gesundheitseinrichtungen. Allerdings sind die rund 2.200 Einrichtungen trotz guter medizinischer Ausbildung der Beschäftigten oft in desolatem Zustand (ÖB 1.10.2020; vgl. GIZ 11.2020b). Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist nach einem dreistufigen System organisiert und dringend reformbedürftig: erweiterte Leistung der Bezirkskrankenhäuser, verstärkte Ausstattung der Regionalkrankenhäuser und Ausbau der Uni-Kliniken. Zwar beträgt der Radius zur Erlangung medizinischer Hilfe weniger als 5 km, jedoch ist die qualitative Ausstattung in den öffentlichen Krankenhäusern katastrophal (ÖB 1.10.2020). Es mangelt an Ausstattung und Fachärzten, die vor allem in den Großstädten an der Küste angesiedelt sind. Darunter leiden vor allem bedürftige Patienten. Darüber hinaus gibt es ein weites Netz an Privatkliniken und niedergelassenen Ärzten von oft deutlich besserer Qualität (GIZ 11.2020b). Üblicherweise ist eine weitreichende Versorgung in den Ballungsräumen (Tunis, Sfax, Sousse) gewährleistet; Probleme gibt es dagegen in den entlegenen Landesteilen (AA 19.2.2021). Ein Großteil der Ärzteschaft ist gut ausgebildet (z.T. auch im Ausland) und das Pflegepersonal ist günstig – die Basis für einen zunehmenden Gesundheitstourismus. Eine stark angestiegene Anzahl an Privatkliniken bedient meist Ausländer, u.a. zahlungskräftigen Libyer und Algerier (ÖB 1.10.2020).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Die medizinische Behandlung von HIV-Infizierten bzw. AIDS-Kranken ist sichergestellt; es handelt sich jedoch um ein gesellschaftlich tabuisiertes Thema (AA 19.2.2021).
Aktuell ist die medizinische Versorgung aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht gewährleistet, da die Krankenhäuser ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben (BMEIA 10.3.2021). Gerade die Covid-19-Pandemie hat starke Defizite aufgezeigt (ÖB 1.10.2020).
Tunesien gibt rund 6% seines Staatshaushaltes für das Gesundheitswesen aus. Die staatliche Krankenkasse CNAM ist für die Versicherung zuständig und erstattet Behandlungen in staatlichen Einrichtungen und teilweise auch Behandlungskosten bei niedergelassenen Ärzten. Ähnlich wie in Deutschland wird dabei ein Hausarzt-Modell praktiziert. Auch Medikamente werden teilweise erstattet (GIZ 11.2020b). Beim Aufsuchen eines Arztes muss der Behandlungspreis stets sofort entrichtet werden. Je nach Praxis (Krankenhaus, Klinik, Hospital, Fachgebiet) sind das zwischen 20 und 80 Dinar (ca. 8 bis 30 Euro). 2005 wurden die beiden Krankenkassen (CNSS: Caisse nationale de sécurité sociale und CNRPS: Caisse nationale de retraite et de prévoyance sociale) zur Caisse Nationale d’Assurance Maladie (CNAM) zusammengelegt. Allerdings ist diese Kasse mit ca. 1 Milliarden Dinar hoch verschuldet – fehlende Beitragszahlungen und verteuerte Medikamente sind nur einige der Gründe. Tatsächlich besteht eine Klassengesellschaft innerhalb der medizinischen Versorgung. Nur gut betuchte können sich Privat- und Spezialkliniken oder Ärztezentren leisten, wo die Versorgung hochpreisig, einwandfrei und an westlichen Standards angepasst ist (ÖB 1.10.2020).
Seit dem Sommer 2018 fehlt es immer häufiger an Medikamenten, die auf Grund von Zahlungsschwierigkeiten der Zentralapotheke nicht mehr eingekauft werden (GIZ 11.2020b). In Einzelfällen kann es also - insbesondere bei der Behandlung mit speziellen Medikamenten - Versorgungsprobleme geben. Ein Import dieser Medikamente ist grundsätzlich möglich, wenn auch nur auf eigene Kosten der Patienten. In Einzelfällen ist also eine konkrete Nachfrage bezüglich der Verfügbarkeit der benötigten Medikamente erforderlich, in den allermeisten Fällen sind sie vor Ort problemlos erhältlich (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (10.3.2021): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 10.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, https://www.liportal.de/tunesien/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 10.3.2021
1.4. Zu den sonstigen Feststellungen zur Lage in Tunesien:
Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des BF sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid vom 25.08.2021 getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Im angefochtenen Bescheid wurde das aktuelle „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ (letzte Änderung: 19.03.2021) zu Tunesien vollständig zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung bekannt geworden, sodass das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen vollinhaltlich anschließt und auch zu den seinen erhebt:
COVID-19
Aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19), kommt es zu Einschränkungen im Flug- und Reiseverkehr und es ist mit weitgehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben zu rechnen (BMEIA 10.3.2021; vgl. AA 10.3.2021). Es gilt eine landesweite Ausgangssperre von 22:00 bis 05:00 Uhr, und generell gilt die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes sowie eine Distanzpflicht im öffentlichen Raum (BMEIA 10.3.2021). Nach einem starken Anstieg der Infektionszahlen seit Herbst 2020 ist zuletzt eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen. Tunesien wird als Risikogebiet eingestuft. Regionale Schwerpunkte sind der Großraum Tunis sowie Gabès. Aktuelle und detaillierte Zahlen bieten das tunesische Gesundheitsministerium und die Weltgesundheitsorganisation (AA 10.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.3.2021): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024, Zugriff 10.3.2021
BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (10.3.2021): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 10.3.2021
Politische Lage
Tunesien ist gemäß der Verfassung von 2014 ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Die erste Phase nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali am 14.1.2011 prägten Übergangsregierungen, unterstützt von der "Hohen Instanz zur Verwirklichung der Ziele der Revolution" als Ersatzparlament. Die Verfassung betont den zivilen und rechtsstaatlichen Charakter des Regierungssystems. Sie sieht ein gemischtes Regierungssystem vor, in dem sowohl der Präsident als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt werden. Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik - mit Ausnahme der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in die Zuständigkeit des Staatspräsidenten fallen (ÖB 1.10.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die Verfassung garantiert durch eine stärkere Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs eine bessere Kontrolle der verschiedenen Gewalten. Außerdem wurde die Gleichstellung von Frauen festgeschrieben. Bezüglich der Rolle der Religion einigten sich die Abgeordneten auf einen zwiespältigen Text, der sowohl den zivilen Charakter des Staates sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, als auch den Schutz des Sakralen festschreibt (GIZ 11.2020a).
Tunesien hatte nach dem sogenannten Arabischen Frühling vor zehn Jahren zwar tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet, diese erbrachten allerdings nur teilweise die erhoffte strukturellen Reformen und Veränderungen. Das Land kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß (BAMF 25.1.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Dies gilt vor allem für jene Bevölkerungsschicht, die sich von den Regierungen nach der Revolution eine Verbesserung der Lebensqualität erwartet hatten, indem Ungleichheiten und Benachteiligungen behoben werden. Diese Menschen sehen sich als marginalisiert (Merip.org 16.3.2021).
Im Herbst 2019 fanden zum dritten Mal in Folge freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (AA 16.12.2020a). Die Wahlen verliefen grundsätzlich frei und fair (AA 19.2.2021). Der neue Präsident Kaïes Saïed gilt als unbestechlich und politisch unerfahren. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine sehr konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt (BAMF 21.10.2019). Bei den Parlamentswahlen wurden die traditionellen Parteien abgestraft und viele unabhängige Kandidaten gewählt, was zu einer weiteren Zersplitterung des Parlaments geführt hat. Die muslimisch-konservative Ennahdha-Partei bleibt zwar stärkste Partei, stellt aber nur rund ein Viertel der 217 Abgeordneten im neuen Parlament. Zweitstärkste Kraft ist die Partei Qalb Tounes (Das Herz Tunesiens) des Medienmoguls und Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui (GIZ 11.2020a) mit 30 Sitzen (ÖB 1.10.2020).
Tunesiens designierter Ministerpräsident Habib Jemli hat Anfang 2020 eine Regierung aus unabhängigen Technokraten gebildet, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen (ÖB 1.10.2020; vgl. DS 10.1.2020). Regierungschef Jemli hatte aber nicht genügend Unterstützung für eine Koalitionsbildung bekommen (ÖB 1.10.2020; vgl. DW 21.1.2020). Daher wurde der frühere Tourismus- und Finanzminister Elyes Fekhfekh vom Präsidenten zum designierten Ministerpräsidenten ernannt (ÖB 1.10.2020; vgl. DW 21.1.2020). Dieser konnte eine Regierung bilden, die am 27.2.2020 ihr Amt antrat. Fekhfekh stolperte allerdings über ihm vorgeworfene Interessenskonflikte und musste zurücktreten. Ihm folgte am 1.9.2020 Hichem Mechichi, ein als integer geltender Jurist mit Karriere im öffentlichen Dienst. Er konnte seine Regierung, die er als Experten- und Technokratenregierung versteht, aber ebenfalls nicht ohne Kompromisse mit der islamistischen Ennahda sowie anderen Parteien bilden, deren Ränke- und Machtspiel er somit ausgeliefert ist (ÖB 1.10.2020).
Aktuell kommt es seit Jahresbeginn 2021 regelmäßig zu Protesten und Demonstrationen. Im Jänner 2021 kam es trotz Pandemie-bedingter Ausgangssperren und Versammlungsverbot zu landesweiten Protesten und gewaltsamen Unruhen gegen die Regierung. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften (BAMF 25.1.2021). Im Feber 2021 protestierten Hunderte Menschen gegen die Polizeigewalt (BAMF 8.2.2021) und am 27.2.2021 kam es zu Demonstrationen tausender Unterstützer der regierenden Partei Ennahdha, nachdem diese zum "Marsch zur Verteidigung demokratischer Institutionen" aufgerufen hatte. Hintergrund des Protests ist eine sich zuspitzende politische Krise im Land. Präsident Kaïes Saïed weigerte sich, einer von Ministerpräsident Hichem Mechichi vorgeschlagenen Kabinettsumbildung zuzustimmen, obwohl das Parlament diese bereits abgesegnet hatte. Der Konflikt lähmt die Arbeit der Regierung, die neben der Covid-19-Pandemie auch mit einer schweren Wirtschaftskrise ringt (BAMF 1.3.2021; vgl. DW 27.2.2021).
Die Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 2014 hätte ein entscheidender Meilenstein zur Sicherung des demokratischen Experiments in Tunesien sein können. Die Ennahda war in der Vergangenheit aber nicht in der Lage, wesentliche Land- oder Steuerreformen zu verabschieden, um soziale Ungleichheiten zu beseitigen (Merip.org 16.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.12.2020a): Tunesien: Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/politisches-portrait/219068, Zugriff 5.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.3.2021): Briefing Notes 1. März 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw09-2021.html, Zugriff 5.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (8.2.2021): Briefing Notes 8. Februar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw06-2021.html, Zugriff 5.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (25.1.2021): Briefing Notes 25. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw04-2021.html, Zugriff 5.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (21.10.2019): Briefing Notes 21. Oktober 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020341/briefingnotes-kw43-2019.pdf, Zugriff 27.1.2020
DS - der Standard (10.1.2020): Tunesisches Parlament stimmt gegen Technokraten-Kabinett von designiertem Regierungschef, https://www.derstandard.at/story/2000113173373/tunesisches-parlament-stimmt-gegen-technokraten-kabinett-von-designiertem-regierungschef, Zugriff 13.1.2020
DW - Deutsche Welle (27.2.2021): Politische Krise in Tunesien spitz sich zu, https://www.dw.com/de/politische-krise-in-tunesien-spitzt-sich-zu/a-56726821, Zugriff 5.3.2021
DW - Deutsche Welle (21.1.2020): Regierungsbildung - Alles auf Anfang in Tunesien, https://www.dw.com/de/alles-auf-anfang-in-tunesien/a-52080584?maca=de-rss-de-region-afrika-4022-rdf, Zugriff 23.1.2020
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 4.3.2021
Merip.org (16.3.2021): Tunisia’s Marginalized Redefine the Political, https://merip.org/2021/03/tunisias-marginalized-redefine-the-political/, Zugriff 18.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht zu Tunesien, 1. Oktober 2020
https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 5.3.2021
Sicherheitslage
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach den tragischen Anschlägen im Jahr 2015 auf das Bardo Museum, eine Hotelanlage in Sousse sowie einen Bus der Präsidialgarde und dem schweren Angriff von IS-Milizen auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage verbessert. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren aber auch der inneren Sicherheit (AA 19.2.2021; vgl. AA 8.3.2021, EDA 8.3.2021).
Die Sicherheitslage ist nach wie vor prekär, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei sowie Meldungen über vereitelte Anschläge. Die Sorge vor einer Infiltration durch aus Libyen und anderen Konfliktzonen zurückkehrende Islamisten tunesischen Ursprungs ist groß. Auch mit Hilfe ausländischer logistischer Unterstützung wurden die Grenzkontrollen drastisch verschärft, und es wird auch im Land nach Rückkehrern gefahndet (ÖB 1.10.2020).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 8.3.2021). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 8.3.2021).
Der seit 2015 geltende nationale Ausnahmezustand in Tunesien wurde am 26.12.2020 von Präsident Kaïes Saïed um weitere sechs Monate bis Ende Juni 2021 verlängert. Im Ausnahmezustand verfügen die Sicherheitsbehörden über erweiterte Befugnisse, was zu einer Einschränkung der Bewegungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit führen kann (BAMF 11.1.2021). Es erlaubt den Sicherheitskräften Streiks, Kundgebungen und große Versammlungen zu verbieten, von denen angenommen wird, dass sie zu Unruhen führen. Die Regierung hat diese Maßnahmen aus Sicherheitsgründen als notwendig bezeichnet, aber Analysten haben argumentiert, dass die Maßnahmen Dissens unterdrücken sollen (FH 3.3.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 3.3.2021).
Tunesien erlebt eine Welle landesweiter Streiks und Proteste gegen den COVID-19-bedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit im Land und auch gegen das Versagen des öffentlichen Gesundheitssystems. Regierungs- und öffentliche Gebäude sind beliebte Orte für Streiks und Proteste (AQ 2.2021).
Am 27.6.2019 wurden in Tunis zwei Anschläge gegen die Sicherheitskräfte verübt; eine Person wurde getötet und mehrere wurden verletzt, darunter auch Zivilisten (EDA 8.3.2021; vgl. AA 19.2.2021). Am 4.4.2020 töteten tunesische Sicherheitskräfte in der Provinz Kasserine nahe der Grenze zu Algerien zwei Terroristen die mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Verbindung gebracht werden (BAMF 6.4.2020). Am 20.12.2020 wurde ein Hirte in der zentralwestlichen Provinz Kasserine von militanten Islamisten entführt und enthauptet. Seit mehreren Jahren gilt die Gebirgsregion um die Stadt Kasserine an der Grenze zu Algerien als Rückzugsgebiet für militant islamistische Gruppierungen. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen (BAMF 21.12.2020 ; vgl. CIR 2.2021). Der IS ist seit seinen beiden Anschlägen in Sousse im Jahr 2015, in Tunesien aktiv, hat aber nie eine offizielle Niederlassung im Land erklärt. Seine Aktivitäten beschränken sich auf sporadische Anschläge, meist gegen Sicherheitskräfte in den abgelegenen Regionen des Chaambi-Gebirges, manchmal auch in städtischen Gebieten. Am 7.1.2021 meldete das Innenministerium die Verhaftung eines ranghohen Anführers von al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) (CIR 2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.3.2021): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024, Zugriff 8.3.2021
AQ - Anonyme Quelle (2.2021): Mail an die Staatendokumentation vom 3.2.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (11.1.2021): Briefing Notes, 1. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw02-2021.html, Zugriff 8.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (21.12.2020): Briefing Notes, 21. Dezember 2020, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw52-2020.html?nn=282314, Zugriff 8.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (6.4.2020): Briefing Notes 6. April 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027827/briefingnotes-kw15-2020.pdf, Zugriff 30.6.2020
BMEIA - Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (8.3.2021): Tunesien - Reiseinformationen, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 8.3.2021
EDA - Eidgenössisches Department für Auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (8.3.2021): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/tunesien/reisehinweise-tunesien.html#par_textimage_0, Zugriff 8.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 8.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 8.3.2021
Rechtsschutz / Justizwesen
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021, AA 19.2.2021). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Allerdings schreitet die Justizreform seit der Revolution nur langsam voran (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, GIZ 11.2020a). Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinanderfolgende Regierungen versuchen regelmäßig, Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden 2016 von Tausenden von Juristen gewählt. Bis 2019 waren jedoch weder das Verfassungsgericht, noch seine formell ernannten Mitglieder eingerichtet worden (FH 3.3.2021). Der Oberste Justizrat konnte seine Arbeit als neues Selbstverwaltungsorgan der Justiz erst aufnehmen, nachdem eine Gesetzesänderung die internen Konflikte der Richterschaft neutralisiert hatte. Als nächster Schritt soll die Konstituierung eines ordentlichen Verfassungsgerichts erfolgen. Bislang wacht eine provisorische Instanz über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrem Inkrafttreten (AA 19.2.2021; vgl. ÖB 1.10.2020).
Im Oktober 2020 prüfte das Parlament einen Gesetzentwurf, der Sicherheitskräften Immunität gewähren soll, die tödliche Gewalt anwenden, um einige Versammlungen zu zerstreuen, wenn die Aktion als letztes Mittel angesehen wird. Nationale und internationale Menschenrechtsgruppen sprachen sich heftig gegen das Gesetz aus, das erstmals 2013 vorgeschlagen worden war, das Parlament zog das Gesetz zurück (FH 3.3.2021).
Gesetzlich ist ein faires Verfahren vorgesehen, und die unabhängige Justiz gewährleistet dieses üblicherweise auch in der Praxis. Die gesetzlich garantierten Rechte sind jedoch nicht immer gewährleistet. Es gilt die Unschuldsvermutung. Angeklagte haben das Recht auf einen öffentlichen Prozess sowie auf einen Anwalt, der notfalls aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden muss. Sie haben das Recht, zu Zeugenaussagen Stellung zu nehmen und eigene Zeugen aufzurufen. Sie müssen in Beweismittel Einsicht nehmen können und müssen über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte informiert werden. Des Weiteren muss ihnen ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 9.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html, Zugriff 9.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 9.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
Sicherheitsbehörden
Dem Innenministerium untersteht die Polizei (Exekutivfunktion in Städten) und die Nationalgarde bzw. Gendarmerie (Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und Grenzsicherung). Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es gemäß NGOs vereinzelt zur Misshandlung von Häftlingen kommt (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 11.2020a). Es mangelt an effektiven Strafverfolgungs- und Strafmechanismen bei Vergehen seitens der Sicherheitskräfte, und diesbezügliche interne Untersuchungen sind von einem Mangel an Transparenz geprägt (USDOS 11.3.2020).
Im Oktober 2020 erwog das Parlament einen Gesetzesentwurf, der Sicherheitspersonal, das mit tödlicher Gewalt reagiert, während es Versammlungen zerstreut, Immunität gewährt. Das Parlament zog das Gesetz später zurück, nachdem sich nationale und internationale Menschenrechtsgruppen vehement dagegen ausgesprochen hatten. Berichte über exzessive Gewaltanwendung und Folter durch Sicherheitsbeamte hielten auch 2020 an. Demonstranten prangerten die Gesetzesvorschläge an; es kam zu körperlichen Angriffen und Festnahmen (FH 3.3.2021).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus (AA 19.2.2021).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 9.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
Korruption
Wegen der endemischen Korruption im Land (FH 3.3.3021) nimmt Tunesien auf dem Corruption Perceptions Index von Transparency International (2020) Platz 69 von 180 ein (TI 4.2.2021). Das Land schneidet nach dem Umbruch 2011 schlechter ab als noch unter Ben Ali. Vor allem die sogenannte "kleine" Korruption hat seitdem zugenommen. Im Alltag sind insbesondere Verkehrsdelikte und Verwaltungsangelegenheiten von Korruption betroffen, wo oft bestochen wird, um Verfahren zu beschleunigen oder Strafen zu entgehen (GIZ 11.2020a).
Die Nationale Kommission zur Korruptionsbekämpfung (INLUCC) wurde 2011 gegründet und sollte nach der Verfassung von 2014 durch ein ständiges Gremium, die Kommission für gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung (IBGLCC), ersetzt werden. Obwohl das Gesetz verabschiedet wurde, blieb es inaktiv. Die anhaltende COVID-19-Pandemie hat die Korruption in Tunesien verschlimmert; im Dezember 2020 warnte der INLUCC-Chef, dass die Korruption zunehme (FH 3.3.2021).
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Beamte vor, und die Regierung hat einige Vorkehrungen getroffen, diese Gesetze umzusetzen, obwohl sie nicht immer wirksam sind (USDOS 11.3.2020). Die Instanz zur Korruptionsbekämpfung sensibilisiert für das Thema und übergibt regelmäßig mutmaßliche Korruptionsfälle an die Justiz, wo diese jedoch nicht prioritär behandelt werden (GIZ 11.2020a). Eine Reihe von Verhaftungen und Ermittlungen richteten sich auch gegen Politiker, Journalisten, Polizisten und Zollbeamte. Zu den Vorwürfen gehörten Veruntreuung, Betrug und die Annahme von Bestechungsgeldern (USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 trat der damalige Premierminister Fakhfakh zurück, nachdem Ennahda einen Misstrauensantrag wegen eines Berichts eingebracht hatte. Ende Dezember 2020 wurde der Präsidentschaftskandidat für 2019, Nabil Karoui, der während des Wahlkampfes wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Steuerhinterziehung festgenommen worden war, wegen dieser Vorwürfe erneut verhaftet und blieb bis zum Jahresende in Haft (FH 3.3.2021).
Quellen:
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 9.3.2021
TI - Transparency International (4.2.2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tun, Zugriff 9.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publiziert ihre Ergebnisse ohne Restriktionen durch die Regierung. Regierungsbeamte sind üblicherweise kooperativ und reagieren auf ihre Ansichten (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die seit der Revolution sehr aktiv gewordene Zivilgesellschaft trägt ihren Beitrag zur Anprangerung und Bekämpfung von Missständen bei und hat so schon erfolgreich zu gesetzlichen Veränderungen beigetragen, wie z.B. zur Verabschiedung eines Anti-Rassismus-Gesetzes (ÖB 1.10.2020). Im Juli 2018 verabschiedete das Parlament ein umstrittenes neues Gesetz, welches alle NGOs dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen. Kritiker argumentieren, dass die Gesetzgebung verfassungswidrig sei und die Registrierungspflicht dazu dienen solle, die Überwachung und Aufsicht der Zivilgesellschaft durch die Regierung zu verstärken. Eine Nichtregistrierung kann zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 4.000 US-Dollar führen (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 18.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 9.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
Allgemeine Menschenrechtslage
Die tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthält umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen. Eine ständige Herausforderung bleibt die Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die neue Verfassung (AA 19.2.2021). Im Jahr 2020 machte das Parlament keine Fortschritte bei der Reform von Gesetzen, die Menschenrechte verletzen oder bedrohen (HRW 13.1.2021).
Tunesien verfügt über eine Reihe an Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen. Das Land schneidet allerdings auch nach dem Umbruch in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen regelmäßig schlecht ab. Eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit, Folter von Häftlingen und Attacken gegen Oppositionelle listet der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International auf. Seit dem Sturz Ben Alis hat sich die Situation zwar gebessert, allerdings kommt es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen, so die Internationale Menschenrechtsliga (FIDH) (GIZ 11.2020a).
Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren allerdings grundlegend verbessert. Es wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen und offizielle und informelle Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Meinungs- und Pressefreiheit, sowie auch das Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikationsnetzwerken wurden in den Artikeln 31 und 32 der Verfassung von 2014 ausdrücklich gestärkt. Die Medien berichten - in unterschiedlicher Qualität - frei und offen (AA 19.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die Öffnung der Medienszene hat in den letzten Jahren zum Entstehen einer lebendigen, teilweise wildwüchsigen Medienlandschaft geführt, die Missstände offen thematisiert (AA 19.2.2021).
Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit somit gewährleistet und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen, wie wohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021). Diese Einschränkungen finden sich z. B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen weiterhin mit Strafen rechnen (AA 19.2.2021). Mit der Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere sechs Monate, verfügen nun auch die Sicherheitskräfte über erweiterte Befugnisse, was unter anderem zur Einschränkung der Pressefreiheit führen kann (BAMF 11.1.2021).
Während Online- und Printmedien häufig regierungskritische Artikel veröffentlichen, üben Journalisten und Aktivisten dennoch zeitweise Selbstzensur als Resultat von Gewaltakten gegen Journalisten. Meinungsäußerungen, welche "die öffentliche Ordnung oder Moral verletzen" oder "absichtlich Personen stören, auf eine Art und Weise, die den öffentlichen Anstand beleidigen" stehen weiterhin unter Strafe (USDOS 11.3.2020).
Ebenso existieren weiterhin Einschränkungen bei der Kritik an der Religion. Rechtlich verankert ist dies u.a. in Artikel 6 der Verfassung, der den "Schutz des Sakralen" garantiert. Es kommt immer wieder zu einzelnen Fällen von fragwürdiger Strafverfolgung von Journalisten und freischaffenden Bloggern (AA 19.2.2021). Entsprechende Verfahren gegen Zivilisten werden oft von Militärgerichten geführt – eine Praxis, die von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021). Am 4.5.2020 lud die Kriminalpolizei Emna Chargui vor, nachdem sie auf Facebook einen kurzen Text mit dem Titel "Sura Corona" gepostet hatte, geschrieben und formatiert im Stil eines Koranverses (Sure). Der Staatsanwalt beschuldigte Chargui der "Aufstachelung zum Hass zwischen den Religionen durch feindselige Mittel oder Gewalt" gemäß Artikel 52 des Pressefreiheitsdekret-Gesetzes. Am 17.7.2020 verurteilte ein Gericht der ersten Instanz in Tunis Chargui zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe (HRW 13.1.2021).
Einige Journalisten sind im Zusammenhang mit ihrer Arbeit Druck und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ausgesetzt. Reporter, die über die Sicherheitskräfte berichten, sind weiterhin besonders anfällig für Schikanen und Verhaftungen (FH 3.3.2021). Die Behörden stützten sich auf repressive Bestimmungen des Strafgesetzbuches sowie auf andere Gesetze, um Meinungsäußerungen zu bestrafen, darunter auch Kritik an Amtsträgern. Zwei Social-Media-Aktivisten wurden im April 2020 verhaftet und angeklagt, weil sie sich auf Facebook kritisch über die ihrer Meinung nach unzureichende oder korrupte Reaktion der Regierung auf die durch die Covid-19-Pandemie verursachte finanzielle Notlage äußerten (HRW 13.1.2021; vgl. FH 3.3.2021). Im November 2020 wurde ein Blogger zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich in einem Facebook-Video kritisch über einen Staatsanwalt geäußert hatte (FH 3.3.2021).
Im Vorfeld der Wahlen 2019 äußerten tunesische Journalisten ihre Besorgnis über den Einfluss der Regierung auf die öffentliche Rundfunkanstalt (FH 3.3.2021).
Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 11.3.2020). Zu Einschränkungen kommt es mehrfach aufgrund des weiterhin gültigen Ausnahmezustands. Die Übergänge zwischen legitimen Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits und periodisch auftretenden gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen andererseits sind oft fließend. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Sicherheitsorgane friedliche Versammlungen und Demonstrationen in der Regel zuverlässig schützen, aber bei Rechtsverletzungen auch entsprechend robust auftreten. Nur vereinzelt kommt es dabei zu unverhältnismäßigem Einsatz polizeilicher Mittel (AA 19.2.2021).
Die Versammlungsfreiheit wurde auch unter den COVID-19-bezogenen Notstandsmaßnahmen Ende März 2020 eingeschränkt, die zunächst alle Versammlungen untersagten. Das Protestverbot wurde im November 2020 in eine weitere Anordnung aufgenommen, aber die Beschränkungen für Massenversammlungen wurden in einer Anordnung vom Dezember 2020 wieder gelockert. Dennoch kam es im Mai 2020 zu kleineren Protesten. Ende Juni 2020 protestierten Demonstranten in der Stadt Tataouine gegen die hohe Arbeitslosigkeit und stießen mit den Behörden zusammen, nachdem ein Aktivist festgenommen worden war. Das Innenministerium berichtete von zehn Verhaftungen nach diesen Zusammenstößen. Im Oktober 2020 protestierten Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Tunis gegen einen Gesetzesvorschlag, der dem Sicherheitspersonal Immunität gewähren würde; die Teilnehmer wurden von den Sicherheitskräften körperlich angegriffen und mehrere wurden festgenommen. Andere Demonstrationen verliefen im Laufe des Jahres jedoch ohne gewaltsames Eingreifen (FH 3.3.2021).
Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Zuge der Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche wird derzeit eine Reform des Vereinsrechts vorbereitet, die von der tunesischen Zivilgesellschaft sehr kritisch beobachtet wird, hinsichtlich ihrer abschließenden Gestalt aber noch nicht beurteilt werden kann (AA 19.2.2021).
Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Das Ministerium für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und den Menschenrechten ist für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten zuständig. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (USDOS 11.3.2020). Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die sich kritisch äußerte, weil sie die Bemühungen um eine Übergangsjustiz schwächte. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht im März 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell im Juni 2020. Sie stützte sich dabei auf mehr als 62.000 Beschwerden, die tunesische Bürger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den Staat eingereicht hatten. Tunesische Gerichte prüften zum Jahresende 69 Anklagen und 131 Überweisungen der IVD (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.1.2021): Briefing Notes, 1. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw02-2021.html, Zugriff 10.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 10.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 10.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html, Zugriff 10.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
Religionsfreiheit
98-99% der Bevölkerung sind Muslime – mehr oder weniger praktizierend. Die meisten sind Sunniten. Neben Muslimen leben in Tunesien rund 25.000 Christen (zum Großteil Katholiken), wobei die Gemeinden zum Großteil aus ausländischen Bürgern bestehen, und 1.500 Juden (GIZ 11.2020b; vgl. AA 19.2.2021). Des Weiteren gibt es noch Schiiten und Baha’i (USDOS 10.6.2020).
Der Islam ist offizielle Religion Tunesiens und der Staatspräsident muss laut Verfassung Muslim sein (GIZ 11.2020b; vgl. USDOS 10.6.2020). Allerdings ist die freie Religionsausübung in der Verfassung garantiert (GIZ 11.2020b; vgl. AA 19.2.2021). Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird in Tunesien mit gewissen Einschränkungen gewährt (AA 19.2.2021). Die Verfassung reflektiert das herrschende Gleichgewicht zwischen religiösem und säkularem Lager in Gesellschaft und Politik: Der Islam ist als Religion des Landes anerkannt, aber die islamische Scharia wurde nicht in der Verfassung verankert. Ein ziviler Staat ist die Grundlage der Verfassung, in der ausdrücklich auf die universellen Menschenrechte Bezug genommen wird (AA 19.2.2021; vgl. USDOS 10.6.2020).
Die verschiedenen Religionsgemeinschaften leben in der Regel friedlich zusammen (GIZ 11.2020b).
Bis zur Revolution im Jänner 2011 konnte der Islam über die Befolgung der grundlegenden muslimischen Riten hinaus kaum gesellschaftliche und politische Aktivitäten entfalten. Außerhalb der Gebetszeiten blieben die Moscheen geschlossen. Zudem wurden die Freitagspredigten sowie alle religiösen Gemeinschaften vom Staat überwacht. Mit der Revolution ist der Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes allmählich immer sichtbarer geworden. Das Religionsministerium hat nach eigenen Angaben die Kontrolle über annähernd alle Moscheen des Landes gewonnen und radikalen Imamen Predigtverbot erteilt bzw. diese Prediger abgesetzt. Allerdings hat lediglich eine geringe Anzahl der derzeit an tunesischen Moscheen eingesetzten Imame eine theologische Ausbildung. Die Regierung plant daher nach der Rückgewinnung der Moscheen nun den Fokus auf die Förderung der Imam-Ausbildung zu legen, um sicherzustellen, dass ein zeitgemäßes, umfassendes Islambild in den Moscheen vermittelt wird (AA 19.2.2021).
Es ist rechtlich möglich, vom Islam zum Christentum zu konvertieren. Missionierung und das Verteilen religiösen Materials sind der katholischen Kirche jedoch verboten (AA 19.2.2021). Es gibt erheblichen gesellschaftlichen Druck gegen die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion (USDOS 10.6.2020). Tunesische Konvertiten (einige Hundert im Land) werden innerhalb ihres sozialen und familiären Umfelds zwar zunächst häufig geächtet, mittelfristig aber gesellschaftlich wieder akzeptiert und integriert (AA 19.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020b): Tunesien - Gesellschaft, https://www.liportal.de/tunesien/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2021
USD