TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/28 W196 2216970-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.10.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

28.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4

Spruch


W196 2216970-2/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Dr. Astrid WAGNER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.09.2021, Zl. 740505803/210530794, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 10 Abs. 2 und § 57 AsylG 2005, § 9 und §18 BFA-VG sowie § 46, § 52 Abs. 1 Z 1 und Abs. 9, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1, § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste im Jahre 2004 etwa im Alter von 13 Jahren gemeinsam mit seiner Familie illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte durch seine gesetzlichen Vertreter am 21.03.2004 einen Asylerstreckungsantrag.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.11.2004 wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten durch Erstreckung gemäß § 11 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl 1997/76 (AsylG) idgF zuerkannt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass dem Beschwerdeführer kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Mit Aktenvermerk vom 14.01.2019 wurde ein Asylaberkennungsverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet.

3. Mit Schreiben vom 01.03.2019 beantwortete die Zeugin XXXX die durch die belangte Behörde gestellten Fragen zum Privat-und Familienleben des Beschwerdeführers per Email.

4. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 08.03.2019 gab der Beschwerdeführer an, dass ihm sein Verhalten sehr leidtue, er sich nach seiner Entlassung bessern und sich um eine Arbeitsstelle kümmern werde. Er befürchte im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Verfolgung aufgrund der Probleme seines Vaters. Welche Probleme sein Vater gehabt habe, wisse der Beschwerdeführer nicht. Es gebe in Tschetschenien keine Gesetze.

5. Mit Bescheid des BFA vom19.03.2019 wurde der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.11.2004 dem Beschwerdeführer zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 1 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF., aberkannt. Gemäß § 7 Absatz 4 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Unter Spruchpunkt III. wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Unter Spruchpunkt IV. wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 4 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Unter Spruchpunkt V. wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei. Unter Spruchpunkt VI. wurde gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bemessen (Spruchpunkt VII.).

Im Wesentlichen begründete die belangte Behörde ihre Entscheidung damit, dass im Hinblick auf die Vielzahl der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers und der deshalb verhängten Freiheitsstrafen insgesamt von der Qualifizierung als „besonders schweres Verbrechen“ auszugehen sei. Die abgeurteilten Taten seien objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend und sei daher von einer massiven potentiellen Gefahr für die Allgemeinheit auszugehen, da der Beschwerdeführer durch die sich ständig steigernden Straftaten eindrucksvoll bewiesen habe, dass er nicht gewillt sei, sich an die österreichische Rechtsordnung zu halten.

6. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom gleichen Tag wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

7. Der Beschwerdeführer wurde (bis dahin) insgesamt sieben Mal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt:

-Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 09.03.2010 wurde der Beschwerdeführer wegen § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 4,00 Euro (im Nichteinbringungsfall 15 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 30.03.2010 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 26.01.2012 wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 229 Abs. 1 StGB, 133 Abs. 1 StGB, 146 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 4,00 Euro (im Nichteinbringungsfall 30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 30.01.2012 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 12.03.2012 wurde der Beschwerdeführer wegen 229 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 4,00 Euro (im Nichteinbringungsfall 35 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 16.03.2013 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 19.02.2014 wurde der Beschwerdeführer wegen § 229 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 2 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 13.05.2014 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 07.08.2015 wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 164 Abs. 1, 164 Abs. 4 2. Satz StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 10 Monaten verurteilt. Ein Teil der Freiheitsstrafe im Ausmaß von 7 Monaten wurde unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen. Das Strafurteil erwuchs am 14.04.2016 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 29.09.2016 wurde der Beschwerdeführer wegen § 164 Abs. 1 StGB, § 15 StGB §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB, § 12 3. Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 5 Monaten unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren und zu einer Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 StGB unter Bedachtnahme auf Landesgericht für Strafsachen XXXX verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 29.09.2016 in Rechtskraft.

-Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 14.02.2019 wurde der Beschwerdeführer wegen § 269 Abs. 1 3. Fall StGB, §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 StGB, zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 12 Monaten verurteilt. Das Strafurteil erwuchs am 14.02.2019 in Rechtskraft.

Der Beschwerdeführer wurde am 03.10.2019 aus der Freiheitsstrafe entlassen. Unter Anordnung von Bewährungshilfe wurde der Rest der Freiheitsstrafe als bedingte Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren ausgesprochen (Landesgericht XXXX vom 03.09.2019).

8. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 26.06.2020 vor dem BVwG zu der dagegen erhobenen Beschwerde gab der Beschwerdeführer auf eigenen Wunsch auf Deutsch trotz Anwesenheit einer Dolmetscherin für Russisch, mit welcher er sich nach eigenen Angaben auch gut verständigen konnte, zusammengefasst an, bis zum Alter von 13 Jahren in der Russischen Föderation gelebt zu haben und seit 2004 in Österreich aufhältig zu sein. In Österreich habe er 3 Schuljahre in der Hauptschule absolviert und die danach begonnene Metallbautechnikerlehre abgebrochen. Er habe bisher bei einer Leihfirma verschiedene Tätigkeiten (Schlosser, Schweißer, Autowäscher, Maler, im Lager) ausgeführt. Momentan sei er in Kurzarbeit bei einer Elektrofirma geringfügig beschäftigt und verdiene 380 Euro im Monat und beziehe Euro 1.043, -- Arbeitslosengeld vom AMS, da er im Gefängnis gearbeitet habe. Er sei behördlich (zwar) an einer Anschrift gemeldet, halte sich aber (tatsächlich) bei seiner Freundin auf, mit welcher er vier Kinder im Alter von 10, 9, 6 und 4 Jahren habe, auf. Er halte sich wegen seinem „Reisepass und Corona“ nicht an seiner Meldeadresse auf. Er sei nur religiös mit seiner Freundin verheiratet. Vor der Haft habe nur sporadisch ein gemeinsamer Haushalt mit seiner Freundin bestanden.

Seine Freundin XXXX gab danach als Zeugin befragt im Wesentlichen an, dass sie mit dem Beschwerdeführer bereits vor 4 Jahren islamisch verheiratet gewesen sei, sie sich aber wieder hätten scheiden lassen. Die jüngere Tochter hänge sehr am Beschwerdeführer, die größeren Kinder seien schon daran gewöhnt, dass er komme und gehe. Nun seien sie wieder islamisch verheiratet und manchmal wohne er bei ihr. Er zahle nach dem einjährigen Gefängnisaufenthalt 30.- Euro pro Kind (120.- insgesamt), sie selbst bekomme nichts. Sie beziehe für sich und die Kinder momentan Mindestsicherung. Sie und ihre Kinder seien asylberechtigt und sie besitze einen Konventionsreisepass. Sie bewohne eine 80m² große Mietwohnung.

Der Beschwerdeführer gab in der sodann fortgesetzten Befragung an, abgesehen von seiner Vergesslichkeit an keiner chronischen Erkrankung zu leiden, ca. 15.000.- an Verwaltungsstrafen zu schulden und in Tschetschenien einen Onkel väterlicherseits sowie zwei Tanten zu haben. Zu seinem Vater habe er wöchentlich und regelmäßig Kontakt. Er sei in keinen Vereinen aktiv. Er könne die kyrillische Schrift nicht so ganz lesen, Tschetschenisch könne er nicht und auf Russisch verstehe er nicht alles.

9. Die Beschwerde wurde sodann mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 14.10.2020, Zl. W147 2216970-1/20E, nach mündlicher Verhandlung vom 26.06.2020 und Einvernahme des Beschwerdeführers sowie der XXXX als Zeugin hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., III., IV., V. und VII. als unbegründet abgewiesen und hinsichtlich Spruchpunkt VI. (Einreiseverbot) unter Beachtung der Kinderrechte ersatzlos behoben.

Darin wurde unter Spruchpunkten I. und II. begründend ua. ausgeführt, dass dem im Wesentlichen gesunden, jedoch mehrfach straffälligen Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen weder aus den von seinem Vater einst geltend gemachten Asylgründen noch sonst nach seiner langen Abwesenheit eine asylrelevante oder sonstige Verfolgung im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation droht. Auch eine reale Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK wurde nicht als gegeben erachtet, wobei unter Beachtung der allgemeinen Sicherheitslage auch vom Vorliegen seiner Arbeitsfähigkeit sowie verwandtschaftlicher Anknüpfungspunkte (Onkel, Tanten) in der Russischen Föderation ausgegeangen wurde. Abgesehen von seiner Vergesslichkeit hat er in diesem Verfahren keine Erkrankung angegeben. Dieses Erkenntnis ist am 15.10.2020 in Rechtskraft erwachsen.

10. Bereits am 17.01.2021 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 28a (1) 5.Fall 28a (4) Z 3 SMG, § 142 (1) StGB, § 241e (1) StGB swie 148a (1) StB (erneut) Untersuchungshaft verhängt.

Nach der Verständigung der Staatsanwaltschaft vom 03.03.2021 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 27 (1,2) Z 1 1.Fall, 2.Fall, 28a (1) 5.Fall SMG Anklage erhoben und das Ermittlungsverfahren wegen §§ 142 (1), 148a (1), 241e (1) StGB eingestellt.

Schließlich wurde der Beschwerdeführer mit rechtskräftigem Urteil eines LG vom 12.04.2021 nach §§ 28a (1.)5.Fall, 28a (3)1.Fall SMG, §§ 27(1) Z 1 1.Fall, 27 (1) Z 1 2.Fall, 27(2) SMG zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt.

11. Am 27.04.2021 wurde dem Beschwerdeführer in der JA eine Verständigung über das Ergebnis der Beweisaufnahme samt der Mitteilung über die beabsichtigte Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot sowie einer allfälligen Schubhaft zugestellt und ihm eine Frist von 14 Tagen zur Stellungnahme eingeräumt.

12. In der hiezu abgegebenen Stellungnahme vom 11.05.2021 wurde von seiner Vertreterin ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seit 2004 (als Asylwerber) und später auf Grund „subsidiären Schutzes“ in Österreich aufhältig und sein Aufenthalt stets legal gewesen sei. Er habe die Hauptschule hier absolviert und die anschließende Lehre zum KFZ-Techniker abgebrochen, um arbeiten zu gehen. Seine Eltern und seine Schwester seien bereits österreichsiche Staatsbürger, seine beiden Brüder und ein Halbbruder seien hier aufenthaltsberechtigt. Vor seiner Inhaftierung sei er Lagerarbeiter gewesen. Zuletzt sei er bei einer Unterkunft der Caritas gemeldet gewesen und halte sich ansonsten bei seiner Lebensgefährtin auf. Wegen der jahrelangen Tätigkeit seines Vaters beim Militär würde der Beschwerdeführer als dessen Sohn im Fall der Rückkehr an seiner Stelle verfolgt werden. Mit seiner Lebensgefährtin habe er in Österreich vier minderjährige und aufenthaltsberechtigte Kinder. Sämtliche Familienangehörigen seien also in Österreich aufhältig, insbesondere seine vier minderjährigen Kinder. Er selbst halte sich nun seit 17 Jahren in Österreich auf und habe keinerlei Anknüpfungspunkte mehr in seinem Herkunftsland. Sämtliche Verwandten und Familienangehörigen befänden sich in Österreich. Es könne jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass er seinen Aufenthalt hier zur Begehung von Straftaten missbraucht habe. Er sei hier erwachsen geworden, habe hier die Schule besucht und gearbeitet. Festzuhalten sei, dass ausschließlich im Bundesgebiet familiäre, soziale und auch beruflich Bindungen bestünden.

13. Der Beschwerdeführer wurde am 01.07.2021 in die JA XXXX überstellt und befindet sich derzeit noch in Strafhaft.

Am 07.07.2021 erging seitens der JA eine Anfrage an die Fremdenpolzei wegen § 42a EU-JZG zur Verbüßung der Freiheitsstrafe im Heimatland (AS 771), welche ein Aufenthaltsverbot sowie eine Abschiebung voraussetze.

14. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 03.09.2021 wurde dem Beschwerdefüher ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.), gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunt IV.), einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung wurde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Dieser Entscheidung wurde (unter Bedachtnahme auf den bezughabenden Asylakt) zu Grunde gelegt, dass der Beschwerdeführer russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit mit geklärter Identität als gesund und arbeitsfähig zu betrachten, in Österreich jedoch bereits massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Sein Aufenthalt in Österreich sei seit der Asylaberkennung nicht mehr rechtmäßig, er verfüge über kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht mehr. Er sei nun bereits acht Mal strafgerichtlich verurteilt und es gehe eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von ihm aus. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig, seinen Lebensunterhalt habe er überwiegend aus staatlichen und familiären Unterstützungsleistungen bestritten und sei bislang keiner längeren legalen Beschäftigung nachgegangen. Seit der Aberkennung des Asylstatus verfüge er zudem auch nicht mehr über eine Arbeitsberechtigung in Österreich. Zu seinem Privat- und Familienleben wurde festgestellt, dass er in Österreich Eltern, Geschwister und eine Lebensgefährtin sowie vier minderjährige Kinder habe. Alle Familienangehörigen seien asylberechtigt bzw. russische Staatsangehörige. Seine Kinder würden bei seiner Lebensgefährtin in einem getrennten Haushalt leben. Finanzielle Abhängigkeiten bestünden nicht. Etwaige Unterhaltsleistungen könnten auch aus der Russischen Föderation geleistet werden. Seine Eltern, eine Schwester und drei Brüder seien in Österreich aufhältig, seinem Bruder XXXX sei der Asylstatus ebenfalls bereits rechtskräftig aberkannt worden. In Österreich habe der Beschwerdeführer die Hauptschule absolviert, eine Schlosserlehre jedoch nicht abgeschlossen. Dementsprechende Deutschkenntnisse habe er erworben. Er sei im Bundesgebiet nur sporadisch und zumeist nur geringfügig als Arbeiter erwerbstätig gewesen, zuletzt bis 21.02.2020. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig. Er sei niemals Mitglied eines Vereins oder ehrenamtlich tätig gewesen. Zum Einreiseverbot wurde zudem festgestellt, dass er seit der rechtskräftigen Aberkennung seines Asylstatus nicht mehr rechtmäßig hier aufhältig und erneut massiv straffällig geworden sei. Es gehe eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit von ihm aus.

Zur Lage in der Russischen Föderation wurde Folgendes festgestellt:

„Zur Lage in Ihrem Herkunftsstaat / im Zielstaat:

Auszug aus der Staatendokumentation Russische Föderation vom 10.06.2021:

Grundversorgung

Letzte Änderung: 10.06.2021

2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).

Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 18.2.2021

?        IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2, Zugriff 18.2.2021

?        Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland, Zugriff 18.2.2021

?        Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

?        Statista (19.10.2020): Russland: Arbeitslosenquote von 1992 bis 2019 und Prognosen bis 2025, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17339/umfrage/arbeitslosenquote-in-russland/, Zugriff 21.4.2021

?        WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (4.2021): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf?_gl=1*2opol5*_ga*MTMwODMzNzE3OC4xNjE4OTg5NzU3*_ga_4YHGVSN5S4*MTYxODk4OTc1Ni4xLjEuMTYxODk4OTc1OS41Nw.., Zugriff 21.4.2021

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien mit September 2020 bei 23.783 Rubel [ca. 264 €], landesweit bei 49.516 Rubel [ca. 550 €] (Rosstat 19.11.2020). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Februar 2021 bei 13.484 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2021), landesweit im ersten Quartal 2020 bei 14.924 Rubel [ca. 166 €] (GKS.ru 7.5.2020). Das durchschnittliche Existenzminimum für das vierte Quartal 2020 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.572 Rubel [ca. 129 €], für Pensionisten bei 9.196 Rubel [ca. 102 €] und für Kinder bei 11.294 Rubel [ca. 125 €] (Chechenstat 2021). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2021 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 12.702 Rubel [ca. 141 €], für Pensionisten bei 10.022 Rubel [ca. 111 €] und für Kinder bei 11.303 Rubel [ca. 126 €] (RIA Nowosti 9.1.2021).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 6.4.2021

?        Chechenstat [Tschetschenien] (2021): ??????????? ?????????? (Operative Indikatoren), https://chechenstat.gks.ru/, Zugriff 6.4.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 6.4.2021

?        GKS.ru [Russische Föderation] (7.5.2020): ???????? ???????? ??????? ??????????? ?????? (Dynamik der durchschnittlichen Größe der zugewiesenen Pensionen), https://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/urov/doc3-1-1.htm, Zugriff 6.4.2021

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 6.4.2021

?        RIA Nowosti (9.1.2021): ??????????? ??????? ? ?????? ? 2021 ???? ???????? 11 653 ????? (Existenzminimum in Russland im Jahr 2021 wird 11 653 Rubel betragen), https://ria.ru/20210109/minimum-1592375522.html, Zugriff 6.4.2021

?        Rosstat [Russische Föderation] (19.11.2020): ??????????? ?????? ?????????????? ??????????? ?????????? ????? ??????? ?????????? ? ????????????, ? ?????????????? ???????????????? ? ?????????? ??? (Vierteljährliche Schätzung des durchschnittlichen Monatslohns), https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/jI7yx5Pa/ozenka-zar.htm, Zugriff 6.4.2021

Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 10.06.2021

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).

Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).

Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2019). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

?        Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

?        Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

?        Familien mit geringem Einkommen;

?        Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).

Familienbeihilfe

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2019). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).

Mutterschaft

Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2019). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).

Mutterschaftskapital

Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Ab dem 1.1.2020 wird das Mutterschaftskapital in Russland erhöht (Russland Capital 7.6.2019). Es beträgt derzeit 616.000 Rubel [ca. 6.835 €] (AA 2.2.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden und auf die Geburt des ersten Kindes ausgeweitet werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).

Behinderung

Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).

Arbeitslosenunterstützung

Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollten Bewerber diesen zurückweisen, werden sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 8.000 Rubel (ca. 111 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2019).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen

Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021

?        BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 18.2.2021

?        IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2, Zugriff 18.2.2021

?        RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881, Zugriff 18.3.2020

?        Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

?        Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

?        Russland Capital (7.6.2019): Das Mutterschaftskapital wird auf 470.000 Rubel erhöht, https://www.russland.capital/das-mutterschaftskapital-wird-auf-470-000-rubel-erhoeht, Zugriff 18.3.2020

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 10.06.2021

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2020). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2019). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 6.2020).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2019; vgl. ÖB Moskau 6.2020), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2020).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den obenstehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2020).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2020). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Für gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgern mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2019). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2020). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).

Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.2.2021

?        GTAI – German Trade and Invest (27.11.2018): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 17.2.2021

?        DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        IOM – International Organisation of Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2, Zugriff 17.2.2021

?        ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 17.2.2021

?        Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/, Zugriff 17.2.2021

Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:

?        infektiöse und parasitäre Krankheiten

?        Tumore

?        endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

?        Krankheiten des Nervensystems

?        Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

?        Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

?        Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

?        Krankheiten des Kreislaufsystems

?        Krankheiten des Atmungssystems

?        Krankheiten des Verdauungssystems

?        Krankheiten des Urogenitalsystems

?        Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett

?        Krankheiten der Haut und der Unterhaut

?        Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

?        Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen

?        Geburtsfehler und Chromosomenfehler

?        bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben

?        Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).

Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).

In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).

Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021

?        BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

?        DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 18.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.2.2021

Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten