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68/02 Sonstiges SozialrechtNorm
B-VG Art11 Abs2Leitsatz
Keine Bedenken gegen das Verbot, in Verfahren nach dem BundesbehindertenG neue Tatsachen und Beweismittel vor dem Bundesverwaltungsgericht vorzubringen; kein Widerspruch zum Rechtsstaatsgebot; Abweichung der Verfahrensregelung des BundesbehindertenG vom VwGVG zur Abgrenzung des Verfahrensgegenstandes und Strukturierung von Verfahren wegen deren Eigenheiten erforderlich; Neuerungsverbot steht einer Einbringung eines Sachverständigengutachtens durch den Antragsteller als Reaktion auf ein vom Verwaltungsgericht eingeholtes Gutachten im Rahmen des Parteiengehörs nicht entgegen; Verlängerung der Beschwerdefrist und der Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung dient Konzentration des Verfahrens vor der VerwaltungsbehördeRechtssatz
Keine Verfassungswidrigkeit des §46 BundesbehindertenG idF BGBl I 57/2015.
Kein Verstoß des Neuerungsverbots (§46 dritter Satz BBG) gegen das Rechtsstaatsprinzip und Art136 Abs2 B-VG:
Das Kriterium für die Erforderlichkeit abweichender Bestimmungen nach Art136 Abs2 dritter Satz B-VG entspricht jenem des Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG: Vom VwGVG abweichende Regelungen dürfen nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes "unerlässlich" sind. Die für abweichende Regelungen in einem Materiengesetz erforderliche "Unerlässlichkeit" kann sich aus besonderen Umständen oder aus dem Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften ergeben. Von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen sind nur dann zulässig, wenn sie nicht anderen Verfassungsbestimmungen, wie etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechen.
Der VfGH geht zunächst vor dem Hintergrund der Gesetzesmaterialien davon aus, dass das Verbot, neue Tatsachen oder Beweismittel vorzubringen, erst ab der Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gilt.
Verfahren zur Ausstellung von Behindertenausweisen erfordern in aller Regel die Beiziehung von medizinischen Sachverständigen und dies kann bei neuem Tatsachenvorbringen auch noch zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung erforderlich sein. Die Materie ist auch nicht mit anderen Verwaltungsverfahren vergleichbar, in denen ebenfalls häufig Sachverständigengutachten einzuholen sind, geht es hier doch um die Beurteilung vielfältiger, sich potentiell auch während eines laufenden Verfahrens wandelnder Beeinträchtigungen.
Das in §46 dritter Satz BBG normierte Neuerungsverbot ist nach Auffassung des VfGH als ein einheitlicher Tatbestand zu sehen und zerfällt dementsprechend nicht in ein eigenes Verbot, neue Tatsachen geltend zu machen, und ein davon gesondertes Verbot, neue Beweismittel vorzubringen.
§46 BBG ist Teil des VI. Abschnittes des BBG über den "Behindertenpass", an den verschiedene Begünstigungen geknüpft sind. Seine - antragsbedürftige - Ausstellung setzt unter anderen einen "Grad der Behinderung oder [eine] Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 %" voraus, deren Maß - sofern nicht bereits anderweitig festgestellt - unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen ist; der Behindertenpasswerber hat am Verfahren nach Maßgabe von §41 Abs3 BBG mitzuwirken.
Der Behindertenpass wird nur auf Antrag ausgestellt. Dem Behindertenpasswerber obliegt es, jene Beeinträchtigungen anzugeben, die seiner Einschätzung nach den maßgeblichen Grad der Behinderung oder der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zur Folge haben. Wenn daher §46 dritter Satz BBG das Vorbringen "neuer Tatsachen" auf die Zeitphase von der Antragstellung bis zur Vorlage einer allfälligen Beschwerde an das BVwG beschränkt, so grenzt er damit letztlich nur den Verfahrensgegenstand in einer nicht zu beanstandenden Weise ab. Da der Behindertenpasswerber seine maßgeblichen Beeinträchtigungen kennt, liegt es an ihm, diese bereits während des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde offenzulegen (soweit er sie geltend machen möchte) und gegebenenfalls auch (Privat-)Gutachten als Reaktion auf von der Behörde herangezogene Sachverständigengutachten vorzulegen. Es kann dem Gesetzgeber daher vom rechtsstaatlichen Standpunkt nicht entgegengetreten werden, wenn er - aus Gründen der Strukturierung von Verfahren und damit letztlich aus Gründen der Verfahrensökonomie - vom Behindertenpasswerber im Ergebnis verlangt, die von ihm als maßgeblich erachteten Einschränkungen bereits vor der Verwaltungsbehörde und nicht (teilweise, nämlich mit ergänzenden Tatsachenvorbringen) erstmals vor dem BVwG geltend zu machen und die als erforderlich erachteten Beweismittel vorzulegen.
Diese Abgrenzung des Verfahrensgegenstandes begegnet auch deshalb keinen rechtsstaatlichen Bedenken, weil §41 Abs2 BBG dem Behindertenpasswerber ohnehin freistellt, eine (glaubhaft gemachte) "offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung" (etwa durch Hinzutreten weiterer Beeinträchtigungen) jederzeit mit einem neuen Antrag geltend zu machen, und weil der Behindertenpasswerber überdies auch ohne solche Änderung nach einem Jahr ab der letzten rechtskräftigen Entscheidung eine neue Entscheidung begehren kann.
Diese Strukturierung von Verfahren durch ein Verbot des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweismittel erst vor dem BVwG ist angesichts der Eigenheiten des Verfahrens, das letztlich höchstpersönliche, vielfach ohne Mitwirkung des Antragstellers nicht erkennbare oder zumindest beurteilbare Zustände, nämlich den Grad der Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, festzustellen hat, auch erforderlich iSv Art136 Abs2 B-VG ist.
Der Sachverständigenbeweis hat im Verfahren zur Ausstellung von Behindertenpässen überragende Bedeutung. Die stRsp des VwGH und die herrschende Meinung gehen davon aus, dass einem regelmäßig von der Behörde oder auch vom Verwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten - von wenigen Ausnahmefällen abgesehen - durch einen (idR selbst nicht sachverständigen) Beschwerdeführer nur auf "gleicher fachlicher Ebene", also durch Beibringung eines (weiteren Privat-)Sachverständigengutachtens entgegengetreten werden kann. In Abkehr von der im Prüfungsbeschluss geäußerten (vorläufigen) Auffassung kann §46 dritter Satz BBG nicht so ausgelegt werden, dass es dem Behindertenpasswerber verwehrt ist, auf vom BVwG eingeholte Sachverständigengutachten adäquat zu reagieren.
Durch das in §46 dritter Satz BBG festgelegte Neuerungsverbot soll (nur) verhindert werden, dass der Behindertenpasswerber im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etwas vorbringt bzw vorlegt, das nicht bereits Gegenstand des verwaltungsbehördlichen Verfahrens war. Dies ist im Sinne einer Strukturierung des Verfahrens und der Verfahrensökonomie sowohl im Lichte des Rechtsstaatsprinzips als auch des Art136 Abs2 B-VG gerechtfertigt bzw erforderlich.
Sofern nun das BVwG ein eigenes Sachverständigengutachten einholt, steht es dem Behindertenpasswerber im Rahmen des ihm seitens des BVwG einzuräumenden rechtlichen Gehörs in der vom Behindertenpasswerber als zweckmäßig erachteten Art und Weise offen, diesem Gutachten, etwa auch durch Beibringung eines Sachverständigengutachtens, entgegenzutreten.
Das Verbot des §46 dritter Satz BBG, im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG neue Tatsachen und neue Beweismittel vorzubringen, widerspricht daher weder dem rechtsstaatlichen Gebot der faktischen Effizienz von Rechtsschutzeinrichtungen noch Art136 Abs2 B-VG.
Keine Verletzung von Art136 Abs2 B-VG durch die Verlängerung der Beschwerdefrist und der Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung (§46 erster und zweiter Satz BBG):
Seit der Einführung des Neuerungsverbotes in §46 dritter Satz BBG erweisen sich sowohl die Verlängerung der Beschwerdefrist als auch die Verlängerung der Frist zur Erlassung der Beschwerdevorentscheidung (erster und zweiter Satz des §46 BBG) als erforderliche, vom Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (§7 Abs4 und §14 Abs1 VwGVG) abweichende Verfahrensregelungen iSv Art136 Abs2 B-VG.
Der Gesetzgeber strebt mit dem für das verwaltungsgerichtliche Verfahren geltenden Neuerungsverbot aus verfahrensökonomischen Gründen eine Strukturierung der Verfahren an. Das Verfahren soll möglichst bei der Verwaltungsbehörde konzentriert werden, indem diese die wesentlichen Tatsachen ermittelt und die vorgelegten Beweismittel würdigt und erforderlichenfalls Sachverständigengutachten einholt. Angesichts der vom Gesetzgeber angestrebten Konzentration des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde kann der VfGH dem Gesetzgeber nicht entgegentreten, wenn er einerseits eine Verlängerung der Beschwerdefrist und andererseits eine Verlängerung der Frist für die Erlassung der Beschwerdevorentscheidung als erforderlich iSd Art136 Abs2 B-VG erachtet. Dies erweist sich nicht zuletzt deswegen als erforderlich, weil zum einen der Behindertenpasswerber möglicherweise durch eigene (Privat-)Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene einem von der Behörde eingeholten Sachverständigengutachten, das die Basis für die verwaltungsbehördliche Entscheidung war, entgegentreten will und dies einen nicht unerheblichen Zeitaufwand mit sich bringen kann. Zum anderen erscheint es erforderlich, der Verwaltungsbehörde - gleichsam korrespondierend - eine längere Frist für die Erlassung der Beschwerdevorentscheidung einzuräumen, zumal sich diese mit vom beschwerdeführenden Behindertenpasswerber vorgelegten neuen Beweismitteln (zB einem [Privat-]Gutachten) auseinandersetzen und eine fachlich und rechtlich fundierte Beschwerdevorentscheidung treffen können muss.
(Anlassfall: E471/2020 ua, E v 15.12.2021, Ablehnung der Behandlung der Beschwerde).
Schlagworte
Behinderte, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Beschwerdefrist, Neuerungsverbot, Verwaltungsgerichtsverfahren, Verwaltungsverfahren, BedarfsgesetzgebungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:G225.2021Zuletzt aktualisiert am
19.01.2022