TE Bvwg Beschluss 2021/12/15 W217 2248633-1

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Entscheidungsdatum

15.12.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §42
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W217 2248633-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER LL.M sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den als Bescheid geltenden Behindertenpass des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich, vom 15.09.2021, OB: XXXX , betreffend die Höhe des festgestellten Grades der Behinderung, beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


BEGRÜNDUNG:

I.       Verfahrensgang:

1.       Herr XXXX (in der Folge: „Beschwerdeführer“) beantragte am 05.03.2021 beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) einlangend unter Beilage eines Konvolutes an medizinischen Befunden die Ausstellung eines Behindertenpasses sowie die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aufgrund einer Behinderung“.

1.1.    In der Folge holte die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten von Herrn Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Urologie, ein mit dem Ergebnis, dass der Grad der Behinderung 70 v.H. betrage, wobei folgende Funktionseinschränkungen festgestellt wurden:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Wirbelsäule - Funktionseinschränkungen schweren Grades

Bandscheibenschäden

1 Stufe über dem unteren RS bei chronischem Dauerschmerz mit episodischen Verschlechterungen und deutlicher Einschränkung in der Kopf- und Rumpfmobilität

02.01.03

60

2

Chronisch obstruktive Lungenerkrankung - Moderate Form - COPD II

Mit oberem RS bei einer FEV1 v 62 Prozent

06.06.02

40

3

Hypertonie

Fixer RS

05.01.02

20

4

Depressio

1 Stufe über dem unteren RS da unter Medikation stehend stabil

Keine regelmäßige Psychotherapie

03.06.01

20

Der Gesamtgrad der Behinderung im Ausmaß von 70 v. H. wurde begründet, dass Leiden 2 hinsichtlich der Mobilität negativen Einfluss auf Leiden 1 hat und dieses somit um 1 Stufe erhöht. Die restlichen Leiden in Art und Ausmaß haben keinen Einfluss auf den GdB.

Hinsichtlich der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel stellte der Sachverständige Folgendes fest:

„1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

Das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke in normalem Tempo, das Ein- und Aussteigen sowie der sichere Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel ist bei dem Antragsteller, bei eingeschränkter respiratorischer Reserve in Kombination mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung am Stützapparat infolge multipler Bandscheibenschäden, möglich, sofern es nicht zu Situationen erhöhter Beanspruchung wie das gleichzeitige Tragen von Lasten kommt. Zumindest aus allgemeinmedizinischer Sicht scheint bei dem jungen Antragsteller wohl insbesondere die therapeutisch Reserve der Erkrankung des Bewegungsapparates nicht vollends ausgeschöpft.

(…)“

1.2.    Mit Schreiben vom 16.06.2021 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen.

Mit Schreiben vom 23.06.2021 legte der Beschwerdeführer einen neuen MRT-Befund der BWS vor und brachte vor, dass bei einer neuerlichen Beurteilung zu bedenken sei, dass das Tragen von schweren Sachen (Einkäufe) über weitere Strecken seinen Gesundheitszustand nicht positiv fördern werde.

1.3.    Der bereits befasste Sachverständige hielt in seiner Stellungnahme vom 25.06.2021 fest:

„Antwort(en):

Der nachgereichte aktuelle MRT Befund der Brustwirbelsäule kann nach Durchsicht aus allgemeinmedizinischer Sicht keine Änderung der Einschätzung erbingen. Denn fortgeschrittene Degenerationen mit maßgeblicher Beteiligung des Nervensystems scheinen nicht vorzuliegen. Es muss hier aber aus Sicht des Allgemeinmediziners beurteilt werden. Ob bei dem doch noch jungen Antragsteller tatsächlich eine maßgebliche Mobilitätseinschränkung, welche die Ausstellung eines Parkausweises rechtfertigt, vorliegt und insbesondere, ob hier in der Tat keinerlei Therapiereserve zur Verbesserung dieses Umstands gegeben ist, sollte dann von einem Facharzt für Orthopädie beurteilt werden.“

1.4.    In der Folge holte die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten von Herrn Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie, ein. Dieser hält in seinem Gutachten vom 19.08.2021, basierend auf der persönlichen Begutachtung des Beschwerdeführers, Folgendes fest:

„Anamnese:

Vorgutachten 6/2021; akut MRT 6/2021.

Derzeitige Beschwerden:

‚Ich habe ständig Schmerzen beim Gehen. Es ist wie Blitzschläge durch den Körper. Tragen kann ich nichts mehr. Sitzen und Stehen geht nicht länger. Ich habe keine dauerhaften Ausfälle. Gelegentlich Schmerzen, auch in den Händen.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Norgesic, Infiltrationen, Neodolpasseinfusionen.

Sozialanamnese:

ledig; AMS, LKW-fahrer, Pens.verfahren laufend.

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

Vorgutachten 6/2021; MRT BWS XXXX 6/2021: kein Korrelat für die angegebenen Beschwerden. Abgeflachte Kyphose mit geringer Bandscheibenprotrusion. Keine Affektion der Nervenwurzeln, keine Spinalkanalstenose.

MRT HWS Dr. XXXX 3/2014: DP C5-7 ohne Myelopathie; DP L3-S1.

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

gut

Ernährungszustand:

gut

Größe: 182,00 cm  Gewicht: 80,00 kg  Blutdruck:

Klinischer Status – Fachstatus:

Caput unauffällig, Collum o.B., WS im Lot, HWS in R 40-0-40, F 10-0-10, KJA 2 cm, Reklination 12 cm. BWS-drehung 30-0-30, normale Lendenlordose, FKBA 25 cm,

Seitneigung bis 5 cm ober Patella. Kein Beckenschiefstand. Thorax symmetrisch, Abdomen unauffällig.

Schultern in S 40-0-170, F 170-0-50, R bei F90 80-0-80, Ellbögen 0-0-130, Handgelenke 50-0-50, Faustschluß beidseits frei. Nacken-und Kreuzgriff möglich. Hüftgelenke in S 0-0-105, F 35-0-30, R 30-0-10, Kniegelenke beidseits 0-0-130, Sprunggelenke 15-0-45. Lasegue bds. schwach positiv.

Gesamtmobilität – Gangbild:

Gang in Strassenschuhen ohne Gehbehelfe frei möglich.

Zehenspitzen- und Fersenstand möglich.

Status Psychicus:

Normale Vigilanz, regulärer Ductus.

Ausgeglichene Stimmungslage.

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenvorfällen 2014 cervical und lumbal

oberer Rahmensatz, da chronischer Schmerzzustand; Wahl der Position, da ungestörte periphere Sensomotorik;

02.01.02

40

2

Chronisch obstruktive Lungenerkrankung - Moderate Form - COPD II

Mit oberem RS bei einer FEV1 v 62 Prozent

06.06.02

40

3

Hypertonie

05.01.02

20

4

Depressio

1 Stufe über dem unteren RS da unter Medikation stehend stabil Keine regelmäßige Psychotherapie

03.06.01

20

         Gesamtgrad der Behinderung  50 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Leiden 1 wird durch Leiden 2 wegen wechselseitiger Leidensbeeinflussung um eine Stufe erhöht. Die restlichen Leiden in Art und Ausmaß haben keinen Einfluss auf den GdB

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Allergien

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Wirbelsäulenleiden; kein zusätzliches orthopädisches Leiden vorgebracht.

Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zu Vorgutachten:

orthopädisches Leiden wird um zwei Stufen herabgesetzt, da zwar Schmerzzustand, aber aktuelles MRT der BWS ohne relevante Veränderungen, die anderen Befunde aber schon 7 Jahre zurückliegend.

X        Dauerzustand

Herr XXXX kann trotz seiner Funktionsbeeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einem Integrativen Betrieb (allenfalls unter Zuhilfenahme von Unterstützungsstrukturen) einer Erwerbstätigkeit nachgehen:

X        Ja

(…)

1.       Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

Eine wesentliche Mobilitätseinschränkung besteht nicht. Die Gehstrecke ist ausreichend, das sichere Ein-und Aussteigen und der sichere Transport sind gewährleistet. Im Vordergrund stehen offenbar belastungsabhängige Wirbelsäulenbeschwerden, die die Mobilität einschränken. Die Gesamtmobilität ist aber ausreichend, um kurze Wegstrecken zu bewältigen. Kraft und Koordination sind ausreichend. Es bestehen auch keine erheblichen Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit trotz eingeschränkter respiratorischer Reserve.

2.       Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt ein Immundefekt vor im Rahmen dessen trotz Therapie erhöhte Infektanfälligkeit und wiederholt außergewöhnliche Infekte wie atypische Pneumonien auftreten?
nein

(…)“

1.5.    Mit Schreiben vom 24.08.2021 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom 31.08.2021 brachte der Beschwerdeführer vor, es sei ihm mit Gutachten vom 16.06.2021 ein Grad der Behinderung von 70% bescheinigt worden, mit Gutachten von 24.08.2021 nur noch ein GdB von 50%. Zwischen den Untersuchungen liege ein Zeitraum von einem Monat und sei dies daher nicht nachvollziehbar.

1.6.    Der bereits befasste Sachverständige Dr. XXXX hielt in seiner Stellungnahme vom 10.09.2021 fest:

„Antwort(en):

Es wurde im Rahmen des Parteiengehörs Einspruch erhoben, es sei die Herabsetzung von 70 auf 50% nicht nachvollziehbar.

Wie im Gutachten erklärt: das orthopädisches Leiden wird um zwei Stufen herabgesetzt, da zwar ein Schmerzzustand besteht, aber ein aktuelles MRT der BWS ohne relevante Veränderungen vorliegt, und die anderen Befunde aber schon 7 Jahre zurückliegend sind. Eine deutliche Einschränkung der Beweglichkeit war bei der Untersuchung am 22.7.2021 nicht vorliegend.“

2.       Mit Bescheid vom 14.09.2021 wies die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ ab. Begründend wurde auf das im Ermittlungsverfahren eingeholte Gutachten, demzufolge die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung nicht vorliegen würden, sowie auf die Stellungnahme vom 10.09.2021, welche einen Bestandteil der Bescheidbegründung bilden würden, hingewiesen.

3.       Mit Schreiben vom 15.09.2021 wurde dem Beschwerdeführer ein Behindertenpass erteilt, in dem ein Grad der Behinderung in Höhe von 50% eingetragen wurde.

4.       Gegen die Herabsetzung von 70% GdB auf 50% GdB und die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde und brachte unter Vorlage eines MRT-Befundes vom 22.09.2021 vor, aufgrund eines neuerlichen Vorfalls in der LWS und einhergehender Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, bitte er um neuerliche Begutachtung.

In diesem MRT-Befund ist Folgendes festgehalten:

„Untersuchungsdatum: 21.09.2021

Untersuchungstechnik: (…)

Zuweisungsdiagnose: Schmerzen S1 re Prolaps?

Reguläre Achsenstellung.

Es bestehen multisegmental geringe Osteochondrosen, dabei in Höhe L4/L5 beträchtlich aktivierte Osteochondrose mit Knochenmarködemarealen um den Discus - betont rechtsseitig.

Assoziiert multisegmental gering bis mittelgradig circuläre Discusprotrusionen, die ausgeprägtesten in Höhe L4/L5 sowie in Hohe L5/S1.

Multisegmental gering bis mittelgradig beidseitige Intervertebralarthrosen, die ausgeprägtesten von L3-L5.

Keine höhergradige Vertebrostenose.

Allerdings ist der Recessus L4/L5 rechts degenerativ eingeengt, hier denkbare Irritation der durchziehenden Nervenwurzel L5 rechts.

Die Neuroforamina beidseits multisegmental eingeengt - deutliche Neuroforamenstenosen L4-S1 rechts, das Neuroforamen L3/L4 links mittelgradig eingeengt.“

5.       Mit Schreiben vom 12.11.2021 wurde der Beschwerdeführer letztmalig zu einer Untersuchung bei Frau DDr. XXXX , Fachärztin für Unfallchirurgie, Ärztin für Allgemeinmedizin, eingeladen.

6.       Mit Schreiben vom 25.11.2021 legte die belangte Behörde die Beschwerde sowie den gegenständlichen Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor und gab bekannt, dass der Abschluss des in die Wege geleiteten Beschwerdevorentscheidungsverfahrens nicht innerhalb der Frist durchgeführt habe werden können, da der Beschwerdeführer seinen Untersuchungstermin wegen Krankheit abgesagt habe.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Gesetzliche Bestimmungen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

2.       Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:

„§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.“

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der beim Beschwerdeführer vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

In dem von der belangten Behörde eingeholten allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten wurde von Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Urologie, nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 15.06.2021 der Gesamtgrad der Behinderung insbesondere unter Anführung der Leiden 1 „Wirbelsäule - Funktionseinschränkungen schweren Grades Bandscheibenschäden, 1 Stufe über dem unteren RS bei chronischem Dauerschmerz mit episodischen Verschlechterungen und deutlicher Einschränkung in der Kopf- und Rumpfmobilität“ (GdB 60%)“ sowie Leiden 2 „Chronisch obstruktive Lungenerkrankung - Moderate Form - COPD II Mit oberem RS bei einer FEV1 v 62 Prozent“ (GdB 40%) mit 70 v.H. eingeschätzt, wobei er begründend ausführte, dass hinsichtlich der Mobilität Leiden 1 durch Leiden 2 um eine Stufe erhöht werde.

In dem im weiteren Verfahren von der belangten Behörde eingeholten orthopädischen Sachverständigengutachten von Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie, wurde nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 22.07.2021 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden 1 „degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenvorfällen 2014 cervical und lumbal, oberer Rahmensatz, da chronischer Schmerzzustand; Wahl der Position, da ungestörte periphere Sensomotorik“ (GdB 40%) sowie Leiden 2 „Chronisch obstruktive Lungenerkrankung - Moderate Form - COPD II Mit oberem RS bei einer FEV1 v 62 Prozent“ (GdB 40%) mit 50 v.H. eingeschätzt, wobei begründend ausgeführt wurde, dass Leiden 1 durch Leiden 2 wegen wechselseitiger Leidensbeeinflussung um eine Stufe erhöht werde.

Zur Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zum Vorgutachten wurde im letztgenannten Gutachten ausgeführt, dass das orthopädische Leiden um zwei Stufen herabgesetzt werde, „da zwar Schmerzzustand, aber aktuelles MRT der BWS ohne relevante Veränderungen, die anderen Befunde aber schon 7 Jahre zurückliegend.“

In seiner nach Beanstandung durch den Beschwerdeführer ergangenen Stellungnahme vom 10.09.2021, führt Dr. XXXX ergänzend an, dass eine deutliche Einschränkung der Beweglichkeit bei der Untersuchung am 22.07.2021 nicht vorliegend gewesen sei.

Wenngleich die belangte Behörde zur Überprüfung des Beschwerdevorbringens somit sowohl ein allgemeinmedizinisches Gutachten, als auch aufgrund der dabei hervorgekommen Funktionseinschränkungen am Bewegungsapparat des Beschwerdeführers ein orthopädisches Sachverständigengutachten eingeholt hat, lässt letzteres, auf dessen Grundlage der bekämpfte Bescheid ergangen ist, im Hinblick auf die erheblich divergierende Beurteilung des Leidens 1 keine abschließende Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts zu. Zur Erläuterung dieser Abweichung im Zweitgutachten dient lediglich der oben genannte Hinweis, wonach ein aktuelles MRT der BWS ohne Veränderungen sei, und andere Befunde bereits 7 Jahre zurückliegend seien. Die alleinige Aussage, dass bei weiterhin vorliegendem Schmerzzustand ein aktuelles MRT keine Veränderungen ergeben hätte, gibt jedoch keinerlei Aufschluss darüber, worin eine Herabsetzung der Bewertung des Leidens 1 von 60% auf 40% GdB tatsächlich begründet wäre.

Es kann somit nicht von einer Schlüssigkeit des eingeholten Sachverständigenbeweises gesprochen werden. Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag daher die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Dass im Übrigen die belangte Behörde selbst – insbesondere im Hinblick auf die Vorlage eines neuen MRT-Befundes vom 22.09.2021 durch den Beschwerdeführer, und dessen Vorbringen eines neuerlichen Vorfalls LWS und einhergehender Verschlechterung – nicht von einem hinreichend geklärten Sachverhalt ausging, erhellt auch der Umstand, dass sie den Beschwerdeführer im Beschwerdevorverfahren zur neuerlichen Begutachtung durch Frau DDr.in XXXX , Fachärztin für Unfallchirurgie, Ärztin für Allgemeinmedizin, am 25.11.2021 einlud, wenngleich diese Untersuchung aufgrund der Erkrankung des Beschwerdeführers und im Hinblick auf den Ablauf der Entscheidungsfrist der belangten Behörde letztlich unterblieb.

Die seitens des Bundesverwaltungsgerichtes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage daher nicht möglich.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung und des Vorliegens der Voraussetzungen für die beantragten Zusatzeintragungen als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015).

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde jedenfalls ein ergänzendes medizinisches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen haben, wobei die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der Beschwerdeführer mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten Zusatzeintragung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W217.2248633.1.00

Im RIS seit

19.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

19.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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