TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/18 L502 2245067-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.10.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

18.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3 Abs3 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §6 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L502 2245067-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , staatenlos, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.07.2021, FZ. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I zu lauten hat:

„Der Antrag auf internationalen Schutz vom 07.01.2021 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Z. 2 iVm § 6 Abs. 1 Z. 1 AsylG abgewiesen“.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner illegalen Einreise in das Bundesgebiet am 07.01.2021 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag erfolgte seine Erstbefragung. In der Folge wurde sein Verfahren zugelassen.

3. Am 19.03.2021 wurde er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen.

Dabei brachte er mehrere Beweismittel in Vorlage. Ihm wurde auch das Länderinformationsblatt des BFA zum Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme dazu eingeräumt, worauf er verzichtete.

4. Das BFA veranlasste am 23.03.2021 die Übersetzung der in Kopieform vorgelegten Identitätsnachweise.

5. Am 07.04.2021 kam er der Aufforderung des BFA, seinen Personalausweis im Original vorzulegen, nach.

6. Am 20.04.2021 ersuchte das BFA die Landespolizeidirektion (LPD) Oberösterreich um Überprüfung des Personalausweises auf seine Echtheit.

7. Infolge der Überprüfung seines Personalausweises änderte das BFA die Schreibweise seines Namens.

8. Mit Bescheid des BFA vom 09.07.2021 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde sein Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Palästinensischen Gebiete – Gaza abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die palästinensischen Gebiete – Gaza zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI).

9. Mit Information des BFA vom 12.07.2021 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

10. Gegen den ihm am 13.07.2021 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 30.07.2021, beim BFA eingelangt am 03.08.2021, binnen offener Frist Beschwerde im vollen Umfang erhoben. Mit der Beschwerde wurden weitere Beweismittel in Vorlage gebracht und ein ergänzendes Vorbringen erstattet.

11. Die Beschwerdevorlage des BFA langte am 05.08.2021 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das Beschwerdeverfahren der zuständigen Gerichtsabteilung L502 zugewiesen.

12. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), dem Strafregister, dem Betreuungsinformationssystem sowie dem Zentralen Melderegister (ZMR).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist staatenloser Angehöriger der palästinensischen Volksgruppe und sunnitischer Moslem und stammt aus dem israelischen Autonomiegebiet des sog. Gaza-Streifens (im Weiteren: Gaza). Er wurde in Gaza geboren, wuchs dort auf und wohnte zuletzt bei seinen Eltern in XXXX . Er ist ledig und kinderlos.

Er ist, ebenso wie seine Familienangehörigen, beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert. Vor seiner Flucht bezog er Leistungen der UNRWA (Lebensmittel, Krankenversicherung, medizinische Versorgung, kurzzeitige Beschäftigungsmöglichkeiten). Seine Familie bezieht nach wie vor eine finanzielle Unterstützung der UNRWA.

Ihm wurde von der Palästinensischen Autonomiebehörde in XXXX im Jahr 2010 eine Geburtsurkunde und im Jahr 2019 ein Personalausweis ausgestellt. Von der Palästinensischen Autonomiebehörde in XXXX wurde ihm am 01.10.2019 ein Reisepass ausgestellt.

Er hat in Gaza neun Jahre die Schule besucht. Im Alter von 17 Jahren brach er den Schulbesuch ab und absolvierte eine einjährige Ausbildung zum Fliesenleger in einer von der UNRWA unterstützten Schule. Er war anschließend zwei Jahre als Fliesenleger bei verschiedenen Arbeitgebern erwerbstätig. Die letzten drei Jahre vor seiner Ausreise war er arbeitslos.

In Gaza leben seine Eltern, drei Brüder und zwei Schwestern. Sein Vater ist arbeitslos, seine Mutter ist Hausfrau. Sie leben in einem Eigentumshaus. Zwei seiner Brüder sind ebenso – bedingt durch die aktuellen Pandemieauswirkungen – arbeitslos. Sie leben jeweils mit ihren Familien in eigenen Eigentumshäusern. Sein jüngerer Bruder ist Schüler und lebt bei den Eltern. Im Elternhaus lebt auch eine unverheiratete Schwester. Sie ist nicht erwerbstätig. Seine zweite Schwester ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Gaza. Er steht mit seiner Familie regelmäßig in Kontakt.

Er hat Gaza im Februar 2020 legal, unter Verwendung seines von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellten Reisepasses, auf dem Landweg nach Ägypten verlassen. Dort hielt er sich für zwei Tage auf, ehe er seine Weiterreise legal über den Luftweg in die Türkei fortsetzte. In der Türkei hielt er sich etwa sechs Monate auf. Danach reiste er unrechtmäßig nach Griechenland in das Gebiet der europäischen Union ein. Von dort reiste er über Albanien, Kosovo, Serbien und Ungarn nach Österreich ein, wo er am 07.01.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.

Er spricht Arabisch als Muttersprache. Er verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse und hat keine Sprachkurse besucht oder Sprachprüfungen abgelegt. Er ist gesund und voll erwerbsfähig. Er ist bislang keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich nachgegangen. Er bezieht seit der Einreise bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung und wohnt in einer organisierten Unterkunft für Asylwerber. Er hat in Österreich keine Verwandten und ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Er wurde im Sommer 2014 durch einen Splitter einer Rakete, die von israelischen Streitkräften abgefeuert worden war, verletzt. Seine erlittene Verletzung wurde während eines fünftägigen stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus in XXXX behandelt. Der Raketenanschlag ereignete sich in der Nähe seines Elternhauses, es handelte sich um keinen gezielten Angriff auf den BF.

1.3. Er hat Gaza nicht aufgrund individueller Verfolgung durch Mitglieder der Hamas verlassen und ist auch bei einer Rückkehr nach Gaza nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.

1.4. Er ist bei einer Rückkehr nach Gaza auch aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor. Er leidet unter keinen gravierenden Erkrankungen. Er kann sich nach seiner Rückkehr neben seiner eigenen Erwerbsfähigkeit neuerlich auf die Unterstützung seiner Herkunftsfamilie stützen, was die Bewerkstelligung seines Lebensunterhalts angeht. Er kann auch weiterhin den Beistand der UNRWA in Anspruch nehmen.

1.5. Zur Lage in der Herkunftsregion des BF wird festgestellt:

1.5.1. Die Palästinensischen Gebiete bestehen aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem (AA 6.11.2019a). Palästina hat den Status eines Völkerrechtssubjekts, wird aber von Österreich nicht als Staat im Sinne des Völkerrechts anerkannt (BMEIA 18.3.2020). 137 Staaten erkennen Palästina als unabhängigen Staat an (GIZ 3.2020a). Konkret bedeutet der Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedstaat, den etwa auch der Vatikan innehat, mehr Mitspracherechte bei den Vereinten Nationen. Künftig können die Palästinenser im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung – sofern sie betroffen sind – an Diskussionen teilnehmen und Resolutionen einbringen. Ein weiterer wichtiger Zugewinn ist der Zugang zu Unterorganisationen der UN wie dem Internatio-nalen Strafgerichtshof. Dadurch hätten die Palästinenser das Recht, etwaige Militäroperationen der Israelis in den Palästinensergebieten oder die Siedlungspolitik der israelischen Regierung vor Gericht zu bringen (BPB 30.11.2012). Im Dezember 2014 stimmte das europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit (498 Stimmen dafür, 88 dagegen) für die „Quasi“-Anerkennung Palästinas als Staat. Dieses Votum ist rechtlich nicht bindend, aber es sendet eine starke Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Schweden ist einen Schritt weiter gegangen und hat Palästina offiziell als Staat anerkannt (BBC 17.12.2014).

Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO – Palestinian Liberation Organisation) wurde 1964 gegründet, 1974 als einzig legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes von der UNO anerkannt und erhielt den Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen (VP o.D.; vgl. Britannica o.D.). 1993 kam es zum Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO (BPB 17.7.2011). Im Jahr 1993 folgte die Anerkennung der PLO als einzige Vertreterin der Palästinenser durch Israel (Israel MFA 10.9.1993). Die PLO ist die Dachorganisation für die verschiedenen palästinensischen Parteien und Bewegungen, darunter die Fatah, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Arabische Befreiungsfront, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Palästinensische Befreiungsfront (PLF) und die Palästinensische Volkspartei (PPP). Hamas und Islamischer Dschihad sind nicht in der PLO vertreten (VP o.D.; vgl. SZ 12.1.2018).

Nach dem Erdrutschsieg der Hamas [Anm.: bei den Wahlen im Jahr 2006] begannen die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von Hamas und Fatah, in deren Verlauf Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Ihren Höhepunkt fanden sie im Juni 2007 im Gazastreifen als die Hamas mit Gewalt die Kontrolle über alle Sicherheitseinrichtungen und Regierungsgebäude der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA – Palestinian Authority) übernahm (GIZ 3.2020a). Zahlreiche Mitglieder und Anhänger der Fatah von Palästinenserpräsident Abbas flohen aus Gaza (Spiegel 13.6.2007; FAZ 3.8.2008). Von diesem Zeitpunkt an war Palästina zweigeteilt, in einen von Hamas kontrollierten Gazastreifen und ein von Fatah kontrolliertes Westjordanland. In beiden Gebieten wurden Aktivisten der jeweils anderen Seite inhaftiert und misshandelt, deren Einrichtungen geschlossen, ihre Medien verboten und ihre Demonstrationen aufgelöst. 2012 einigten sich Präsident Mahmoud Abbas und (damaliger) Hamas-Chef Khaled Mashaal in Katar auf die Bildung einer Übergangsregierung unter Leitung von Mahmoud Abbas (GIZ 3.2020a).

Die PA wurde 1994 nach Abschluss der Osloer Verträge zwischen Israel und der PLO gegründet. Am 13.4.2019 wurde die neue PA unter Premierminister Mohammad Shtayyeh vereidigt. Grundpfeiler des politischen Systems sind der Präsident, die Regierung unter Vorsitz eines Premierministers sowie das Parlament, der sogenannte Legislativrat (Palestinian National Council – PLC) mit 132 Sitzen. Das Wahlrecht sieht Verhältniswahl (Landesebene) und Direktwahl (Bezirksebene) vor. Letzte Wahlen in der Westbank und Gaza fanden im Januar 2006 statt; die vierjährige Legislaturperiode ist seit 2010 abgelaufen. Der Legislativrat tagt seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza im Juni 2007 nicht mehr. Am 22.12.2018 hat Präsident Abbas den PLC für aufgelöst erklärt (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019). Parlamentswahlen hätten in den folgenden sechs Monaten stattfinden sollen, was nicht passierte. Die Hamas lehnte die Entscheidung über die Auflösung des PLC ab (FH 4.2.2019). Der Präsident der Palästinensischen Behörde wird vom Volk direkt gewählt. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Januar 2005 statt. Die Amtszeit von Präsident Abbas ist formal seit 2009 abgelaufen (AA 6.11.2019b; vgl. FH 4.2.2019). Präsident Abbas ist auch Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation und Generalkommandant der Fatah-Bewegung (USDOS 11.3.2020). Der Premierminister ist laut Verfassung gegenüber dem Präsidenten und dem Legislativrat für sein Handeln und das Handeln des Kabinetts verantwortlich (GIZ 3.2020a).

Der Gazastreifen steht seit 2007 unter einer Blockade seitens Israel, was sich schwer auf die Wirtschaft auswirkt(e). Der gesamte Waren- und Personenverkehr in und aus dem Gaza-Streifen ist stark eingeschränkt. Die Bevölkerung in Gaza beläuft sich auf 1,9 bis 2 Millionen, von denen etwa 1,57 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge sind (UNRWA 2019; vgl. GIZ 3.2020b).

Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 kam es 2007 zum Bruch zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Im Gazastreifen regiert die Hamas seitdem allein und wird höchstens von noch radikaleren Kräften herausgefordert (DS 17.5.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Obwohl die Gesetze der PA in Gaza formal gültig sind, hat sie nur wenig Autorität, und die Hamas verfügt über die de facto-Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Seit 2007 funktioniert der Gazastreifen als De-facto-Einparteienstaat unter der Herrschaft der Hamas, obwohl kleinere Parteien - darunter der Islamische Dschihad, die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und eine von Präsident Abbas nicht unterstützte Fraktion der Fatah - in unterschiedlichem Maße toleriert werden. Einige dieser Gruppen verfügen über eigene Medien und veranstalten Kundgebungen und Versammlungen. Diejenigen, die mit Präsident Abbas und seinen Unterstützern in der Fatah verbunden sind, sind jedoch der Verfolgung ausgesetzt (FH 4.2.2019). Zivilgesellschaftliche Organisationen in Gaza geben an, dass die Hamas und andere islamistische Gruppen keinen öffentlichen Dissens, keine Opposition und keinen bürgerlichen Aktivismus tolerieren (USDOS 11.3.2020). Am 6. Mai 2017 wurde Ismail Haniyye zum neuen

Vorsitzenden des Politbüros der Hamas gewählt. Er löste damit Khaled Mashaal ab, der das Amt seit 1996 innehatte (GIZ 3.2020a).

In den letzten Jahren sind mehrere Versöhnungsversuche zwischen Fatah und Hamas gescheitert (CGRS 6.3.2020). Am 12. Oktober 2017 unterzeichneten Fatah und Hamas in Kairo erneut ein Versöhnungsabkommen. Nach 2011 und 2014 ist dies der dritte Versuch, den seit mehr als zehn Jahren bestehenden Konflikt zwischen den beiden wichtigsten politischen Bewegungen in Palästina zu überwinden. Am 21. Dezember 2017 erklärte jedoch der Hamas-Chef im Gazastreifen Yahia alSinwar, dass das Abkommen vom 12.10.2017 dabei sei, zu scheitern (GIZ 3.2020a). Die ständige Verschiebung der Wahlen im Gaza-Streifen verhindert jede Möglichkeit für eine Änderung des politischen Status quo. Die Umsetzung des Versöhnungsabkommens von 2017, das schließlich zu Wahlen geführt hätte, scheiterte zum Teil an der Frage der Kontrolle über die innere Sicherheit des Gazastreifens, da die Hamas ihren unabhängigen bewaffneten Flügel und eine dominante Sicherheitsposition im Territorium behalten wollte (FH 4.2.2019; vgl. CGRS 6.3.2020). Die Kontrolle über die Grenzübergänge wurde von der Hamas 2017 auf die PA übertragen (CGRS 6.3.2020; vgl. DS 1.11.2017), wenngleich die Hamas trotzdem über die de facto Kontrolle in Sicherheits- und anderen Angelegenheiten hatte (USDOS 20.4.2018). Im Jänner 2019 zog die PA ihre Mitarbeiter am Grenzübergang zu Ägypten (Rafah) mit der Begründung zurück, dass die Hamas die Arbeit ihrer Mitarbeiter behindere (CGRS 6.3.2020).

Es gibt noch keinen Termin für die nächsten Präsidentschaftswahlen (FH 4.2.2019; vgl. CGRS

6.3.2020). Entscheidungen über die Durchführung von Wahlen sind stark politisiert. Die PA führte 2017 Gemeinderatswahlen im Westjordanland durch, aber die Hamas lehnte angesichts der Streitigkeiten zwischen Hamas und Fatah über die Kandidatenlisten die Teilnahme ab, und im Gazastreifen wurden keine Wahlen abgehalten. Auch bei den letzten Kommunalwahlen 2012 war der Gazastreifen von der Teilnahme ausgeschlossen. Versöhnungs- und Wiedervereinigungsversuche zwischen Fatah und Hamas bleiben weiterhin erfolglos (FH 4.2.2019). Die Fähigkeit palästinensischer Beamter, im Gazastreifen Politik zu machen und umzusetzen, ist durch israelische und ägyptische Grenzkontrollen, israelische Militäraktionen und die anhaltende Spaltung mit der PA im Westjordanland stark eingeschränkt (FH 4.2.2019).

2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht (DS 17.5.2018). Israel hat weiterhin die Kontrolle über Wasser, Elektrizität, Infrastruktur, Grenzübergänge, medizinische Behandlung, Exporte/Importe und viele andere Bereiche des täglichen Lebens. Den Palästinensern kommt keine Souveränität über ihre Ressourcen zu (MEE 13.10.2019). Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 durch Israel, die durch die ägyptischen Beschränkungen an der Grenze zum Gazastreifen noch verschärft wird, schränkt den Zugang der fast zwei Millionen dort lebenden Palästinenser zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Elektrizität ein. Achtzig Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen sind von humanitärer Hilfe abhängig (HRW 14.1.2020; vgl. FH 4.2.2019).

Die EU, Israel und die USA stufen die Hamas als Terrororganisation ein (Zeit Online 28.8.2019). Die Hamas verhaftete in der ersten Jahreshälfte 2019 Hunderte Salafisten. Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat sind im Gazastreifen momentan nicht stark organisiert, aber die Gefahr, dass sie hier Fuß fassen könnten, ist sehr groß (Zeit Online 8.7.2019).

1.5.2. Die Sicherheitslage in Israel und den Palästinensischen Gebieten ist wesentlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt geprägt (AA 25.3.2020). Auch den komplexen Verhältnissen in der Region muss stets Rechnung getragen werden. Bestimmte Ereignisse und Konflikte in Nachbarländern können sich auf die Sicherheitslage im besetzten Palästinensischen Gebiet auswirken (EDA 30.3.2020).

1994 begann Israel einen Grenzzaun zu bauen, der 2000, während der Intifada, attackiert und danach durch eine Sicherheitsbarriere ersetzt wurde. Dabei richtete Israel auch eine Pufferzone auf dem Gebiet des Streifens ein (was ihn noch schmäler macht), in die laut israelischen Einsatzregeln scharf hineingeschossen werden kann. Die Breite der Zone, bis zu 300 Meter, wird variabel festgelegt – dort fanden in der Vergangenheit Aufmärsche statt. 2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedelten Israelis aus dem Gazastreifen ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenzen und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstreit, ob der Gazastreifen noch besetzt ist oder nicht. Die letzten Jahre sind geprägt von einem Wechselspiel von Raketenangriffen auf Israel aus dem Gazastreifen, dem Bau von Schmuggel- und Angriffstunnels – und der immer wieder gelockerten und angezogenen Blockade durch Israel (DS 17.5.2018) sowie israelischen Militäroffensiven (AA 25.3.2020).

Für den Gazastreifen besteht eine Reisewarnung (AA 25.3.2020; vgl. BMEIA 18.3.2020). Die Lage ist äußerst gespannt. Seit Ende März 2018 kommt es immer wieder zu Massenprotesten entlang der Grenze zu Israel. Gewaltsame Konfrontationen zwischen Demonstranten und der israelischen Armee haben zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert (EDA 30.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Seit März 2018 kam es im Gazastreifen regelmäßig zu Demonstrationen entlang des Grenzzauns zu Israel (“Great March of Return“), teils wöchentlich. Viele der Proteste waren mit Gewalt verbunden, es wurden insgesamt mehr als 200 Palästinenser getötet und Tausende verletzt (CIA 15.3.2020). Andere Quellen sprechen von mehr als 180 getöteten Palästinensern, viele durch scharfe Munition der israelischen Streitkräfte. Laut einer NGO wurden im Jahr 2018 in Gaza insgesamt 255 Palästinenser durch israelische Streitkräfte getötet, die höchste Zahl seit den offenen Kampfhandlungen 2014. Viele der Opfer waren zivile Demonstranten in der Nähe des Grenzzauns, andere Todesopfer waren auf israelische Luftangriffe sowie Schusswechsel mit in Gaza ansässigen militanten Kämpfern zurückzuführen (FH 4.2.2019).

Die Kämpfe zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza waren mit unrechtmäßigen Angriffen und zivilen Opfern verbunden. Israelische Streitkräfte feuern weiterhin scharfe Munition auf Demonstranten innerhalb des Gazastreifens ab, die keine unmittelbare Bedrohung des Lebens darstellen, was gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt. Nach Angaben einer palästinensischen Menschenrechtsorganisation haben die israelischen Streitkräfte bei den Protesten im Jahr 2019 bis Ende Oktober 34 Palästinenser getötet und nach Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens 1.883 mit scharfer Munition verletzt (HRW 14.1.2020). Eine weitere Quelle gibt an, dass im Jahr 2019 38 Palästinenser im Rahmen der Proteste entlang des Grenzzauns getötet wurden (USDOS 11.3.2020). Insbesondere werden zahlreiche, mit Brandsätzen ausgestattete Drachen und Ballons eingesetzt, die vom Gazastreifen aus starten und im Nahbereich des Zauns landen. Auch Raketen- und Mörserbeschuss aus dem Gazastreifen heraus auf israelisches Staatsgebiet und israelische Gegenangriffe kommen des Öfteren vor (AA 25.3.2020; vgl. Zeit 28.8.2019).

Die Eskalation des Konflikts im und um den Gazastreifen forderte im Sommer 2014 über 2000 Todesopfer und zahlreiche Verletzte. Am 26. August 2014 ist ein (unbefristeter) Waffenstillstand geschlossen worden. Trotz des Waffenstillstandsabkommens nehmen die Spannungen periodisch zu und führen immer wieder zu Raketenbeschüssen auf israelische Gebiete und zu militärischen Aktionen der israelischen Armee im Gazastreifen, wie z.B. Anfang Mai 2019 (EDA 30.3.2020). Die von Ägypten vermittelte inoffizielle Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas war mehrfach gebrochen worden (Zeit 28.8.2019). Auch in den Monaten Juli, August, Oktober und November 2018 sowie März 2019 hatte es mehrere kleinere Gewaltausbrüche gegeben, die zum Teil zivile Todesopfer zur Folge hatten (HRW 4.2.2020). Palästinensische Kämpfer beschossen Israel mit mehr als 1.340 Raketen und Mörsergranaten, es wurden laut israelischer Regierung fünf israelische Soldaten getötet. Als Reaktion auf diese Angriffe starteten die Israeli Defense Forces im Laufe des Jahres 2019 579 Luftangriffe auf Ziele in Gaza, die nach Angaben der Vereinten Nationen zusammen mit Panzerbeschuss 66 Palästinenser, darunter 10 Minderjährige, töteten (USDOS 11.3.2020).

Nach der Eskalation der Lage zwischen Israel und dem Gaza-Streifen vom 12. und 13. November 2019 (BMEIA 18.3.2020; vgl. DW 13.11.2019) herrscht seit dem 14. November nunmehr ein Waffenstillstand. Ein neuerliches Aufflammen der feindseligen Handlungen kann aber nicht ausgeschlossen werden. In Palästina finden immer wieder Protestmärsche und Kundgebungen statt, im Gaza-Streifen kommt es zudem zu massiven Zusammenstößen mit Todesopfern am Grenzzaun (BMEIA 18.3.2020). Es kommt vor, dass die Grenzübergänge zwischen Israel und dem Gazastreifen vorübergehend und ohne Vorwarnung auf unbestimmte Zeit abgeriegelt werden (EDA 30.3.2020; vgl. AA 25.3.2020). Der Gazastreifen ist seit Juni 2007 für den allgemeinen Personenverkehr von und nach Israel fast vollständig abgeriegelt [Anm.: siehe Kapitel zu Bewegungsfreiheit] (AA 25.3.2020).

1.5.3. Rechtssicherheit wird in Palästina dadurch erschwert, dass immer noch Elemente des osmanischen, britischen, jordanischen, ägyptischen, israelischen (israelische Militärverordnungen) und palästinensischen Rechts (seit 1994) nebeneinander existieren. Darüber hinaus wird in Palästina Gewohnheitsrecht und religiöses Recht (insbesondere im Familienrecht) angewandt. Daneben werden die Beschlüsse des Obersten Palästinensischen Gerichtshofes nicht immer umgesetzt (GIZ 3.2020a). Obwohl die Gesetze der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Gaza formal gültig sind, hat die PA nur wenig Autorität, und die Hamas verfügt über die de-facto-Kontrolle (USDOS 11.3.2020). Die Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas wirken sich auch auf das Justizwesen aus. Nach der Spaltung untersagte die palästinensische Behörde ehemaligen Mitarbeitern der Justizbehörden (und auch der Sicherheitskräfte) im Gazastreifen für die Verwaltung der Hamas zu arbeiten. Sie wurden stattdessen von der palästinensischen Behörde bezahlt, ohne zu arbeiten. Die Hamas stellte Ersatz-Staatsanwälte und Richter ein, die häufig keine entsprechende Ausbildung und Qualifikation für die Aufgaben hatten (GIZ 3.2020a).

Die Gesetze der PA sehen das Recht auf eine unabhängige Justiz sowie einen fairen und öffentlichen Prozess vor. Verfahren sind öffentlich, außer in Sonderfällen, etwa wenn es zum Schutz bestimmter Interessen nötig ist, das Verfahren nicht-öffentlich abzuhalten. Es gilt die Unschuldsvermutung und der Angeklagte hat das Recht, zeitnah über die gegen ihn vorliegende Anklage informiert zu werden. Gemäß Amnesty International werden diese Rechte manchmal nicht gewahrt. Rechtsbeistand ist vorgesehen, auf Kosten des Staates, wenn nötig. Die Angeklagten haben das Recht auf Berufung. Während die PA in der Westbank diese prozeduralen Rechte weitgehend gewährleistet, implementiert sie die Hamas-Behörde im Gazastreifen nur inkonsistent (USDOS 11.3.2020). Dem Gerichtssystem der Hamas gelingt es üblicherweise nicht, einen fairen Prozess zu gewährleisten (FH 4.2.2019).

Die Hamas unterhält ein ad hoc Justizsystem, das getrennt von Strukturen der PA funktioniert. Das System ist politischer Einflussnahme ausgesetzt, Richtern mangelt es an angemessener Ausbildung und Erfahrung (FH 4.2.2019). Die Gerichte der Hamas, sowie deren Richter und Staatsanwälte, werden von der PA als illegal betrachtet. Die Bewohner des Gazastreifens können zivilrechtliche Klagen einreichen, auch wenn es um behauptete Menschenrechtsverletzungen geht; dies ist jedoch selten (USDOS 11.3.2020). Das von der Hamas beaufsichtigte Gerichtssystem gewährleistet im Allgemeinen keine ordnungsgemäßen Verfahren und in einigen Fällen werden Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Hamas, sowie über politisch motivierte Festnahmen. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage gewesen wären, die Hamas als de-facto-Autorität im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 11.3.2020).

Die Israeli Defence Force (IDF) stellt Palästinenser, die wegen Sicherheitsdelikten beschuldigt werden, vor israelische Militärgerichte, denen seitens mancher NGOs vorgeworfen wird, unangemessen und unfair zu sein (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020).

Stammesgerichte spielen in Gaza eine wichtige Rolle für die Stabilität in der Gesellschaft (Al-Monitor 28.3.2018; vgl. GIZ 3.2020a). Die Menschen in Gaza bringen ihre Fälle lieber vor Stammesgerichte, weil diese meist sehr schnell ein Urteil fällen. Die Stammesgerichte stehen nicht im Widerspruch zur offiziellen Gerichtsbarkeit, sie operieren mit Unterstützung der Letzteren. Problematisch ist, das die Stammesrichter (tribal arbitrators) nicht im selben Maße unparteiisch sind wie offizielle Richter (AlMonitor 28.3.2018).

Rechtlich anerkannte religiöse Gruppen sind befugt, über Fragen des persönlichen Status wie Ehe, Scheidung und Erbschaft zu entscheiden. Sie können geistliche Gerichte einrichten, um rechtsverbindliche Entscheidungen über den Personenstand und einige Vermögensfragen für Mitglieder der Religionsgemeinschaft zu treffen (USDOS 21.6.2019).

1.5.4. Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verbietet Folter und die Ausübung von Gewalt gegen Gefangene. Folter und Misshandlungen kommen jedoch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020) bzw. sind weit verbreitet (HRW 29.5.2019; vgl. HRW 10.2018). Sowohl die PA im Westjordanland als auch die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner (HRW 14.1.2020; vgl. HRW 10.2018). In den Haftanstalten sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland kommt es regelmäßig zu Folter durch die Sicherheitsdienste der Hamas und der PA (HRW 10.2018; vgl. USDOS 11.3.2020). Da sich der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas verschärft hat, haben beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen. Die Täter bleiben oft straffrei (HRW 10.2018).

Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen hat die Hamas Dutzende von Palästinensern, die wegen ihrer Teilnahme an der „Bidna Na'eesh“-Bewegung („Wir wollen leben“-Bewegung) verhaftet wurden, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, darunter schwere Schläge, das Brechen von Gliedmaßen, etc. In einem Zeitraum von 18 Monaten bis April 2019 beschwerten sich laut Human Rights Watch (HRW) 213 Palästinenser in Gaza über Folter und Misshandlung durch die Hamas (USDOS 11.3.2020). Eine andere Quelle spricht von 156 Berichten über Fälle von Folter und anderweitigen Misshandlungen im Gazastreifen, die die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (ICHR), die nationale palästinensische Menschenrechtsinstitution, bis Ende November 2019 erhalten hat (AI 18.2.2020).

1.5.5. Die Hamas übt im Gazastreifen die De-Facto-Kontrolle aus und legt der Bevölkerung Restriktionen gemäß ihrer Interpretation des Islam und der Scharia auf (USDOS 21.6.2019). Berichtet wird von ungesetzlichen oder willkürlichen Tötungen; Folter und willkürlicher Inhaftierung durch Beamte der Hamas; willkürlichen oder unrechtmäßigen Eingriffen in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Internetfreiheit; Gewaltandrohungen, Verhaftungen und Verfolgungen von Journalisten; Zensur; Sperren von Websites; wesentlichen Eingriffen in das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit; Einschränkungen der politischen Partizipation; Korruption, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten; Gewalt und Gewaltandrohungen gegen LGBTIPersonen; etc. (USDOS 11.3.2020). Menschenrechtsorganisationen kritisieren außerdem Misshandlungen in Haft, Haft ohne Anklageerhebung und Gerichtsverfahren, Angriffe auf israelische Zivilisten, insbesondere durch selbst gebaute Raketen auf den Süden Israels, Gewalt gegen Frauen und grundsätzlich ein Klima der Rechtlosigkeit und Straffreiheit, besonders bei Aktionen gegen die politischen Gegner. Außerdem wird kritisiert, dass in Palästina weiterhin die Todesstrafe existiert (GIZ 3.2020a).

Es gibt Berichte über willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch die Hamas, sowie über politisch motivierte Festnahmen. In vielen Fällen würden die Gefangenen ohne formelle Anklage oder ordnungsgemäße Verfahren festgehalten. Von willkürlicher Verhaftungen waren vor allem zivilgesellschaftliche Aktivisten, Fatah-Mitglieder, Journalisten und Personen, die die Hamas öffentlich kritisierten, betroffen. Es gibt auch Berichte darüber, dass die Hamas Personen festnahm, welche die Hamas (im Gazastreifen) online kritisierten. Die Hamas nahm auch jene ins Visier, von denen vermutet wird, dass sie Verbindungen zu Israel haben. Im März 2019 nahmen die HamasSicherheitskräfte tausende Palästinenser in Gaza fest, die im Rahmen der „Bidna Na‘eesh“Bewegung („Wir wollen leben“-Bewegung) gegen hohe Preise und schlechte Qualität der [staatlichen] Leistungen demonstriert hatten, darunter zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Sicherheitskräfte der Hamas in Zivilkleidung und Uniformen schlugen, verhörten und folterten Hunderte der Demonstranten. Es gibt keine rechtlichen oder unabhängigen Institutionen, die in der Lage gewesen wären, die Hamas als de facto-Autorität im Gazastreifen zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 11.3.2020).

Auf der anderen Seite beklagen Menschenrechtsorganisationen auch zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch Israel in Palästina. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden vom 19.01.2009 bis zum 31.12.2019 im Westjordanland und im Gazastreifen 3.512 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet, darunter 794 Minderjährige. Bei der israelischen Militäroperation "Protective Edge" im Gazastreifen im Juli/August 2014 kamen nach UN-Angaben mindestens 1.473 Zivilisten ums Leben (GIZ 3.2020). Laut dem Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen wurden seit 1.1.2018 (bis Stand 22.4.2020) im Gazastreifen 374 Palästinenser getötet, 260 davon im Jahr 2018, 108 im Jahr 2019 und sechs bis April 2020. Mehr als 37.000 Palästinenser wurden im Gazastreifen seit 1.1.2018 verletzt, davon 25.177 im Jahr 2018, 11.898 im Jahr 2019 und 36 bis Ende April 2020 (OCHA o.D.). Israels Blockade des Gazastreifens, die den Personen- und Warenverkehr in und aus dem Gebiet einschränkt, hat weiterhin verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechte der in Gaza lebenden Palästinenser. Amnesty International spricht von einer „kollektiven Bestrafung“, die die humanitäre Krise noch weiter verschärft (AI 18.2.2020; vgl. HRW 14.1.2020).

Die Religionsfreiheit ist eingeschränkt. Das Grundgesetz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) erklärt den Islam zur offiziellen Religion Palästinas und besagt, dass "Respekt und Heiligkeit aller anderen himmlischen Religionen (Judentum, Christentum) gewahrt werden sollen". Blasphemie ist ein kriminelles Vergehen. Die Hamas-Behörden setzen konservative sunnitische islamische Praktiken durch und versuchen, politische Kontrolle über Moscheen auszuüben. Sie erzwingen jedoch keine Gebete in Schulen und zwingen Frauen nicht dazu Hidschab zu tragen, wie es in den ersten Jahren der Kontrolle durch die Hamas üblich war (FH 4.2.2019).

1.5.6. Die Behörden der Hamas haben im Gazastreifen allem Anschein nach keine routinemäßigen Einschränkungen der internen Bewegungsfreiheit implementiert, obwohl es einige Gebiete gibt, zu denen die Hamas den Zutritt verwehrte. Der steigende Druck, der Interpretation islamischer Normen der Hamas zu entsprechen, führt im Allgemeinen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen. Durch Kritik an der Hamas, beispielsweise im Internet, riskieren Personen ein Ausreiseverbot aus Gaza (USDOS 11.3.2020).

Die Bewegungsfreiheit der Bewohner des Gazastreifens ist stark eingeschränkt, die Bedingungen haben sich in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Sowohl Israel als auch Ägypten überwachen die Grenzgebiete streng, und die Hamas verhängt ihre eigenen Beschränkungen (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Palästinenser, die nach Gaza zurückkehren, werden regelmäßig von der Hamas über ihre Aktivitäten in Israel, im Westjordanland und im Ausland verhört (USDOS 11.3.2020). Die Hamas erlaubte 2017 die Entsendung von Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) an die Grenzübergänge des Gazastreifens, aber dies führte zu keinen praktischen Veränderungen der Bewegungsfreiheit der Einwohner des Gazastreifens. Korruption und die Zahlung von Bestechungsgeldern an den Grenzübergängen ist üblich (FH 4.2.2019). Palästina verfügt über keinerlei Souveränitätsrechte, was die Einreise und den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern betrifft. Allein zuständig für die Erteilung von Visa ist der Staat Israel (GIZ 3.2020d). Kurzfristige und unangekündigte Totalsperrungen des Gazastreifens sind jederzeit möglich, der Gazastreifen kann dann auch von ausländischen Staatsbürgern nicht verlassen werden (BMEIA 18.3.2020). Israel unterhält eine starke Sicherheitspräsenz rund um die Land- und Meeresgrenzen des Gazastreifens (FH 4.2.2019).

Gemäß NGOs besitzen 40.000 bis 50.000 Personen im Gazastreifen keine Identifikationskarten, die von Israel anerkannt werden. Einige dieser Personen sind im Gazastreifen geboren, aber Israel

hat sie nie als Einwohner Gazas anerkannt, andere wiederum waren im Krieg von 1967 aus Gaza geflohen oder hatten Gaza nach 1967 aus verschiedenen Gründen verlassen und sind später zurückgekehrt. Eine kleine Gruppe ist in Gaza geboren und nie von dort weggegangen und besitzt ausschließlich Identifikationskarten, die von der Hamas ausgestellt wurden. Gemäß den Osloer Abkommen verwaltet die PA das palästinensische Bevölkerungsregister, obwohl Statusänderungen im Register der Zustimmung der israelischen Regierung bedürfen. Die israelische Regierung hat seit dem Jahr 2000 keine Änderungen des Registers mehr vorgenommen. Die israelischen Behörden erlauben einem Elternteil aus der Westbank nur dann Zugang zu ihrem Kind in Gaza, sofern es keine anderen Verwandten im Gazastreifen hat (USDOS 11.3.2020).

Reise von/nach Israel und die Westbank:

Israel schränkt den Personen- und Warenverkehr in den und aus dem Gazastreifen pauschal ein (HRW 14.1.2020). Israel verweigert den Einwohnern des Gazastreifens oft aus Sicherheitsgründen die Erlaubnis, das Gebiet zu verlassen, und erlaubt nur bestimmten medizinischen Patienten und anderen Personen die Ausreise (FH 4.2.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Universitätsstudenten haben Schwierigkeiten, die notwendigen Genehmigungen zu erhalten, um das Gebiet zu verlassen und im Ausland zu studieren (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Der Gaza-Streifen ist seit Juni 2007 für den allgemeinen Personenverkehr von und nach Israel fast vollständig abgeriegelt. Der einzige Personenübergang zwischen Israel und dem Gaza-Streifen, Erez, ist zurzeit insbesondere für humanitäre Fälle und internationale Organisationen geöffnet (AA 25.3.2020). Es kommt vor, dass die Grenzübergänge zwischen Israel und dem Gazastreifen vorübergehend und ohne Vorwarnung auf unbestimmte Zeit abgeriegelt werden (EDA 30.3.2020; vgl. AA 25.3.2020). Die Einreise nach Israel aus dem Gazastreifen via Erez-Checkpoint ist nur möglich, wenn die Ausreise aus Israel nach Gaza ebenso dort erfolgte. Personen, die nach Gaza über Rafah (Ägypten) einreisen, müssen wieder über Rafah ausreisen (BMEIA 18.3.2020; vgl. AA 25.3.2020). Im Jahr 2019 verließen insgesamt 191.830 Menschen den Gazastreifen via Erez Richtung Israel, also im Durchschnitt rund 16.000 pro Monat oder ca. 530 täglich (OCHA o.D.; vgl. HRW 14.1.2020).

Reisen von/nach Ägypten:

Der Grenzübergang Rafah, zwischen Ägypten und dem Gazastreifen, ist außer an Wochenenden und islamischen Feiertagen grundsätzlich geöffnet (AA 25.3.2020), eine andere Quelle spricht jedoch davon, dass er von Ägypten nur sporadisch für wenige Stunden geöffnet wird (BMEIA 18.3.2020). Der Grenzübergang kann dann nach Angaben der ägyptischen Behörden regulär nur von Palästinensern mit gültigen Ausweispapieren der PA benutzt werden. Für die Ausreise aus dem Gazastreifen bedarf es der Zustimmung der ägyptischen und palästinensischen Grenzbehörden. Hier kann es auch bei erst kürzlich erfolgter Einreise zu Wartezeiten von mehreren Wochen bis zur Ausreise kommen (AA 25.3.2020). Politische Entwicklungen in Ägypten haben direkte Auswirkungen auf den Gazastreifen, indem die ägyptischen Behörden die Grenze ohne Vorwarnung auf unbestimmte Zeit abriegeln (EDA 30.3.2020).

Ab Mai 2018 lockerte Ägypten seine Beschränkungen für den Grenzübergang Rafah teilweise (FH 4.2.2019), schränkt den Personen- und Warenverkehr jedoch immer noch ein (HRW 14.1.2020). Es ist für Einzelpersonen nach wie vor äußerst schwierig, die Genehmigung der Hamas-Regierung zur Ausreise und zur Abfertigung durch die ägyptischen Behörden zu erhalten, und die Zahl der monatlichen Grenzübertritte bleibt im historischen Vergleich gering (FH 4.2.2019). Im Jahr 2019 überquerten durchschnittlich 12.172 Palästinenser monatlich die Grenze in beide Richtungen, was einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vorjahren bedeutet (OCHA o.D.; vgl. HRW 14.1.2020).

1.5.7. Von den etwa 13,35 Millionen Palästinensern weltweit Ende 2019 leben circa 2 Millionen im Gazastreifen. Davon sind ungefähr zwei Drittel Palästina-Flüchtlinge, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betreut werden (GIZ 3.2020c). Von diesen leben wiederum ca. 600.000 in den acht anerkannten palästinensischen Flüchtlingslagern in Gaza. Diese Lager weisen eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt auf (UNRWA 1.1.2018). UNOCHA schätzt, dass im Jahr 2019 700 Personen in Gaza in Zusammenhang mit drei Zwischenfällen zwischen bewaffneten palästinensischen Gruppen und Israel vertrieben wurden. Weitere Personen in Gaza blieben aufgrund der durch den Krieg 2014 verursachten Zerstörung intern vertrieben (USDOS 11.3.2020), OCHA berichtet mit Stand April 2019 von über 12.000 Palästinensern, die während der Kämpfe zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Jahr 2014 ihre Heimat verloren haben (HRW 14.1.2020).

UNRWA beschäftigt über 13.000 Mitarbeiter in über 300 Einrichtungen im gesamten Gazastreifen und bietet registrierten palästinensischen Flüchtlingen Bildung, Gesundheits- und psychiatrische Versorgung, Hilfs- und Sozialdienste, Mikrokredite und Nothilfe (UNRWA 1.1.2018). UNRWA bietet auch kurzzeitige Beschäftigungsmöglichkeiten, hier werden Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, Personen mit Behinderungen oder jene, die keine andere Möglichkeit auf ein Einkommen haben, priorisiert. UNRWA bietet außerdem Hilfe im Bereich Wasser und Hygiene (UNRWA o.D.). Die Zahl der Palästina-Flüchtlinge, die von Nahrungsmittelhilfe der UNRWA abhängig sind, ist von weniger als 80.000 im Jahr 2000 auf fast eine Million gestiegen (UNRWA 1.1.2018). Die Verschlechterung der sozioökonomischen Bedingungen im Gazastreifen während des Jahres [2019] hat die Flüchtlinge schwer getroffen. Laut UNRWA ist die Ernährungssicherheit weiterhin gefährdet (USDOS 11.3.2020). Etwa 75 Prozent aller palästinensischen Flüchtlinge in Gaza verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um ihren Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken (UNRWA o.D.). Die Einfuhrbeschränkungen Israels für bestimmte Waren, von denen eine zivile wie militärische Verwendbarkeit angenommen wird, behindern weiterhin humanitäre Einsätze in Gaza, u.a. im Bereich der Flüchtlingshilfe (USDOS 11.3.2020).

UNRWA war 2019 mit Finanzierungsengpässen konfrontiert (USDOS 11.3.2020). Im Herbst 2018 hat US-Präsident Trump die Hilfen für UNRWA eingestellt. Die USA hatten bis dahin 30 Prozent zum UNRWA-Budget beigesteuert, so viel wie kein anderes Land. Es mussten Einsparungen vorgenommen werden. Im vergangenen Jahr musste UNRWA in Gaza aufgrund von Geldmangel zum Beispiel das dringend benötigte psychologische Unterstützungsprogramm in Schulen und Gesundheitszentren dramatisch einschränken (Zeit 8.7.2019). Es gibt neben UNRWA auch andere humanitäre Organisationen, die IDPs in Gaza versorgen, es gibt aber Einschränkungen aufgrund der israelischen Beschränkung der Bewegungsfreiheit, bzw. des Zugangs zu den Grenzen (USDOS

11.3.2020).

1.5.8. In den Jahren der vollständigen israelischen Besatzung ist die palästinensische Wirtschaft ein reiner Zulieferbetrieb für Israel, eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung gibt es nicht. Auch nach der Schaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) blieb die wirtschaftliche Entwicklung von Israel abhängig. Bis heute sind alle Exporte und Importe von der Zustimmung und Genehmigung der israelischen Behörden abhängig (GIZ 3.2020e). Die Blockade des Gazastreifens seit 2007 durch Israel, die durch die ägyptischen Beschränkungen an der Grenze zum Gazastreifen noch verschärft wird, schränkt den Zugang der fast zwei Millionen dort lebenden Palästinenser zu Bildung, wirtschaftlichen Möglichkeiten, medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Elektrizität ein. 80 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen sind von humanitärer Hilfe abhängig (HRW 14.1.2020; vgl. FH 4.2.2019). Zwei Drittel der Bevölkerung Gazas sind palästinensische Flüchtlinge, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) betreut werden (GIZ 3.2020e). Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge, die auf die Nahrungsmittelhilfe von UNRWA angewiesen sind, ist von weniger als 80.000 im Jahr 2000 auf heute fast eine Million gestiegen (UNRWA 1.1.2018).

Israelische Behörden schränken den Verkehr von Material, Waren und Personen in den und aus dem Gazastreifen ein (USDOS 11.3.2020), sowohl auf dem Land- als auch auf dem Seeweg. Für den Waren- und Personenverkehr nach bzw. aus Gaza gibt es drei Grenzübergänge: Rafah, Erez und Kerem Shalom (UNRWA o.D.). Kerem Shalom ist der einzige vom Handel genutzte Grenzübergang für den Warenverkehr zwischen dem Gazastreifen und Israel und damit de facto auch für das Westjordanland, obwohl er nie für diese Funktion ausgelegt war. Im Februar 2018 öffnete Ägypten den Grenzübergang Salah a-Din. Der Übergang wird von privaten Unternehmen auf beiden Seiten unter der Aufsicht des ägyptischen Militärs bzw. der Hamas-Behörden im Gazastreifen verwaltet. Er wird nur für den Warentransfer in eine Richtung, nach Gaza, und in begrenztem Umfang genutzt (Gisha 3.2020).

Die Versorgungslage im Gazastreifen ist schwierig (AA 25.3.2020). Die Wirtschaft des Gazastreifens befindet sich infolge der Blockade im freien Fall und im Zuge der Eskalationen der Feindseligkeiten in den Jahren 2008, 2012 und 2014 wurden die grundlegende Infrastruktur, die Erbringung von Dienstleistungen, und die Lebensgrundlagen weiter zerstört. Die Situation hat sich durch eine Spaltung zwischen der PA im Westjordanland und den de facto Behörden der Hamas im Gazastreifen weiter verschlechtert (z.B. 2017 Kürzung der Gehälter aller PA-Mitarbeiter im Gazastreifen um 30 bis 50 Prozent, Verzögerung von Bargeldhilfen für über 74.000 gefährdete Haushalte) (Oxfam 1.2020; vgl. UNRWA 1.1.2018; vgl. FH 4.2.2019).

Der Zugang zu sauberem Wasser und Elektrizität ist nach wie vor krisenanfällig und wirkt sich auf fast jeden Aspekt des Lebens in Gaza aus. Sauberes Wasser ist für 95 Prozent der Bevölkerung nicht verfügbar (UNRWA 1.1.2018; vgl. GIZ 3.2020b). Durch die israelische Abriegelung des Gazastreifens seit Juni 2007 ist es schwierig, Geräte und Material für die Wiederinstandsetzung der Wasserinfrastruktur in den Küstenstreifen zu bekommen (GIZ 3.2020b). Im Jahr 2019 begann der Bau einer vierten Wasserleitung von Israel nach Gaza, aber es war nicht klar, wie viel zusätzliches Wasservolumen die Rohre in Gaza aushalten, denn die Wasserinfrastruktur wird von der Hamas nicht gewartet. Die Rohre könnten bersten. Es gab indirekte Gespräche zwischen Hamas und Israel über eine dritte Partei, einen Teil der Wasser- und Abwasserinfrastruktur zu erneuern, denn diese steht vor dem Kollaps. Abwässer werden ungefiltert ins Mittelmeer oder auf die Straßen gepumpt, wodurch Befürchtungen vor der Verbreitung von Krankheiten bestehen (TI 7.7.2019). Überflutungen sind eines der vielen Probleme des Wasser-, Sanitär- und Hygienebereichs in Gaza, zu welchem drei Viertel der Bevölkerung (1,5 Millionen) täglich Beschränkungen beim Zugang erleben. Im Jahr 2019 konnten nur 11 Prozent der benötigten Gelder für Verbesserungen in diesem Bereich in einem Spendenaufruf aufgebracht werden (OCHA 17.12.2019). Durch die Verbesserung der Stromversorgung [Anm.: d.h. die externe Zufuhr von Strom oder Treibstoff für die Stromproduktion] seit Oktober 2018 verbesserten sich auch die Wasser- und Sanitärversorgung und verringerten sich die Ausgaben für Treibstoff [Anm.: für Stromgeneratoren] für Firmen und Haushalte. Allerdings kann das Leitungswasser nicht zum Kochen oder Trinken verwendet werden. 90 Prozent der Haushalte von Gaza kaufen daher Wasser von Wasserentsalzungs- und Reinigungsanlagen, das von Tankwägen geliefert wird. Diese Anlagen können durch die Verbesserung der Stromversorgung mehr produzieren. Aber das trinkbare Wasser ist zehn bis 30 Mal teurer als Leitungswasser und stellt für verarmte Familien eine finanzielle Last dar (OCHA 6.9.2019).

Die öffentliche Stromversorgung ist auf wenige Stunden am Tag beschränkt (AA 25.3.2020), jedoch hat sich die Verfügbarkeit von Elektrizität vergleichsweise verbessert - von 4 bis 5 Stunden pro Tag auf durchschnittlich bis zu 12 Stunden pro Tag in den ersten zehn Monaten des Jahres 2019 (HRW 14.1.2020; vgl. UNRWA 1.1.2018). Der anhaltende Strommangel beeinträchtigt jedoch die Verfügbarkeit wesentlicher Dienstleistungen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Wasser und sanitäre Einrichtungen, stark, und wirkt sich auch negativ auf die Wirtschaft, vor allem im Herstellungssektor und in der Landwirtschaft, aus (UNRWA 1.1.2018). Treibstoffmangel wirkt sich auch auf andere öffentliche Dienstleistungen, wie Kläranlagen, aus (AA 25.3.2020). Der uneinheitliche Zugang zu Treibstoff- und Elektrizitätsimporten aufgrund der Politik Israels, der PA und Ägyptens behindert alle Formen der Entwicklung im Gazastreifen (FH 4.2.2019). Seit Verhängung der Blockade durch Israel sank die Zahl der Unternehmen in Gaza von 3.500 auf 250. Mehr als 600 Fabriken wurden geschlossen. Aufgrund von drei großen militärischen Angriffen übersteigt die Produktionskapazität der verbleibenden Einrichtungen nicht mehr als 16 Prozent der früheren Kapazität. Es wird geschätzt, dass der Privatsektor in Gaza in diesem Zeitraum Verluste in Höhe von etwa 11 Milliarden Dollar erlitten hat (EMHRM 1.2020). Die Blockade Gazas schränkt die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes massiv ein, unter anderem durch die Beschränkung der Einfuhr von Baumaterial. Die israelischen Behörden verhinderten die Bewirtschaftung von landschaftlich nutzbaren Flächen nahe dem Grenzzaun und für palästinensische Fischer wurde der Zugang zu Küstengewässern eingeschränkt (FH 4.2.2019).

Die Zerstörung der Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Ägypten seit Juli 2013, die seit der Verhängung der israelischen Blockade im Jahr 2007 den Haupthandelsweg des Küstenstreifens darstellten, wirkte sich in starkem Maße negativ auf die Wirtschaft des Gazastreifen aus. Darüber hinaus hatte die israelische Militäroperation "Protective Edge" im Juli/August 2014 im Gazastreifen verheerende Auswirkungen auch auf die dortige Wirtschaft. Die PA beziffert die Kosten für Nothilfe und Wiederaufbau alleine der durch die israelische Militäraktion entstandenen Schäden und direkten Auswirkungen auf 4 Mrd. US-Dollar (GIZ 3.2020e). Bis Ende 2018 war nur ein Bruchteil der während des Konflikts von 2014 beschädigten oder zerstörten Häuser wieder aufgebaut worden und fast 20.000 Menschen waren im Laufe des Jahres binnen vertrieben. Ein Problem für die Privatwirtschaft stellen die anhaltenden israelischen Einfuhrverbote für viele Rohstoffe dar (FH 4.2.2019). Die israelischen Beschränkungen für die Lieferung von Baumaterialien nach Gaza, und der Mangel an Finanzmitteln behindern den Wiederaufbau von Häusern, die während der israelischen Militäroperationen beschädigt oder zerstört wurden (HRW 14.1.2020).

Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung Gazas ist jünger als 15 Jahre, die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent, circa 67,5-70 Prozent bei der Jugend, 85 Prozent bei den Frauen – Weltrekord. 2018 schrumpfte die Wirtschaft um 6,9 Prozent (LMD 12.9.2019; vgl. EMHRM 1.2020; vgl. GIZ 3.2020e). UNRWA bietet ein „Cash-for-Work-Programm“ an, bei dem für Hilfstätigkeiten wie Lebensmittelverteilung drei Monate lang bis zu 400 Dollar gezahlt werden. Eine Viertelmillion Menschen stehen auf der Warteliste, denn bezahlte Jobs gibt es kaum (SZ 3.12.2019). Die Wirtschaft des Gazastreifens stand Ende 2018 aufgrund der anhaltenden israelischen Blockade, des jüngsten Rückgangs der Gesamthilfe durch Spendengeber [Anm.: siehe dazu auch Kapitel 17. IDPs und Flüchtlinge] und der Reduzierung der Budgettransfers von der PA am Rande des Zusammenbruchs (FH 4.2.2019). Die Armutsrate beträgt circa 54 Prozent – mehr als doppelt so viel als im Westjordanland. Mehr als 71 Prozent der Familien sind von Ernährungsunsicherheit betroffen (EMHRM 1.2020). Das Durchschnittseinkommen pro Tag lag im 3. Quartal 2019 bei den abhängig Beschäftigten im Gazastreifen bei 62,6 NIS (umgerechnet 15,33 Euro). Im Gazastreifen verdienten im 4. Quartal 2019 80 Prozent aller im Privatsektor arbeitenden Palästinenser weniger als das Gesetz zum Mindestlohn in Palästina festlegt (1.450 NIS, ca. 376,72 Euro pro Monat). Im 2. Quartal 2019 waren 36,8 Prozent aller Beschäftigten im Gazastreifen im öffentlichen Sektor tätig, die öffentliche Verwaltung ist damit im Gazastreifen der größte Arbeitgeber. Die öffentliche Verwaltung hat auch den größten Anteil am BIP des Gazastreifens (GIZ 3.2020e). Der Hamas wird Korruption bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und der Verteilung von Hilfsleistungen vorgeworfen (FH 4.2.2019).

(Quelle: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, 29.04.2020)

Es herrscht aktuell in Gaza kein landesweiter bewaffneter Konflikt zwischen den genannten Konfliktparteien, der für die Bewohner insgesamt einen Aufenthalt unzumutbar machen würde.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF und der von ihm vor der Behörde vorgelegten Beweismittel, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes einschließlich der mit der Beschwerde vorgelegten Beweismittel sowie durch Einholung von Auskünften des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters, des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister und des Grundversorgungsdatensystems.

2.2. Die Feststellungen zu seiner Identität, seiner Zugehörigkeit zur palästinensischen Volksgruppe sowie seiner Staatenlosigkeit wie auch seiner Registrierung bei der UNRWA stützen sich auf die von ihm vorgelegten nationalen Identitätsdokumente sowie die vorgelegte Ablichtung der Registrierungsbestätigung der UNRWA (AS 85).

Den behördlich veranlassten Übersetzungen der Geburtsurkunde und des Personalausweises war zu entnehmen, dass diese Dokumente von der Palästinensischen Autonomiebehörde in XXXX ausgestellt wurden (AS 77, 79). Aus dem im Behördenakt einliegenden Lichtbild seines Reisepasses (AS 87) ging hervor, dass dieser am 01.10.2019 von der Palästinensischen Autonomiebehörde in XXXX ausgestellt wurde.

Die Feststellungen zu seiner Religionszugehörigkeit, seinen familiären, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, seinem Bildungsniveau und seiner Erwerbstätigkeit im Herkunftsstaat vor der Ausreise, zu seinen Reisebewegungen seit der Ausreise aus Gaza, zu den Lebensumständen seiner Herkunftsfamilie in Gaza, zu seinem Gesundheitszustand, zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit, zu seinen Sprachkenntnissen, zum Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und zu seinem Aufenthalt im Bundesgebiet ergaben sich in schlüssiger und unstrittiger Weise in der Zusammenschau seiner eigenen Angaben vor dem BFA, dem Inhalt der von ihm vorgelegten Urkunde (Berufsausbildungsnachweis AS 91 und 107) und den vom BVwG eingeholten Informationen der genannten Datenbanken.

Die Feststellung, dass er ledig ist, ergab sich aus seinen Angaben im Rahmen der behördlichen Einvernahme. Dort brachte er vor nicht verheiratet zu sein. Zum Umstand seiner angeblichen Verlobung machte er widersprüchliche Angaben. So gab er zwar zunächst an verlobt zu sein, verneinte dies aber nur eine Frage später (AS 42), sodass seiner zuletzt gemachten Aussage gefolgt wurde. Darüber hinaus wurde die gleichlautende Feststellung der Behörde von ihm nicht bestritten.

Die Feststellung, dass er mit seiner weiterhin in Gaza wohnhaften Herkunftsfamilie regelmäßig in Kontakt steht, ergab sich ebenso aus seinen Angaben (AS 44).

2.3. Die Feststellungen unter 1.2. stützen sich auf die niederschriftlichen Angaben des BF in seiner Erstbefragung und seiner Einvernahme vor dem BFA sowie auf die einschlägigen Länderberichte.

Bereits in der Erstbefragung gab er zum Fluchtgrund befragt an, dass „wir“ (gemeint offenbar: die Bevölkerung in Gaza) immer von der jüdischen Seite angegriffen werden würden und er bei einem Raketenangriff verletzt worden sei (AS 10). Bei der behördlichen Einvernahme gab er ausdrücklich an, dass es sich bei dem Raketenangriff am 25.07.2014, welcher zu seiner Verletzung geführt und sich in der Nähe seines Elternhauses ereignet habe, um keinen gezielten Angriff auf ihn gehandelt habe („nein, es war kein gezielter Raketenschuss. Israel schießt willkürlich weil Hamas auch Israel beschießt.“ AS 48). Den Länderberichten war zu entnehmen, dass es im Sommer 2014 zu einer Eskalation des Konflikts zwischen Israel und den bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza kam und dieser Konflikt mehrere Todesopfer und Verletzte forderte. Seine Angaben standen sohin im Einklang mit den Länderberichten und waren als glaubhaft anzusehen.

Im Zuge der Beschwerdeerhebung legte er einen Krankenhausbericht hinsichtlich einer Verletzung als Beilage ./C vor. Ein konkretes Vorbringen zu dieser Beilage war dem Beschwerdeschriftsatz nicht zu entnehmen. Auf diesem nicht übersetzten Dokument war eine Stampiglie mit dem Datum „24-9-14“ sowie eine Unterschrift mit der Datumsangabe „24/9/014“ ersichtlich (AS 226). Der BF gab in der Einvernahme an, dass sich der Raketenangriff am 25.07.2014 ereignet habe und er aufgrund der dadurch erlittenen Verletzung fünf Tage stationär in einem Krankenhaus untergebracht worden sei (AS 48). Trotz dieser – nicht entscheidungswesentlichen – Datumsdivergenz wurden seine Angaben vom BVwG dennoch als wahr unterstellt, sodass auch eine mündliche Verhandlung zu deren Erörterung unterbleiben konnte (vgl. dazu VwGH 28.04.2015, Ra 2014/19/0145, VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0161 und VwGH 29.06.2017, Ra 2017/21/0065). Da die Verletzung durch einen willkürlichen Raketenangriff als wahr unterstellt wurde, bedurfte es keiner Übersetzung des vorgelegten Krankenhausberichtes.

2.4. Zu den Feststellungen unter 1.3. gelangte das erkennende Gericht aufgrund folgender Erwägungen:

2.4.1. Anlässlich seiner Erstbefragung am 07.01.2021 brachte er zu seinen Antragsgründen vor, dass es in seinem Herkunftsland keine Sicherheit und kein normales Leben geben würde. Die Bevölkerung würde immer von der jüdischen Seite angegriffen werden. Bei einem Raketenangriff der jüdischen Miliz sei er verletzt worden. Der Krieg zwischen Gaza und Israel würde immer schlimmer werden. Man habe dort keine Zukunft mehr. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben. Es würde dort keine Sicherheit und keine Zukunft geben (AS 10).

Bei seiner behördlichen Einvernahme am 19.03.2021 führte er eingangs aus, dass er bis dato die Wahrheit gesagt, jedoch bei der Erstbefragung nicht alles erwähnt habe. Er sei in seinem Herkunftsland auch von der Hamas inhaftiert und gefoltert worden (AS 40). Bei der freien Schilderung seiner Antragsgründe führte er näher aus, dass er Mitglieder der Hamas „immer wieder verjagt“ habe, da sie „einmal“ in der Nähe seines Elternhauses geschossen hätten (AS 46). Er sei insgesamt fünf Mal von Mitgliedern der Hamas inhaftiert worden. An den genauen Zeitpunkt dieser Inhaftierungen könne er sich nicht erinnern. Aufgrund der erlittenen Folterungen habe er alles vergessen. Vor seiner Ausreise habe er ein Ladungsschreiben von Sicherheitskräften der Hamas erhalten, er habe dieser Ladung keine Folge geleistet. Der Grund für die Verhaftungen sei sein Versuch gewesen, Hamas-Mitglieder von Raketenangriffen auf Israel abzuhalten. Er habe sie vom Grundstück seiner Familie verjagt, als diese von dort aus auf israelische Gebiete schießen haben wollen (AS 47).

2.4.2. Die belangte Behörde sprach dem Fluchtvorbringen des BF gänzlich die Glaubwürdigkeit ab und stellte fest, dass er nicht von Mitgliedern der Hamas entführt und gefoltert worden sei und ihm bei einer Rückkehr keine Repressalien seitens der Hamas drohen würden.

Das BVwG teilt die tragenden Erwägungen der behördlichen Beweiswürdigung, wie in weiterer Folge noch ausgeführt werden wird. Für das erkennende Gericht wurden im gg. Verfahren keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der dem BF gewährte Beistand der UNRWA zwischenzeitlich weggefallen ist oder er aus von seinem Willen unabhängigen Gründen zum Verlassen seines Herkunftsgebietes gezwungen gewesen ist sowie daran gehindert wäre, den Beistand durch die UNRWA wieder in Anspruch zu nehmen. In Übereinstimmung mit der belangten Behörde war zum Schluss zu gelangen, dass er schon vor seiner Ausreise in Wahrheit keiner individuellen Bedrohung durch Mitglieder der Hamas ausgesetzt war, weshalb er auch pro futuro k

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten