TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/31 W277 2245242-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.08.2021
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Entscheidungsdatum

31.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z1
BFA-VG §19
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W277 2245240-1/6E

W277 2245242-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a ESCHLBÖCK, MBA, über die Beschwerden von 1.) XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. XXXX , vertreten durch die XXXX und 2.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. XXXX , vertreten durch XXXX als ihre gesetzliche Vertreterin und die XXXX , gegen die Spruchpunkte II. bis VII. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zlen. 1.) XXXX und 2.) XXXX , zu Recht:

A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Die Erstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF1) XXXX , ist Mutter der Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: BF2), XXXX . Die Beschwerdeführer (in der Folge: BF) sind Staatsangehörige der XXXX .

1. Die Erstbeschwerdeführerin stellte für sich und ihre minderjährige Tochter nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF1 wurde am selben Tag von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt (Akt BF1, AS 19ff). Hierbei gab sie an, dass sie und ihre minderjährige Tochter XXXX Staatsangehörige seien, dem XXXX angehören und die Sprachen XXXX und Russisch sprechen. Im Herkunftsstaat würden aktuell der Vater namens XXXX , geb. XXXX , die Mutter namens XXXX , geb. XXXX , der Bruder namens XXXX , geb. XXXX , sowie der „Ex – Mann“ der BF1 (und Vater der BF2) namens XXXX , leben. Die letzte Wohnadresse der BF im Herkunftsstaat sei in XXXX in der XXXX in „ XXXX “ gewesen. Die BF1 habe eine elfjährige Gesamtschule, ein zweijähriges Technikum und eine fünfjährige Universitätsausbildung abgeschlossen. Sie sei „Magistra der Ökonomie“.

Die BF2 sei gehunfähig. Die BF seien nach Österreich gekommen, weil hier „die beste medizinische Behandlung“ für sie gewährleistet wäre (Akt BF1, AS 23). Drei Wochen vor der Einreise in das Bundesgebiet habe die BF1 den Entschluss zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat gefasst und die Ausreise selbst organisiert.

Zur Ausreiseroute gab die BF1 an, dass sie mit dem Bus über XXXX nach Österreich gereist seien, wobei sie an der XXXX Grenze kontrolliert worden wären. Es sei eine im Internet gefundene Mitfahrgelegenheit gewesen, mit einem sog. Kleinbus. Der Fahrer habe sie aus Mitleid „gratis“ mitgenommen. In der Vergangenheit sei die BF1 im Besitz eines XXXX Touristenvisums mit einer Gültigkeit von XXXX bis XXXX gewesen (Akt BF1, AS 29 und AS 31).

Betreffend ihre Fluchtgründe gab die BF1 im Wesentlichen an, dass die BF2 seit der Geburt ein Bandscheibenleiden habe, sodass sie nicht laufen könne und wolle, dass sie hier behandelt werde, weil die Möglichkeiten besser seien als in der XXXX . Sie habe alle Befunde bei sich und könne diese vorlegen.

Weitere Fluchtgründe habe sie nicht (Akt BF1, AS 31). Von „staatlicher Seite“ drohe ihnen nichts. Zu ihrer Rückkehrbefürchtung gab sie an, dass Sie Angst habe, dass die BF2 keine adäquate, medizinische Behandlung im Herkunftsstaat bekomme.

1.1. Ein XXXX Reisepass der BF1, Nr. XXXX , ausgestellt am XXXX , sowie der BF2, Nr.: FN XXXX , ausgestellt am XXXX , wurden sichergestellt (Akt BF1, AS 35). Der Reisepass der BF1 enthält ein Visum der XXXX Republik für den Zeitraum XXXX .

2. Am XXXX wurden die BF beim BFA niederschriftlich einvernommen (Akt BF1, AS 63ff). Hierbei wurde die BF1 umfassend zu den Familienverhältnissen, den Umständen im Herkunftsstaat und der gesundheitlichen Situation der BF2 befragt.

Die BF1 gab an Asthma zu leiden und gelegentlich einen Spray zu benützen. Seit XXXX sei sie mit ihren Eltern in deren Eigentumswohnung in XXXX in der XXXX , „ XXXX “, wohnhaft. Die Eltern der BF1 seien Pensionisten und würden aktuell weiterhin in dieser Eigentumswohnung leben. Zu den Eltern bestehe aktuell regelmäßiger und häufiger Kontakt. Der Bruder der BF1 sei verheiratet und würde mit seiner Frau im Herkunftsstaat leben. Die BF1 sei geschieden und habe keinen Kontakt zu ihrem „Ex-Mann“, welcher bei seinem Vater gemeldet sei. Sie hätte jedoch zur Schwester des „Ex-Mannes“, der Tante der BF2, Kontakt.

Im Bundesgebiet würden keine Familienangehörigen der BF1 leben.

Bis zur Geburt der BF2 habe die BF1 ihren Lebensunterhalt als Ökonomin in einer Bank im Herkunftsstaat bestritten. Seit der Geburt der BF2 würden beide von „ihrer gemeinsamen“ Invaliditätspension leben. Hierbei erhalte die BF1 monatlich XXXX für die BF2 und XXXX als Pflegerin der BF2. Gelegentlich habe die BF1 auch als Reinigungskraft gearbeitet, wobei sich die Mutter der BF1 um die BF2 gekümmert habe. Auch habe die BF1 einmal in der XXXX für drei Monate eine Saisonarbeit verrichtet. Die Mutter der BF1 habe die BF2 während dieser Abwesenheit der BF1 gelegentlich nicht in die Schule geschickt.

Die Lebensumstände seien finanziell und auch aufgrund der Behinderung der BF2 schwierig gewesen.

Betreffend der BF2 gab die BF1 an, dass diese Windeln tragen würde. In die Schule werde sie mit einem Kinderwagen gebracht oder getragen. Während der Schulzeit der BF2 müsse die BF1 ständig für das Lehrpersonal erreichbar sein, weil ebendort keine Pflegedienste angeboten werden würden. So müsste die BF1 auch in die Schule kommen, wenn die BF2 die Toilette aufsuchen müsste.

Der Alltag mit der BF2 gestalte sich aktuell in Österreich genauso mit dem Unterschied, dass die BF in der Wohnung im Herkunftsstaat ein eigenes Zimmer für sich hätten. Im Bundesgebiet hingegen würden die BF mit anderen Personen in einem Zimmer leben. Die Schwierigkeit ergebe sich dadurch, dass sie bei dem Windelwechsel der BF2 die Zimmernachbarn ersuchen müsste, das Zimmer zu verlassen. Sie hätte dieses Problem schon angesprochen, jedoch hätte man ihr gesagt, dass die Unterkunft überbelegt sei und es keine Möglichkeit gäbe, ein eigenes Zimmer zu erhalten.

Den Entschluss zur Ausreise habe die BF1 Anfang XXXX gefasst. Die BF1 habe im Internet nach einem Land gesucht, in welchem man ihrer Tochter helfen könne. Die XXXX Ärzte hätten ihr gesagt, dass sie alles gemacht hätten, was sie könnten. Nachdem Sie Östereich als Zielland ausgesucht hätte, hätte sie die Befunde und Dokumente in die deutsche Sprache übersetzen lassen. Die Übersetzungskosten in Höhe von XXXX hätte sie durch Reinigungstätigkeiten bei „reichen Familien“ innerhalb eines Monats erwirtschaftet, welche ihr aufgrund ihres Vorhabens nach Österreich zu kommen, freiwillig mehr gegeben hätten. Für die Reise in das Bundesgebiet habe die BF1 nichts bezahlt, weil der Transporteur Mitleid mit den BF gehabt hätte.

Die BF2 leide an „Spina Bifida“, einem angeborenen Fehler der Entwicklung des Nervensystems, sei von der Taille abwärts beeinträchtigt und könne nicht mehr die Füße oder den Harndrang kontrollieren.

Die BF2 sei im Herkunftsstaat sieben Mal operiert worden. Die Eltern und der Bruder der BF1, sowie die Taufpatin der BF2 hätten die BF bei den Behandlungskosten unterstützt. Der „Ex-Mann“ hätte die BF bei der letzten Operation mit XXXX unterstützt, welche er seiner Schwester (der Tante der BF2) gegeben habe.

Nach einer Knieoperation der BF2 habe sich ebendort Flüssigkeit angesammelt. Die Operation am Rücken habe wiederholt werden müssen, da die eingesetzten Stifte gebrochen wären und sich in den Muskel gebohrt hätten.

Der Grund der Ausreise sei gewesen, dass die letzte Operation der BF2 in der XXXX nach Meinung der BF1 nicht gelungen sei. Die BF2 hätte die Aufwachphase sehr schwer durchgestanden und hätte Komplikationen aufgrund der Anästhesie gehabt. Die BF2 wäre fast verstorben, wenn die BF1 nicht in die Apotheke gefahren und ein Medikament geholt hätte.

Die BF2 habe nach der Operation keine Fortschritte gemacht und könne weder aufstehen, noch laufen. Die Ärzte im Herkunftsstaat hätten der BF2 spezielle Behandlungen bei einem Physiotherapeuten in Aussicht gestellt. Sie hätte bei einem speziell ausgebildeten Physiotherapeuten Übungen machen müssen, weil die BF2 „Implantate“ hätte. Solche Therapeuten hätten die Ärzte jedoch nicht nennen können. Eine Physiotherapie sei erforderlich, damit die BF2 selbstständig gehen könne. Die Kosten der Physiotherapie würden XXXX pro Woche belaufen. Wie lange diese dauern würde, könne nicht abgeschätzt werden.

Die Ärzte im Herkunftsstaat hätten der BF1 gesagt, dass die Krankheit der BF2 sich über ihr gesamtes Leben erstrecken werde.

In ihrem Herkunftsort hätte sie eine Masseurin gefunden, welche bei der Tochter für XXXX zehn Massagen durchgeführt hätte. Solche Massagen müssten jedoch für eine längere Zeit durchgeführt werden, jedoch reiche das Geld der BF1 nicht, um die erforderlichen Massagen zu gewährleisten. Wohltätige Organisationen im Herkunftsstaat würden vorrangig krebskranken Kindern helfen. Die BF2 müsste auch zusätzlich mit Begleitung schwimmen.

Aktuell nehme die BF2 keine Medikamente, sie habe nach der Operation im Herkunftsstaat Antibiotika und Vitamine genommen.

Die BF1 hätte keinerlei sonstigen Probleme im Herkunftsstaat.

Die Tochter sei in Österreich nicht behandelt worden. Ein Krankenhaus in XXXX hätte der BF1 gesagt, dass sie bereit wären, die BF zu behandeln. Sie hätten dies jedoch noch nicht wahrgenommen. Demnächst würden die BF in eine bessere Umgebung verlegt werden.

Der BF2 fehle die Schule und der Kontakt zu anderen Kindern im Herkunftsstaat.

Die BF1 wäre nicht abgeneigt, für ein paar Stunden im Bundesgebiet zu arbeiten. Aber man habe ihr gesagt, dass sie die BF2 nicht unbeaufsichtigt lassen solle.

2.1. Die BF2 gab in der niederschriftlichen Einvernahme an, dass sie gerne in die Schule gegangen sei (Akt BF1, AS 83). Aufgrund ihrer Operationen habe es Schulunterbrechungen gegeben. Sie kenne physiotherapeutischen Übungen für ihre Beine, es sei jedoch schwer diese alleine durchzuführen. Sie führe diese Übungen mit Hilfe ihrer Mutter, der BF1, durch.

2.2. Vorgelegt ein als „Rechtsspruch im Namen der XXXX “ titulierter Schriftsatz in der XXXX Sprache, datiert auf den XXXX , XXXX , und eine diesbezügliche Übersetzung (Akt BF1, AS 89-96), welcher im Wesentlichen zu entnehmen ist, dass die BF1 bei dem XXXX , die Scheidung vom als Antragsgegner bezeichneten XXXX eingereicht und um Zwangsvollstreckung wegen des nicht bezahlten Unterhalts für die Tochter XXXX in Höhe von XXXX , beginnend am dem XXXX bis zu der Volljährigkeit der BF2, sowie „ XXXX “ in der Höhe von XXXX für die Dauer des Betreuungsunterhalts der BF2, ersucht.

Der vormalige Ehemann unterstütze die Familie nicht, obwohl er solche Möglichkeiten hätte.

Der Antragsgegner habe die Klageforderungen in der Verhandlung anerkannt und habe keine Einwände dagegen erhoben.

Die BF1 sei beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialschutz der Bevölkerung bei der XXXX Stadtverwaltung eingetragen und erhalte aufgrund der Behinderung der BF2 eine monatliche Zulage von XXXX .

Das Gericht gäbe der Klageforderung statt und komme zu dem Schluss, dass der Kindsvater der BF2, XXXX , der BF1 monatlich einen Unterhaltsbetrag von XXXX bis zur Volljährigkeit der BF2 zahlen müsse.

Darüber hinaus sei der Kindsvater verpflichtet, der BF1 namens XXXX eine materielle Unterstützung in Höhe von XXXX bis zur Beendigung des Zusammenlebens mit der BF2 zu leisten.

Das Urteil sei unverzüglich zu vollstrecken.

2.2.1. Beigelegt wurde weiters ein als „Berechnung des Unterhaltsrückstandes“ bezeichnetes Schreiben, datiert mit XXXX , welchem im Wesentlichen zu entnehmen ist, dass der Kindsvater der BF2 von XXXX keine Unterhaltsleistungen an die BF1 erbracht habe (Akt der BF1, AS 101f).

2.3. Weiters wurden Kopien der Geburtsurkunden der BF1 und BF2, sowie Kopien von Befunden betreffend der BF2 in XXXX Sprache samt Übersetzungen vorgelegt (Akt der BF1, AS 97-99 und AS 103-161).

3. Mit den angefochtenen Bescheiden des BFA vom XXXX , Zlen. 1.) XXXX und 2.) XXXX , wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat XXXX abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ferner wurde den BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), sowie festgestellt, dass ihre Abschiebung in die XXXX zulässig sei (Spruchpunkt V.). Einer Beschwerde gegen diese Bescheide wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VII.).

Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass die BF XXXX Staatsangehörige, katholischen Glaubens seien. Die BF1 und die BF2 würden an keiner lebensbedrohlichen Krankheit leiden. Bei der BF2 würden eine spastische Paraparese, Klumpfüße, eine Funktionsstörung der Hüftgelenke und eine Kontraktur (Versteifung) der Knie- und Fußgelenke vorliegen. Als Kind sei bei der BF2 eine „Spina bifida“ festgestellt worden. Die BF2 könne selbstständig sitzen, jedoch nicht stehen oder gehen. Die bei der BF2 vorgelegene Skoliose sei durch chirurgische Eingriffe korrigiert worden.

Der BF1 stehe bei einer Rückkehr offen, die BF2 im Rahmen des XXXX Gesundheitssystems behandeln zu lassen, wie sie es bereits vor ihrer Ausreise gemacht hätte. Der Grund für die Ausreise der BF aus dem Herkunftsstaat gründe sich rein in dem Wunsch auf eine kostenlose, bessere medizinische Versorgung für die BF2. Die BF1 habe weder für sich noch für die BF2 konventionsrelevante Tatbestände vorgebracht.

Die BF würden über soziale und familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat verfügen und ebendort Unterstützungs- und Unterkunftsmöglichkeiten vorfinden und somit bei einer Rückkehr in die XXXX in keine existenzbedrohende Notlage geraten.

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass die BF keine in der GFK fundierten Verfolgungsbehauptungen geltend gemacht hätten und sie ihre Einreise in das Bundesgebiet einzig auf die Behandlungsbedürftigkeit der BF2 gestützt haben.

Es sei nicht die Aufgabe eines Mitgliedstaates, Ungleichheiten im medizinischen Fortschritt durch die Gewährung von kostenloser und unbeschränkter Gesundheitsversorgung für alle Fremden ohne Aufenthaltsrecht auszugleichen. Dies gelte auch, wenn eine Krankheit eine verringerte Lebenserwartung verursacht und eine spezielle Behandlung erfordert, welche nicht ohne Weiteres und nur zu beträchtlichen Kosten erhältlich sei.

Die BF würden an keiner akut lebensbedrohlichen Erkrankung leiden. Die BF2 nehme aktuell keine Medikamente ein.

Die BF2 würde in der XXXX die erforderliche Behandlung erhalten (Akt BF2, AS 168ff). Die bei der BF2 festgestellte „Spina bifida occulta“ sei dadurch gekennzeichnet, dass sich ein zweigespaltener Wirbelbogen finde, ohne dass das Rückenmark mit seinen Rückenmarkshäuten beteiligt sei, weshalb sie nicht von außen sichtbar sei. Die „Spina bifida occulta“ sei recht häufig und habe in der Regel medizinisch keine besondere Bedeutung, weshalb eine Behandlung auch nicht nötig sei.

Die BF2 leide jedoch weiters unter spastischer Paraparese (Paraplegie wäre eine totale Lähmung). Dieses Krankheitsbild habe als wichtigstes Erkrankungsphänomen eine progressive Spastizität der unteren Extremität und werde von Muskelschwäche und Hyperreflexie begleitet. Zusätzlich können Parästhesien und Blasenentleerungsstörungen bestehen. Der individuelle Verlauf sei sehr unterschiedlich und reiche von langsamer Progression mit kompensierbaren Einschränkungen (Gehhilfen) bis zum schnellen Voranschreiten der Erkrankung mit deutlichen Behinderungen (Rollstuhl). (Quelle: https://flexikon.doccheck.com/de/Heredit%C3%A4re_spastische_Paraplegie, letzter Aufruf: 16.07.2021). Im Falle der BF2 könne sie zwar selbstständig sitzen, jedoch nicht stehen oder gehen. Bei ihr handle es sich nicht um eine komplette Lähmung (Paraplegie), sondern um eine inkomplette Lähmung (Paraparese) der unteren Extremität. Die Erkrankungen seien derzeit zumeist nur symptomatisch, aber nicht kausal behandelbar. Die Behandlung erfolge daher durch Krankengymnastik sowie, wenn notwendig, zusätzliche Medikamente (orale antispastische Medikamente, Muskelrelaxate). Die Erkrankung führe somit zu einer Einschränkung der Lebensqualität, sei jedoch nicht heilbar.

Eine diesem Krankheitsbild entsprechende Behandlung sei im Herkunftsstaat verfügbar. In Frage kämen eine Physiotherapie mit Massagen, welche die BF2 bereits im Herkunftsstaat erhalten habe. Weiters seien der BF1 Übungen durch die Ärzte beziehungsweise einem Masseur gezeigt worden, welche die BF1 mit ihr durchführen könne. Es seien keine Gründe ersichtlich, weshalb die BF diese Behandlung in der XXXX nicht fortsetzen könnten. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwer zugänglich oder kostenintensiver sei, sei unerheblich, solange es grundsätzliche Behandlungsmöglichkeiten gebe.

Hinsichtlich der Funktionsstörung der Hüftgelenke und der Versteifung der Knie- und Fußgelenke wurde weiters angeführt, dass diese, genau wie die Erkrankung an Klumpfüßen, nicht lebensbedrohlich seien, und in ihrem Herkunftsstaat behandelt werden könnten.

Jedenfalls seien in der XXXX die notwendigen Operationen durchgeführt worden. So sei bei der BF2 beispielsweise die Strayer-Operation (eine Achillessehnenverlängerung) im XXXX durchgeführt und die Skoliose durch eine Operation im Jahre XXXX , bei welcher Stifte in ihren Rücken eingesetzt wurden, korrigiert worden. Diese Stifte wären im Jahre XXXX ersetzt worden. Die letzte Operation im XXXX habe eine Fehlstellung der Kniescheibe korrigiert und eine Wachstumszone im linken Oberschenkel geschlossen.

Die Materialien für die durchgeführten Operationen seien durch die öffentliche Hand finanziert worden. Auch seien die BF betreffend diese Operationen in der XXXX durch ihre Verwandten finanziell unterstützt worden.

Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb aktuell und akut eine Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen würde, zumal die Operationen in der XXXX durchgeführt worden seien und die BF2 Behandlungen erhalten habe.

Es würden sich weiters keine Anhaltspunkte ergeben, wonach die BF nicht in der Lage wären ihre Grundbedürfnisse – erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme von humanitärer Hilfe – zu decken.

Die BF1 habe staatliche Unterstützung für die BF2 sowie für ihre Pflege erhalten und in einer Eigentumswohnung der Eltern der BF1 bzw. Großeltern der BF2 gelebt. Es sei kein Grund ersichtlich, wonach es den BF nicht auch zukünftig möglich sein sollte, den Lebensunterhalt derart zu bestreiten.

Im Falle einer beruflichen Tätigkeit der BF1 könnten Verwandte die BF2 beaufsichtigen.

Es sei folglich nicht davon auszugehen, dass die BF sich bei einer Rückkehr in einer derartigen Notlage befinden würden, die mit einer massiven Bedrohung der Lebensgrundlage gleichzusetzen wäre.

Weiters würden Eltern von invaliden Kindern und Kindern mit Behinderung unter bestimmten Bedingungen einen Anspruch auf Pflegegeld und einige Begünstigungen im Herkunftsstaat haben.

Aufgrund der sehr kurzen Aufenthaltsdauer sei auch kein Eingriff in das Privat- und Familienleben der BF festzustellen, zumal beide BF von der Rückkehrentscheidung betroffen seien.

3.1. Das BFA stellte den BF amtswegig einen Rechtsberater zur Seite.

4. Mit Schriftsatz vom XXXX erhoben die BF, vertreten durch die XXXX , binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde, welche sich explizit gegen Spruchpunkt II.-VII. des belangten Bescheids richtete. Dabei wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass sich die belangte Behörde nicht umfassend mit der gesundheitlichen Situation der BF2 auseinandergesetzt habe und die in deutscher Sprache übersetzten medizinischen Unterlagen völlig außer Acht gelassen habe. Es seien keinerlei Ermittlungen angestellt worden, ob die von der BF1 erwähnte Operation und Therapie tatsächlich als letzte, notwendige lebensrettende Form der medizinischen Behandlung erforderlich und medizinisch indiziert wären, ohne welche eine rapide und irreversible Gesundheitsverschlechterung die Folge und mit intensivem Leiden oder mit einer signifikanten Verkürzung der Lebenserwartung verbunden wäre. Die Behörde habe nicht ermittelt, welche Therapien der BF2 in der XXXX zur Verfügung stünden und welche Behandlung oder Therapie im Bundesgebiet geplant sei.

Die BF würden sich für den Fall einer Rückkehr in eine aussichtslose Lage begeben, da sie weder die Lebenskosten, noch die Kosten der medizinischen Versorgung bestreiten könnten. Bei fehlender oder unzureichender Behandlung der Krankheit „Spina bifida“ bestehe die Gefahr, dass diese „ihr Leben verliere“.

Die „Spina bifida“ sei ein offener Rücken, eine Fehlbildung im Bereich der Wirbelsäule und des Rückenmarks. Unbehandelt könne diese Krankheit zu Epilepsie, Seh- oder Hörstörungen und Hirnschädigungen führen. Viele Kinder mit einem „offenen Rücken“ würden an einer Latexallergie leiden, weil diese vermutlich während der Operationen und medizinischen Behandlungen diesem Material häufig ausgesetzt wären. Die BF2 könnte „ihr Leben verlieren“, weil die lebensnotwendige Therapie nicht leistbar sei. Die BF1 habe alle Kosten privat bezahlen müssen und habe sich die Therapie im Herkunftsstaat nicht mehr leisten können.

4.1. Dem Beschwerdevorbringen wurde ein Ambulanter Arztbrief XXXX , datiert mit XXXX , betreffend die BF2 beigelegt, welchem unter dem Titel „Diagnose“ folgendes zu entnehmen ist:

- Zustand nach „Spina bifida occulta“,

- neurogene Harnblaseninkontinenz,

- chronische Obstipation,

- Paraparese der unteren Extremität,

-neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung.

Als Therapie habe die BF am Untersuchungstag einen Einlauf mit 200 ml Ringer-Glycerin erhalten. XXXX und ein Erleichterungsgefühl angegeben.

Der Anamnese ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass bei der BF2 vor ihrer Geburt im Mutterleib eine „Spina bifida“ diagnostiziert worden sei. Die BF1 habe berichtet, dass die Läsion gedeckt gewesen sei. Die erste Operation bei der BF2 sei im Alter von sechs Monaten im Herkunftsstaat durchgeführt worden. Die BF2 habe im Säuglingsalter eine relativ unauffällige Entwicklung durchlebt. Dann sei eine weitere Operation an der Wirbelsäule vorgenommen worden, um die „Knochen zu stabilisieren“. Danach wäre die Beinfunktion „nicht mehr so gut“ gewesen.

In einer durchgeführten Sonografie nach der Geburt der BF2, hätte sie keine Harnwegsinfekte gehabt. Die Blasentleerung bei der BF2 sei immer aktiv und problemlos erfolgt. Bei der Darmentleerung seien manchmal Einläufe erforderlich gewesen.

Die BF2 benötige keine medikamentöse Dauertherapie.

Die BF2 habe nach Angaben der BF1 die dritte Klasse einer Grundschule im Herkunftsstaat erfolgreich abgeschlossen und sei eine gute Schülerin.

4.2. Die Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide erwuchsen mangels Beschwerdeerhebung in Rechtskraft.

5. Mit Beschwerdevorlage vom XXXX legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Bezug habenden Verwaltungsunterlagen dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vollständig vor.

6. Am XXXX reichten die BF einen Befund des Landeskrankenhauses XXXX betreffend die BF2, datiert mit XXXX , nach, welchem unter „Diagnose“ folgendes zu entnehmen ist (Akt BF1 OZ 4):

- Spina bifida occulta,

- Status post (in der Folge: St.p.) Spondylodese XXXX und Revision XXXX in der XXXX ,

- St.p. operativer Korrektur einer Patellalux. Links, in der Ukraine Klumpfuß fixiert rechts,

- Spitzfuss links bei St.p. kongenitalem Klumpfuß bds.

Unter dem Titel „Therapie“ ist dem Befund folgendes zu entnehmen:

„Die Familie gibt an, in Österreich zu leben und auch hier bleiben zu wollen. Sie sei hier krankenversichert. Zunächst Einleitung einer Hilfsmittelversorgung mittels Aktivrolli“

Unter dem Titel „Procedere“ ist dem Befund zu entnehmen, dass im ambulanten Rahmen eine Ergo- und Physiotherapie empfohlen werde und ein „Akitvrolli“ bei der Krankenkasse durch „ XXXX “ angesucht werde. Eine Weiterbetreuung in der neuroorthopädischen Ambulanz werde empfohlen. Von kinderorthopädischer Seite sollte die Metallentfernung um das linke Kniegelenk geplant werden. Auch eine Klumpfußkorrektur komme mittelfristig durchaus in Frage.

Unter dem Titel „Anamnese“ ist dem Befund im Wesentlichen zu entnehmen, dass die BF2 sich seit circa vier Wochen im Bundesgebiet befindet. Die BF würden die deutsche Sprache nicht beherrschen, weshalb die Anamnese über eine Dolmetscherin für die Sprache Russisch erfolge. Offensichtlich sei die BF2 mit einer Spina bifida occulta geboren. Es sei im weiteren Wachstumsverlauf zu einer Gibbusbildung gekommen, sodass XXXX eine Wirbelkörperresektion und XXXX eine Revision im Herkunftsland durchgeführt worden sei. Zusätzlich sei wegen Patellalux. eine Knieoperation links durchgeführt worden. Postnatal habe die BF2 unter Klumpfüßen gelitten, welche ebenfalls in der XXXX behandelt worden seien. Eine Hilfsmittelversorgung bestehe nach Angaben der BF1 derzeit nicht.

Unter dem Titel „klinischer Befund“ ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass der Oberkörper der BF2 „gedrungen“ sei. Die Narbe im Rücken sei reizlos, die Wirbelsäule im Sitzen klinisch soweit in der „ap-Ebene“, seitlich bestehe eine Kyphose. Im Liegen bestehe eine Kontraktur bds. IIiopsoas. von jeweils zehn Grad. Die Rotation der Hüften sei stgl. deutlich eingeschränkt. Die Beinachse sei soweit in der Frontalebene gerade, links besteht an der proximalen Tibia eine deutliche Retrokurvation. Der linke Fuß sei geradegestellt, rechts bestehe eine fixierte Klumpfußdeformation. Die Qudricepsmuskulatur könne aktiv nicht angesteuert werden, die Zehen könnten angedeutet bewegt werden. Sie Sensibilität sei- wenn auch reduziert- an beiden UE grob vorhanden. ASR und PSR könnten bds. nicht ausgelöst werden, im Liegen komme es zu einer intermittierenden Spastik, die aber offensichtlich nur die Wadenmuskulatur betreffe.

6.1. Mit Schriftsatz vom XXXX wurde ein Schreiben mit dem Titel „Betreff. Stellungnahme Sonderbetreuungsbedarf“, datiert mit XXXX und gezeichnet mit XXXX , Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie in XXXX , nachgereicht, welchem zu entnehmen ist, dass bei der BF2 „ein Zustand nach mehrmaligen Rückenoperationen und Lähmung der unteren Gliedmaße“ bestehe (OZ 5).

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte betreffend der BF1 eine Strafregisterabfrage durch. Es scheinen keine Verurteilungen der BF1 auf.

Die BF2 ist strafunmündig.

II. Für das Bundesverwaltungsgericht ergibt sich daraus wie folgt:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person der BF

1.1.1. Die BF sind Staatsangehörige der XXXX , katholischen Glaubens. Die BF beherrschen die XXXX und die russische Sprache.

1.1.2. Die BF1 ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Sie ist in XXXX (andere Schreibweise im Akt: XXXX ) geboren und hat im Herkunftsstaat eine höhere Schulbildung genossen.

Sie ging im Herkunftsstaat einer Beschäftigung als Bankangestellte nach und verrichtete auch Gelegenheitsarbeiten. Weiters war sie im Jahre XXXX drei Monate lang als Saisonarbeiterin in der XXXX tätig.

Die Ehe der BF1 mit dem Vater der minderjährigen BF2 wurde vor ihrer Ausreise geschieden. Der Kindsvater der BF2 ist nach Urteil des XXXX bis zur Volljährigkeit der BF2 zu einer monatlichen Zahlung eines Unterhaltsbetrages an die BF1 verpflichtet. Weiters hat der Kindsvater der BF1 -bis zur Beendigung des gemeinsamen Zusammenlebens mit der BF2-monatlich Unterhalt zu leisten. Der Kindsvater lebt aktuell im Herkunftsstaat.

Die BF1 hat vor Ihrer Ausreise im Herkunftsstaat regelmäßig staatliche Leistungen für die Betreuung der BF2 sowie eine Invaliditätspension für die minderjährige BF2 erhalten.

Die BF1 leidet an keiner akut lebensbedrohlichen Erkrankung. Sie ist gesund.

1.1.3. Die BF2 ist die leibliche Tochter der BF1.

Sie ist minderjährig, schulpflichtig und besuchte im Herkunftsstaat regelmäßig die Schule. Im Bundesgebiet hat sie keine (schulische) Ausbildung wahrgenommen.

Die BF2 leidet an keiner akut lebensbedrohlichen Erkrankung. Bei ihr wurde bereits pränatal das Vorliegen einer „Spina bifida occulta“ festgestellt. Sie leidet gegenwärtig an einer Paraparese der unteren Extremitäten und angeborenen Klumpfüßen, sowie einer Funktionsstörung der Hüftgelenke und Versteifung der Knie- und Fußgelenke.

Die BF2 ist seit ihrer Geburt bei einem Neurochirurgen und einem Neurologen im XXXX , sowie auch in XXXX in Behandlung.

Die BF2 wurde im Herkunftsstaat seit dem sechsten Lebensmonat mehrmals operiert. Bei den durchgeführten Behandlungen und Operationen wurden die BF von ihren Verwandten finanziell unterstützt.

Bei der BF2 wurden im Herkunftsstaat weiters durch eine „Spezialistin“ Massagen zur Muskelstärkung durchgeführt. Die BF1 führt selbstständig mit der BF2 weiters physiotherapeutischen Übungen durch.

Die BF2 wird aktuell nicht medikamentös behandelt.

Die BF2 hat vor ihrer Ausreise aufgrund ihrer Erkrankung an „Spina bifida occulta“ staatliche, soziale Unterstützungsleistungen in der XXXX erhalten.

1.1.4. Vor ihrer Ausreise aus der XXXX lebten die BF in XXXX in der Eigentumswohnung der Eltern der BF1. Ebendort sind aktuell weiterhin die Eltern wohnhaft.

Weiters leben der Bruder der BF1 mit seiner Kernfamilie, sowie die Tante der BF2 väterlicherseits im Herkunftsstaat.

Die BF stehen in regelmäßigem Kontakt zu ihren Verwandten im Herkunftsstaat.

1.2. Zur maßgeblichen, entscheidungsrelevanten Situation XXXX

Aus den ins Verfahren eingeführten und im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 08.06.2021 (in der Folge: „LIB“) zitierten Länderberichte zur Lage in der XXXX ergibt sich Folgendes:

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage
XXXX ist eine Stadt im XXXX .

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil.

Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020),).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj; vgl. Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1).

1.2.2. Grundversorgung

Die makroökonomische Lage hat sich nach schweren Krisenjahren stabilisiert. Ungeachtet der durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen Umstände wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von 3,3% erzielt, das 2019 auf geschätzte 3,6% angestiegen ist. Die Staatsverschuldung ist in den letzten Jahren stark angestiegen und belief sich 2018 auf ca. 62,7% des BIP (2013 noch ca. ein Drittel). Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 29.2.2020).

Die EU avancierte zum größten Handelspartner der Ukraine. Der Außenhandel mit Russland nimmt weiterhin ab. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU regelt das Assoziierungsabkommen, das am 1. September 2017 vollständig in Kraft getreten ist (GIZ 3.2020b).

Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom, Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung (AA 29.2.2020; vgl. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2018): Länderinformationsportal, Ukraine, Alltag).

Die Situation, gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kindern, bleibt daher karg. Die Ukraine gehört trotzt zuletzt deutlich steigender Reallöhne zu den ärmsten Ländern Europas. Das offizielle BIP pro Kopf gehört zu den niedrigsten im Regionalvergleich und beträgt lediglich ca. 3.221 USD p.a. Ein hoher Anteil von nicht erfasster Schattenwirtschaft muss in Rechnung gestellt werden (AA 29.2.2020).

Die Mietpreise für Wohnungen haben sich in den letzten Jahren in den ukrainischen Großstädten deutlich erhöht. Wohnraum von guter Qualität ist knapp (GIZ 12.2018). Insbesondere alte bzw. schlecht qualifizierte und auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbare Menschen leben zum Teil weit unter der Armutsgrenze Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020b): Länderinformationsportal, Ukraine, Wirtschaft & Entwicklung). Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen Gebieten oft Selbstversorger, Schattenwirtschaft) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig (Mindestrente zum 1. Dezember 2019: 1.638 UAH (ca. 63 EUR) (AA 29.2.2020).

Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland, zurückbleiben, spielt Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle (Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine).

Das, ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte, ukrainische Sozialversicherungssystem umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem einiges verändert, darunter Anspruchsanforderungen, Finanzierung des Systems und beim Versicherungsfonds. Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP im Jahr 2013 auf 18,5% im Jahr 2015 und danach weiter auf 17,8%. Dies ist vor allem auf Reduktion von Sozialleistungen, besonders der Pensionen, zurückzuführen. Das Wirtschaftsministerium schätzte den Schattensektor der ukrainischen Wirtschaft 2017 auf 35%, andere Schätzungen gehen eher von 50% aus. Das Existenzminimum für eine alleinstehende Person wurde für Jänner 2019 mit 1.853 UAH beziffert (ca. 58 EUR), ab 1. Juli 2019 mit 1.936 UAH (ca. 62 EUR) und ab 1. Dezember 2019 mit 2.027 (ca. 64,5 EUR) festgelegt. Alleinstehende Personen mit Kindern können in Form einer Beihilfe für Alleinerziehende staatlich unterstützt werden. Diese wird für Kinder unter 18 Jahren (bzw. StudentInnen unter 23 Jahren) ausbezahlt. Die Zulage orientiert sich am Existenzminimum für Kinder (entspricht 80% des Existenzminimums für alleinstehende Personen) und dem durchschnittlichen Familieneinkommen. Diese Form von Unterstützung ist mit einer maximalen Höhe von 1.626 UAH (ca. 50,8 EUR) für Kinder im Alter bis zu 6 Jahren, 2.027 UAH (ca. 63,3 EUR) für Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren bzw. 1.921 UAH (ca. 60 EUR) für Kinder im Alter von 18 bis 23 Jahren pro Monat gedeckelt. Außerdem ist eine Hinterbliebenenrente vorgesehen, die monatlich 50% der Rente des Verstorbenen für eine Person beträgt; bei zwei oder mehr Hinterbliebenen werden 100% ausgezahlt. Für Minderjährige gibt es staatliche Unterstützungen in Form von Familienbeihilfen, die an arme Familien vergeben werden. Hinzu kommt ein Zuschuss bei der Geburt oder bei der Adoption eines Kindes sowie die o.g. Beihilfe für Alleinerziehende. Der Geburtenzuschuss beträgt derzeit in Summe 41.280 UAH (ca. 1.288 EUR). Davon werden 10.320 UAH (ca. 322,15 EUR) in den zwei bis drei Monaten nach Geburt/Adoption ausgezahlt, die restliche Summe in gleichen Zahlungen von 860 UAH (ca. 26,85 EUR) monatlich im Laufe der folgenden drei Jahre. Laut geltenden ukrainischen Gesetzen beträgt die Dauer des Mutterschutzes zwischen 126 Tagen (70 Tage vor und 56 Tage nach der Geburt) und 180 Tagen (jeweils 90 Tage vor und nach der Geburt). Für diese Periode bekommen die Mütter ihren Lohn hundertprozentig ausbezahlt. In den nächsten drei Karenzjahren bekommen die Mütter keine weiteren Auszahlungen außer dem o.g. Geburtenzuschuss bzw. den finanziellen Zuschüssen für Alleinerziehende. Gesetzlich ist grundsätzlich ebenfalls die Möglichkeit einer Väterkarenz vorgesehen, wobei diese in der Praxis weiterhin kaum in Anspruch genommen wird. Versicherte Erwerbslose erhalten mindestens 1.440 UAH (ca. 45 EUR) und maximal 7.684 UAH (240 EUR) Arbeitslosengeld pro Monat, was dem Vierfachen des gesetzlichen Mindesteinkommens entspricht. Nicht versicherte Arbeitslose erhalten mindestens 544 UAH (ca. 17 EUR). In den ersten 90 Kalendertagen werden 100% der Berechnungsgrundlage ausbezahlt, in den nächsten 90 Tagen sind es 80%, danach 70%. Die gesetzlich verpflichtende Pensionsversicherung wird durch den Pensionsfonds der Ukraine verwaltet, der sich aus Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aus Budgetmitteln und diversen Sozialversicherungsfonds speist. Im Oktober 2017 nahm das ukrainische Parlament eine umfassende Pensionsreform an, die vor allem auch von internationalen Geldgebern zur Reduzierung des großen strukturellen Defizits gefordert wurde. Darin enthalten ist vor allem eine Anhebung der Mindestpension, welche von knapp zwei Drittel aller Pensionisten bezogen wird, um knapp 700 UAH (ca. 22 EUR). Ebenfalls vorgesehen ist eine automatische Indexierung der Mindestpension sowohl an die Inflationsrate, wie auch an die Entwicklung des Mindestlohns. Weiters wurde für arbeitende Pensionisten der Beitrag zur staatlichen Pensionsversicherung von 15% zur Gänze gestrichen. Das Pensionsantrittsalter wurde bei 60 Jahren belassen, die Anzahl an Beitragsjahren zur Erlangung einer staatlichen Pension wurde jedoch von 15 auf 25 Jahre erhöht und soll sukzessive bis 2028 weiter auf 35 Jahre steigen. Ebenfalls abgeschafft wurden gewisse Privilegien z.B. für öffentliche Bedienstete, Richter, Staatsanwälte und Lehrer. Im Jahr 2017 belief sich die Durchschnittspension auf 2.480,50 UAH (ca. 77 EUR), die durchschnittliche Invaliditätsrente auf 1.996,20 UAH (ca. 62,31 EUR) und die Hinterbliebenenpension auf 2.259,99 UAH (ca. 70,55 EUR). Viele Pensionisten sind dementsprechend gezwungen, weiterzuarbeiten. Private Pensionsvereinbarungen sind seit 2004 gesetzlich möglich. Die Ukraine hat mit 12 Millionen Pensionisten (knapp ein Drittel der Gesamtbevölkerung) europaweit eine der höchsten Quoten in diesem Bevölkerungssegment, was sich auch im öffentlichen Haushalt widerspiegelt: 2014 wurden 17,2% des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine für Pensionszahlungen aufgewendet (ÖB 2.2019; vgl. Ukraine Analysen (27.4.2018): Rentenreform).

Seit dem russisch-ukrainischen Krieg in der Ostukraine verschärfte sich die Lage der Bevölkerung in den Gebieten Donezk und Luhansk beträchtlich. Circa 3,5 Millionen Menschen sind auf die humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur in der Region ist zerstört, die Wirtschaft ist paralysiert, lediglich kleine und mittlere Unternehmen können überleben (GIZ 3.2020b). In den von Separatisten besetzten Gebieten in Donezk und Luhansk müssen die Bewohner die Kontaktlinie überqueren, um ihre Ansprüche bei den ukrainischen Behörden geltend zu machen (AA 29.2.2020).

1.2.3. Aktuelle Lage bei Arbeitslosigkeit und von Alleinerzieherinnen XXXX

Entsprechend des Art 46 der Verfassung der Ukraine haben Bürger das Recht auf sozialen Schutz, einschließlich des Rechtes auf Unterstützung im Falle des Eintretens der Arbeitslosigkeit. Dieses Recht wird garantiert durch die obligatorische, soziale Versicherung bestehend aus den Beiträgen der Bürger, der Unternehmen, der Behörden und Organisationen, sowie aus Budget- und sonstigen Quellen der sozialen Leistungen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes hängt von der Versicherungszeit, dem bisherigen Durchschnittsgehalt sowie von den Entlassungsgründen ab. Unter bestimmten Bedingungen bekommen Arbeitssuchende eine Mindestpauschale in Höhe von UAH 544. Die geltende Gesetzgebung sieht keine Begrenzung der Rechte auf die Unterstützung für Kinder von alleinerziehenden Müttern, die nicht arbeiten, vor. Als Alleinerziehende gilt, wer nicht verheiratet oder verwitwet ist (Antwort des Direktorats für Familie und soziale Unterstützung der Bevölkerung des Ministeriums für soziale Politik der Ukraine in Arbeitsübersetzung durch das Büro des BM.I-Verbindungsbeamten).

Alleinstehende Mütter haben unter gewissen Voraussetzungen ein Recht auf eine Alleinerzieherinnenbeihilfe. Ist das Kind unter 6 Jahre alt beträgt die Alleinerzieherinnenbeihilfe UAH 1.492; bei Kindern zwischen 6 und 18 Jahren UAH 1.860 und bei Kinder zwischen 18 und 23 Jahren UAH 1.762. (WFP-World Food Programme (1.2018), Studie zu sozialen Sicherheitsnetzen in der Ukraine anhand von Beispielen aus dem vom Konflikt betroffenen Donezkbecken, veröffentlicht am 15. Jänner 2018, Zugriff 26.11.2018).

1.2.4. Invalidenrente

Für Menschen mit einer Einschränkung („Behinderung“) ist eine Invalidenrente vorgesehen. Eltern von invaliden Kindern bzw. Kindern mit einer Einschränkung („Behinderung“) haben unter bestimmten Bedingungen einen Anspruch auf Pflegegeld und einige Begünstigungen (BM.I-Verbindungsbeamten für Ukraine durchgeführte Recherche).

Die Invalidenrente wird nach einer medizinischen und sozialen Fachuntersuchung gewährt; deren Höhe ist vom Invaliditätsgrad und Alter abhängig. Die Höhe der Mindestinvalidenrente beträgt UAH 1.373. Diejenigen, die keinen Anspruch auf Alters- oder Invalidenrente haben, können eine sogenannte Sozialrente erhalten. Dabei handelt es sich um eine monatliche Unterstützung, die bei Menschen mit Behinderung UAH 1.373 beträgt. Darüber hinaus gibt es sonstige Leistungen und Ausnahmeregelungen für bestimmte Personengruppen. In diesem Sinne können Menschen mit Behinderung beispielsweise Leistungen wie kostenlose Hilfsgeräte und Medikamente; Freizeitaktivitäten; öffentliche Verkehrsmittel; 50 Prozent Ermäßigung bei Langstreckenreisen innerhalb des Landes in Anspruch nehmen. Die Leistungen können von Menschen mit Behinderung unabhängig von ihrer Rente oder vom Empfang anderer Sozialleistungen beantragt werden. Die ukrainischen Sozialdienste gelten jedoch als unterfinanziert und nicht bedarfsorientiert.

Obwohl Menschen mit Behinderung im Sozialschutzsystem schon immer im Fokus standen, sind die Leistungen für sie nur schwach ausgebaut. Vor allem für auf Unterstützung angewiesene Personen, die betreutes Wohnen benötigen (Erwachsene mit einer Einschränkung („Behinderung“) 1. Grades und Kinder mit einer Einschränkung („Behinderung“) der Kategorie A). Betroffene Familien mit Kindern und Erwachsenen mit einer Einschränkung („Behinderung“) erhalten oft nur Sachleistungen, die die Bedürfnisse manchmal nicht befriedigen oder diesen nicht entsprechen (WFP-World Food Programme (1.2018), Studie zu sozialen Sicherheitsnetzen in der Ukraine anhand von Beispielen aus dem vom Konflikt betroffenen Donezkbecken, veröffentlicht am 15. Jänner 2018, Zugriff 26.11.2018).

1.2.5. Medizinische Versorgung

Das ukrainische Spitalswesen ist derzeit nach einem hierarchischen Dreistufenplan organisiert: die Grundversorgung wird in Rayonskrankenhäusern bereitgestellt. Das Rückgrat des ukrainischen Spitalswesens stellen die Distriktkrankenhäuser dar, die sich durch Spezialisierung in den verschiedenen medizinischen Disziplinen auszeichnen. Die dritte Ebene wird durch überregionale Spezialeinrichtungen und spezialisierte klinische und diagnostische Einrichtungen an den nationalen Forschungsinstituten des ukrainischen Gesundheitsministeriums gebildet. Ursprünglich als Speerspitze der Gesundheitsversorgung für komplizierte Fälle konzipiert, sind die Grenzen zwischen Einrichtungen der zweiten und dritten Ebene in letzter Zeit zunehmend verschwommen. Auch die laufende Dezentralisierungsreform dürfte in Zukunft Auswirkungen auf die Struktur des ukrainischen Gesundheitssystems haben. Aufgrund der dafür nötigen, jedoch noch nicht angenommenen Verfassungsänderung, bleibt diese Reform jedoch vorerst unvollendet, die Zusammenlegung von Gemeinden erfolgt bislang auf freiwilliger Basis. Von einigen Ausnahmen abgesehen, ist die technische Ausstattung ukrainischer Krankenhäuser als dürftig zu bezeichnen. Während die medizinische Versorgung in Notsituationen in den Ballungsräumen als befriedigend bezeichnet werden kann, bietet sich auf dem Land ein differenziertes Bild: jeder zweite Haushalt am Land hat keinen Zugang zu medizinischen Notdiensten. Die hygienischen Bedingungen, vor allem in den Gesundheitseinrichtungen am Land, sind oftmals schlecht. Aufgrund der niedrigen Gehälter und der starken Motivation gut ausgebildeter Medizinerinnen ins Ausland zu gehen, sieht sich das ukrainische Gesundheitssystem mit einer steigenden Überalterung seines Personals und mit einer beginnenden Ausdünnung der Personaldecke, vor allem auf dem Land und in Bereichen der medizinischen Grundversorgung, konfrontiert. Von Gesetzes wegen und dem ehemaligen sowjetischen Modell folgend sollte die Bereitstellung der jeweils nötigen Medikation – mit der Ausnahme spezieller Verschreibungen im ambulanten Bereich – durch Budgetmittel gewährleistet sein. In der Realität sind einer Studie zufolge in 97% der Fälle die Medikamente von den Patienten selbst zu bezahlen, was die jüngst in Angriff genommene Reform zu reduzieren versucht. Dies trifft vor allem auf Verschreibungen nach stationärer Aufnahme in Spitälern zu. 50% der PatientInnen würden demnach aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten eine Behandlung hinauszögern oder diese gänzlich nicht in Anspruch nehmen. In 43% der Fälle mussten die PatientInnen entweder Eigentum verkaufen oder sich Geld ausleihen, um eine Behandlung bezahlen zu können. In der Theorie sollten sozial Benachteiligte und Patienten mit schweren Erkrankungen (Tbc, Krebs, etc.) von jeglichen Medikamentenkosten, auch im ambulanten Bereich, befreit sein. Aufgrund der chronischen Unterdotierung des Gesundheitsetats und der grassierenden Korruption wird das in der Praxis jedoch selten umgesetzt (ÖB 2.2019).

Ende 2017 wurde eine umfassende Reform des ukrainischen Gesundheitssystems auf die Wege gebracht. Eingeführt wird unter anderem das System der „Familienärzte“. Patienten können in dem neuen System direkt mit einem frei gewählten Arzt, unabhängig von Melde- oder Wohnort, eine Vereinbarung abschließen und diesen als Hauptansprechpartner für alle gesundheitlichen Belange nutzen. Ebenfalls ist eine dringend nötige Modernisierung der medizinischen Infrastruktur in ländlichen Regionen vorgesehen und ein allgemeiner neuer Zertifizierungsprozess inklusive strikterer und transparenterer Ausbildungsanforderungen für Ärzte vorgesehen. Weiters sind ukrainische Ärzte nunmehr verpflichtet, internationale Behandlungsprotokolle zu befolgen. Die Umsetzung der Reform schreitet nur schrittweise voran und wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Im März 2018 wurde ein Nationaler Gesundheitsdienst gegründet, der in Zukunft auch als zentrales Finanzierungsorgan für alle (öffentlichen und privaten) ukrainischen Gesundheitsdienstleister dienen und die Implementierung der Gesundheitsreform vorantreiben soll (ÖB 2.2019).

Im Rahmen der seit 2018 eingeleiteten Reform des Gesundheitswesens wird das sowjetische Finanzierungsmodell pauschaler Vorhaltfinanzierung medizinischer Einrichtungen schrittweise abgeschafft und stattdessen ein System der Vergütung konkret erbrachter medizinischer Leistungen eingeführt. Der neu geschaffene Nationale Gesundheitsdienst (NGD) hat dabei die Funktion einer staatlichen, budgetfinanzierten Einheitskrankenversicherung übernommen. 2018/2019 wurde in einer ersten Phase der Gesundheitsreform die primärmedizinische/ hausärztliche Versorgung auf Finanzierung über den NGD umgestellt. Der NGD übernimmt auch die Kostenerstattung für rezeptpflichtige staatlich garantierte Arzneien (ca. 300 gelistete Arzneien gegen Herz-/Gefäßkrankheiten, Asthma und Diabetes II). Die Datenbank des NGD umfasst zurzeit 1.464 primärmedizinische Einrichtungen (davon 167 Privatambulanzen und 248 private Ärztepraxen) sowie ca. 29 Millionen individuelle Patientenverträge mit Hausärzten, d.h. das neue System staatlich garantierter medizinischer Dienstleistungen und Arzneien erreicht mittlerweile knapp 70% der Einwohner. Ab April 2020 soll die Reform auf die fachmedizinische Versorgung (Krankenhäuser) erweitert werden. Soweit die Gesundheitsreform noch nicht vollständig umgesetzt ist, ist der Beginn einer Behandlung in der Regel auch weiterhin davon abhängig, dass der Patient einen Betrag im Voraus bezahlt oder Medikamente und Pflegemittel auf eigene Rechnung beschafft. Neben dem öffentlichen Gesundheitswesen sind in den letzten Jahren auch private Krankenhäuser bzw. gewerblich geführte Abteilungen staatlicher Krankenhäuser gegründet worden. Die Dienstleistungen der privaten Krankenhäuser sind außerhalb des NGD jedoch für die meisten Ukrainer nicht bezahlbar. Gebräuchliche Medikamente werden im Land selbst hergestellt. Die Apotheken halten teilweise auch importierte Arzneien vor (AA 29.2.2020).

Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, in denen überlebenswichtige Maßnahmen durchgeführt und chronische, auch innere und psychische Krankheiten behandelt werden können, existieren sowohl in der Hauptstadt Kiew als auch in vielen Gebietszentren des Landes. Landesweit gibt es ausgebildetes und sachkundiges medizinisches Personal (AA 29.2.2020). Die medizinische Versorgung entspricht jedoch nicht immer westeuropäischem Standard. Außerhalb der großen Städte, insbesondere in den Konfliktregionen im Osten, ist sie häufig unzureichend (AA – Auswärtiges Amt (25.5.2020): Ukraine: Reise- und Sicherheitshinweise). Die medizinische Versorgung ist nur beschränkt gewährleistet. Krankenhäuser verlangen eine finanzielle Garantie, bevor sie Patienten behandeln (Kreditkarte oder Vorschusszahlung). Die Verfassung der Ukraine sichert zwar jedem Bürger eine kostenlose gesundheitliche Versorgung zu (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2019): Länderinformationsportal, Ukraine, Gesellschaft; vgl. AA 29.2.2020), doch sieht die Realität anders aus. Fast alle Dienstleistungen der medizinischen Versorgung müssen privat bezahlt werden (GIZ 12.2019). Patienten müssen in der Praxis also die meisten medizinischen Leistungen und Medikamente informell aus eigener Tasche bezahlen (BDA - Belgian Immigration Office via MedCOI (21.3.2018): Question & Answer, BDA-6768); die Kosten für Medikamente müssen also auch in staatlichen Krankenhäusern vom Patienten selbst getragen werden (EDA – Eidgenössisches Department für auswärtige Angelegenheiten (25.5.2020): Reisehinweise Ukraine). Ein System der Krankenversicherungen existiert nur auf lokaler Ebene als Pilotprojekte. Durch die politische und wirtschaftliche Instabilität ist das Gesundheitswesen in der Ukraine chronisch unterfinanziert. Auch wenn die elementare Versorgung für Patienten gewährleistet werden kann, fehlt es vielen Krankenhäusern und Polikliniken an modernen technischen Geräten und speziellen Medikamenten. Die Löhne im Gesundheitsbereich sind besonders niedrig und die Korruption ist in diesem Sektor daher hoch (GIZ 12.2019).

Im Gesundheitsbereich bestehen nach Feststellungen der UN sowie des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) insbesondere entlang der Kontaktlinie zu den von Separatisten besetzten Teilen der Gebiete Luhansk und Donezk sowie in den besetzten Gebieten substantielle (z.T. gravierende) Defizite. Diese betreffen sowohl den zumutbaren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen bzw. -dienstleistungen (auch Notfallmedizin, Erstversorgung und Diagnose) als auch die Versorgung mit Medikamenten. Zahlreiche medizinische Versorgungseinrichtungen wurden durch Kampfhandlungen beschädigt oder zerstört. In der „Grauen Zone“ entlang der Kontaktlinie sind knapp 60% der Haushalte (überwiegend alte, chronisch kranke Menschen, darunter überproportional viele mit Behinderungen und Mobilitätseinschränkungen) von solchen Zugangsbeschränkungen betroffen. Die mit Konfliktbeginn einsetzende Abwanderung von medizinischem Personal kommt erschwerend hinzu. Mit Fortdauer des Konflikts steigt die Zahl der traumatherapie- und behandlungsbedürftigen Menschen rasant. Darunter sind neben den direkten Konfliktopfern die zahlreichen Veteranen, Binnenvertriebene, Opfer von Minen, Sprengfallen und nicht explodierten Kampfmitteln sowie Opfer von häuslicher Gewalt (AA 29.2.2020).

1.2.6. Aktuelle Lage betreffend COVID-19 in der Ukraine

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.

In der Ukraine sind bislang 2,290,848 Personen an COVID-19 erkrankt und insgesamt 53,877 Personen daran verstorben (Quelle: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/coronavirus-disease-answers?query=ukraine&referrerPageUrl=https%3A%2F%2Fwww.who.int%2Femergencies%2Fdiseases%2Fnovel-coronavirus-2019%2Fcoronavirus-disease-answers&verticalUrl=casesByCountry).

Impfungen erfolgen in der Ukraine freiwillig und sind kostenlos (GM – Gesundheitsministerium [Ukraine] (8.5.2021): ??? ??? ?????????? ??? COVID-19 ? ??????? [Alles über die COVID-19-Impfung in der Ukraine]).

Am 24.2.2021 begannen in der Ukraine die Covid-Impfungen und aktuell die Impfstoffe AstraZeneca, SinoVac und Pfizer in Verwendung. Seit dem 24.4.2021 befindet sich die Ukraine in der zweiten Phase der Impfstrategie und verabreicht Impfungen an medizinisches Personal, Militärpersonal und ältere Personen (KP – Kyiv Post (10.5.2021): COVID-19 in Ukraine: 2,817 new cases, 119 new deaths, 1,004 new vaccinations). Die Impfungen werden vorwiegend von mobilen Impfteams durchgeführt (UA 28.4.2021; vgl. Gov.ua 10.5.2021).

Mit Stand 8.5.2021 erhielten 862.639 Personen die erste Teilimpfung und 446 Personen bereits die zweite Teilimpfung (GM 8.5.2021). Es wurden bisher 9.668.937 PCR-Tests durchgeführt (Gov.ua – Regierungsportal [Ukraine] (10.5.2021): ?????????? ?????????? ??? ????????? ?????????????? ???????? 2019-nCoV [Operative Information über die Ausbreitung der Coronavirus-Infektion 2019-nCoV]).

Gemäß dem Gesundheitsminister ist die dritte Pandemiewelle in der Ukraine vorbei (UP – Ukrainska Prawda 7.5.2021, Zugriff 10.5.2021).

Ab 1.5.2021 wurden in Kiew die meisten Quarantänebeschränkungen aufgehoben (KP 10.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). Wieder geöffnet sind unter anderem Restaurants, Geschäfte, Sporteinrichtungen und Kultureinrichtungen (WKO 30.4.2021; vgl. KP 10.5.2021, RFE/RL 1.5.2021). Seit 5.5.2021 ist der Besuch von Vorschuleinrichtungen, Schulen und Hochschulen wieder erlaubt (WKO 30.4.2021; vgl. RFE/RL 1.5.2021).

Ein nationaler Lockdown ist in der Ukraine nicht geplant (Ukrainische unabhängige Nachrichtenagentur (UNIAN), Zugriff 10.5.2021; vgl. Ukraine-Analysen (28.4.2021): Covid-19-Chronik, 23.3.-25.4.2021 (Nr. 250), Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.5.2021): Ukraine: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung und COVID-19-bedingte Reisewarnung)).

An öffentlichen Orten, ni

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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