Entscheidungsdatum
29.11.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W180 2153091-1/38E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Georg PECH über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Peterpaul SUNTINGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AslyG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In seiner Erstbefragung am 04.08.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, seitdem seine Schwester geheiratet habe, habe der Beschwerdeführer bei ihr und deren Familie gelebt und sie zuhause unterstützt. Der Ehemann der Schwester sei ständig in der Arbeit gewesen. Seit ihr Ehemann entführt worden sei und sie ständig Drohungen bekommen hätten, sei auch das Leben des Beschwerdeführers in Gefahr gewesen. Alle hätten gewusst, dass er bei seiner Schwester und deren Mann gewohnt habe. Als diese sich entschlossen hätten, die Heimat zu verlassen, habe sich der Beschwerdeführer ihnen angeschlossen. Im Fall einer Rückkehr fürchte der Beschwerdeführer um sein Leben.
3. Der Beschwerdeführer wurde am 24.01.2017 kurz vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Bei seiner erneuten niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 15.02.2017 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei Paschtune und Sunnit. Er stamme aus der Provinz Baghlan, Distrikt XXXX , und habe dort mit seiner Familie gelebt. Er habe im Heimatdorf zehn Jahre lang die Schule besucht und sechs Monate lang als Lehrling in einer Druckerei gearbeitet. Seine Eltern würden sich noch im Heimatort befinden, ebenso eine Schwester und zwei Brüder. Zwei Schwestern und ein Bruder würden in Kabul leben.
Zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, er sei von den Taliban mit dem Umbringen bedroht worden. Als sein Schwager, der Ehemann seiner Schwester, für die Organisation „ XXXX “ gearbeitet habe, sei der Beschwerdeführer sehr oft bei ihm zuhause gewesen, er habe mit dessen Kindern gespielt und sei einkaufen gegangen. Als sein Schwager von unbekannten Personen entführt worden sei und nachdem dieser freigelassen worden sei, habe der Beschwerdeführer ca. einen Monat vor seiner Ausreise einen Drohbrief von den Taliban bekommen. Er sei auch telefonisch von den Taliban bedroht worden. Sie hätten ihm vorgeworfen, dass er mit seinem Schwager arbeiten würde. Der Beschwerdeführer habe dies verneint und gesagt, er arbeite nicht für „ XXXX “, was die Taliban ihm aber nicht geglaubt hätten. Nach dem Drohbrief habe der Beschwerdeführer mit seinem Vater gesprochen. Sein Vater habe gesagt, der Beschwerdeführer solle gemeinsam mit seinem Schwager und dessen Familie nach Europa ausreisen.
Der Beschwerdeführer legte Dokumente vor (u.a. Drohbrief, Schulbesuchsbestätigung, Deutschkursbestätigung, Deutschprüfungszeugnis, Empfehlungsschreiben).
4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.03.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
5. Mit Schreiben vom 07.04.2017 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang gegen den genannten Bescheid. Er beantragte nach Darlegung der Beschwerdegründe die Gewährung des Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Zurückverweisung, jedenfalls auszusprechen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung vorliegen, sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 07.04.2017, Zl. XXXX , rechtskräftig am 11.04.2017, wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB sowie wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 220 Tagessätzen à EUR 4,-- verurteilt.
7. Mit Schreiben der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 23.06.2017 wurde ein ergänzendes Vorbringen erstattet und es wurde ein Arztbefund vorgelegt. Im Schreiben wurde ausgeführt, die Lage in Afghanistan habe sich verschlechtert. Der Beschwerdeführer befinde sich zudem in einer sehr schlechten psychischen Verfassung.
8. Mit Schreiben der Rechtsvertretung vom 27.07.2017 wurde erneut ein ergänzendes Vorbringen erstattet und Unterlagen sowie Fotos vorgelegt. Die Familie des Beschwerdeführers sei seit jeher Bedrohungen und Angriffen durch die Taliban ausgesetzt. Offensichtlich aufgrund der Tatsache, dass ein Sohn der Familie bzw. Bruder des Beschwerdeführers als Flugrettungsarzt bei der afghanischen Nationalarmee, ein weiterer Bruder bei der Polizei arbeite und der dritte Bruder in der Vergangenheit für den Präsidenten in einer selbständigen Wahlkommission tätig gewesen sei, sowie auch der Tatsache, dass es sich um eine wohlhabende Familie handle, resultiere das besondere Interesse der Taliban, Familienmitglieder zu töten bzw. zu entführen und die Familie zu erpressen. So sei ja auch der Schwager des Beschwerdeführers vor seiner Flucht von den Taliban entführt worden. Vor kurzem sei auch der Bruder des Beschwerdeführers bei einem Attentat durch die Taliban verletzt worden und schon Wochen zuvor von den Taliban mit dem Tod bedroht worden.
9. Mit Schreiben vom 27.10.2017 wurden Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers vorgelegt (u.a. Schulbesuchsbestätigung, Deutschprüfungszeugnis).
10. Mit Schreiben der belangten Behörde vom 11.06.2019 wurden in Kopie ein „Birth Certificate“, ein afghanischer Reisepass und eine Tazkira des Beschwerdeführers vorgelegt.
11. Mit Schreiben vom 04.07.2019 erstattete die belangte Behörde eine Stellungnahme, worin u.a. ausgeführt wird, der Beschwerdeführer habe bisher nie angegeben, dass seine Familie generell „seit jeher“ Bedrohungen und Angriffen durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei, wie dies in der Stellungnahme des Beschwerdeführers behauptet worden sei. Auch die Angaben dazu, welche Berufe die Brüder des Beschwerdeführers hätten, seien bisher nicht gemacht worden.
12. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 25.03.2019, Zl. XXXX , rechtskräftig am 28.03.2019, wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à EUR 4,-- verurteilt.
13. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 21.01.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der Gerichtsabteilung W180 am 12.02.2020 neu zugewiesen.
14. Mit Schreiben der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 19.11.2020 wurde eine Stellungnahme erstattet. Darin wurde u.a. ausgeführt, ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers sei bei einem Anschlag der Taliban mittels einer Autobombe verletzt worden. Der Beschwerdeführer habe aufgrund seiner eigenen Verfolgung durch die Taliban und der massiven Angriffe der Taliban seit seiner Flucht auf Mitglieder seiner Familie Angst vor einer Rückkehr nach Afghanistan. Der Beschwerdeführer sei stark traumatisiert und eine Behandlung von psychischen Erkrankungen sei in Afghanistan nicht ausreichend gewährleistet. Dazu wurden Fotos und weitere Unterlagen (Arztbefunde, Unterstützungsschreiben) vorgelegt.
15. Mit Schreiben der Rechtsvertretung vom 05.05.2021 wurde eine weitere Stellungnahme eingebracht, worin erneut ausgeführt wurde, der Beschwerdeführer sei stark traumatisiert und leide u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer reaktiven Depression. Beigelegt wurden Arztbefunde.
16. Am 18.05.2021 sowie am 27.10.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei welcher der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. Der Beschwerdeführer legte keine weiteren Unterlagen vor. In der Verhandlung am 18.05.2021 wurde Frau XXXX , Bekannte und Vertrauensperson des Beschwerdeführers, als Zeugin einvernommen. In der Verhandlung am 27.10.2021 wurden das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) zu Afghanistan, Version 5 vom 16.09.2021, die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, die EASO „Country-Guidance: Afghanistan - Guidance note and common analysis“ vom Dezember 2020 sowie die UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 in das Verfahren eingebracht. Eine Stellungnahme dazu wurde nicht erstattet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch Farsi, Paschtu, Englisch sowie sehr gut Deutsch und etwas Urdu. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer stammt aus der afghanischen Provinz Baghlan, aus dem XXXX der Stadt XXXX Ortsteil XXXX , und ist dort bei seiner Familie aufgewachsen. Er hat zwölf Jahre lang die Schule besucht und parallel zum Schulbesuch im zehnten Schuljahr sechs Monate in einer Druckerei gearbeitet. Er hat keine Berufsausbildung. Nach dem Ende seiner Schulzeit hat er sich auf ein Studium vorbereitet. Er hatte ursprünglich vor, Jus zu studieren, hat dann jedoch Afghanistan verlassen. Am Herkunftsort des Beschwerdeführers leben derzeit noch seine Eltern sowie seine jüngste Schwester, die an einer psychischen Krankheit leidet. Der Beschwerdeführer hat insgesamt vier Schwestern und drei Brüder. Zwei Schwestern leben mit deren jeweiliger Familie in Deutschland. Eine Schwester lebt mit ihrer Familie in Kabul. Einer der Brüder des Beschwerdeführers hält sich noch in Afghanistan auf. Zwei Brüder befinden sich an der Grenze zwischen der Türkei und dem Iran. Der Beschwerdeführer hat zu seinen Eltern Kontakt.
Die zweite in Deutschland lebende Schwester des Beschwerdeführers ist gemeinsam mit deren Mann, dem Schwager des Beschwerdeführers, und deren gemeinsamen Kindern zusammen mit dem Beschwerdeführer nach Österreich eingereist und sie haben gemeinsam Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Diese Schwester, der Schwager und die Kinder befinden sich mittlerweile in Deutschland, wo sie Asylanträge stellten und den Angaben des Beschwerdeführers nach den Status der Asylberechtigten genießen. Die in Österreich geführten Asylverfahren betreffend die Schwester, den Schwager und die Kinder wurden wegen des damaligen unbekannten Aufenthalts der Familie mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18.07.2018, Zl. W256 2153222-1/10E, W256 2153214-1/10E, W256 2153208-1/9E, W256 2153217-1/9E, W256 2153206-1/9E und W256 2153211-1/9E, gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2005 eingestellt.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan nicht aufgrund von drohender Verfolgung durch die Taliban wegen der Tätigkeit seines Schwagers für eine englische Firma verlassen. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers seit jeher Bedrohungen und Angriffen durch die Taliban ausgesetzt ist, und auch nicht, dass die Brüder oder andere Familienmitglieder des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit für die Regierung von den Taliban angegriffen wurden. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer aus den vorgebrachten Gründen weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine „westliche“ Einstellung oder Lebensführung angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.
Der Beschwerdeführer konnte insgesamt nicht glaubhaft machen, dass er seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
Der Beschwerdeführer leidet seit einigen Jahren an psychischen Erkrankungen. Zuletzt wurden bei ihm eine mittelgradige depressive Episode und eine Angststörung diagnostiziert. Er wird medikamentös behandelt und befindet sich in ärztlicher Betreuung. Zeitweise hat er auch eine Psychotherapie in Anspruch genommen. Derzeit wartet er auf einen Therapieplatz.
Dem Beschwerdeführer würde im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan in seiner Herkunftsprovinz Baghlan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Ihm ist es aufgrund der Situation nach der Machtübernahme durch die Taliban aber auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans, Mazar-e Sharif und Herat, oder anderswo in Afghanistan, niederzulassen. Auch dort würde ihm ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen zu können, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der Beschwerdeführer hält sich seit 03.08.2015 in Österreich auf. Er hat in Österreich keine Familienangehörigen. Der Beschwerdeführer hat in Österreich Deutschkurse besucht und die Deutschprüfungen auf dem Niveau A1 und A2 absolviert sowie das ÖSD Zertifikat Deutsch auf dem Niveau B1 bestanden. Zuletzt hat er einen Deutschkurs auf dem Niveau B2 besucht, er lernt und möchte bald die B2-Prüfung ablegen. Er hat eine Schule besucht (Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe), diese jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer war für kurze Zeit als Kochlehrling beschäftigt. Er möchte künftig berufstätig sein und ehrenamtlich bei der Rettung oder der Feuerwehr tätig sein. Er hat sich bereits ehrenamtlich betätigt, unter anderem beim Roten Kreuz, und macht für Freunde und Bekannte Dolmetschertätigkeiten.
Der Beschwerdeführer hat eine Lebensgefährtin, die österreichische Staatsbürgerin ist, die beiden wohnen zeitweise zusammen. Der Beschwerdeführer unterstützt die Großmutter seiner Lebensgefährtin und macht für sie Besorgungen. Er hat bereits seit mehreren Jahren eine gute Bekannte bzw. Vertrauensperson, die sich um den Beschwerdeführer kümmert und zu der eine familiäre Beziehung besteht. Der Beschwerdeführer besucht sie und hilft ihr im Haushalt, sie vermietet ihm auch die Wohnung, wo der Beschwerdeführer derzeit wohnt. Der Beschwerdeführer hat viele Freunde, darunter auch Österreicher.
Der Beschwerdeführer wurde in Österreich wie folgt rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt:
Er wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 07.04.2017, Zl. XXXX , rechtskräftig am 11.04.2017, wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB sowie wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 220 Tagessätzen à EUR 4,-- verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer eine Frau mit Gewalt zu einer Handlung nötigte, nämlich dem Mitgehen in ein Waldstück und zur Duldung seiner Küsse, indem er sie an den Handgelenken packte und mit sich zerrte, wodurch sie mehrmals zu Sturz kam, und sie an den Ellenbogen festhielt und ins Gesicht küsste. Dadurch verletzte er die Frau vorsätzlich leicht am Körper (Prellungen und Bluterguss am rechten Knie, Prellungen des rechten Ellenbogens und der Wirbelsäule). Bei der Strafbemessung wurde als erschwerend das Zusammentreffen von zwei Vergehen gewertet, als mildernd wurden das umfassende und reumütige Geständnis, der bisherige ordentliche Lebenswandel und das Alter unter 21 Jahren gewertet.
Er wurde weiters mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 25.03.2019, Zl. XXXX , rechtskräftig am 28.03.2019, wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 180 Tagessätzen à EUR 4,-- verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer fremde Sachen beschädigte, und zwar eine Fensterscheibe und eine Türscheibe dadurch, dass er mit seiner rechten Hand dagegen schlug, wodurch jeweils das Glas zerbrach und ein nicht bezifferbarer, jedoch EUR 5.000,-- nicht übersteigender Schaden herbeigeführt wurde. Bei der Strafbemessung wurden als erschwerend eine nicht einschlägige Vorstrafe, die Alkoholisierung und die Tatwiederholung gewertet, als mildernd wurde das volle und reumütige Geständnis gewertet.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan (Version 5, Datum der Veröffentlichung: 16.09.2021; Auszüge):
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Quellen:
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Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Quellen:
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Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar