TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/15 W232 2208596-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.09.2021
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Entscheidungsdatum

15.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W232 2208596-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Simone BÖCKMANN-WINKLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018, Zl. 1072150708-150616438, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, stellte nach ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 05.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin nach dem AsylG 2005 statt, wobei die Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund zusammengefasst angab, dass ihr Mann ein Hotel gebaut habe, welches ihm im Jahr 2009 von der Behörde abgenommen wurde. Er sei von Unbekannten misshandelt worden und in ein Spital gekommen. Er habe Leberkrebs gehabt und sei 18 Monate später verstorben. Die Beschwerdeführerin habe erfahren, dass ein bestimmter Abgeordneter und eine weitere ihr namentlich bekannte Person involviert gewesen seien. Sie habe telefonisch versucht die Angelegenheit zu klären und dabei auch erwähnt, dass sie Dokumente habe, die belegen würden, dass das Hotel ihrem Mann und ihr gehöre. In weiterer Folge sei in die Wohnung der Beschwerdeführerin eingebrochen worden. Es sei alles durchwühlt worden. Die Beschwerdeführerin vermute, dass die Einbrecher nach diesen Dokumenten gesucht hätten. Aus Angst und wegen ihrer Krankheit habe sie sich entschieden zu flüchten. Als Rückkehrbefürchtung gab sie an, vor den Männern des Abgeordneten Angst zu haben.

3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 27.09.2018 gab die Beschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand und ihren persönlichen Verhältnissen in der Ukraine befragt an, dass sie an Lupus leide und Medikamente nehme. Des Weiteren habe sie im Jahr 2010 auch einen Herzinfarkt erlitten und nehme auch deswegen Tabletten ein. Ihre Lupuserkrankung sei bereits in der Ukraine, im Februar 2010, diagnostiziert worden. Zum Aufenthalt ihrer Angehörigen befragt, gab sie an, dass ihre beiden Kinder, eine Tochter und ein Sohn, in der Ukraine leben würden. Ihr Vater sei verstorben. Ihre Mutter und ihr Bruder würden in Armenien leben und ihre Schwester lebe in Russland. Ihr Mann sei 2010 an Krebs gestorben. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab sie im Wesentlichen an, dass ihr Mann seit 2002 ein Hotel besessen hätte. Im Jahr 2007 habe ihr Mann kein Geld mehr gehabt und sich deswegen an einen armenischen Freund gewandt, welcher ihm Geld geliehen habe. Aufgrund seiner Magenkrebserkrankung habe er die monatlichen Zahlungen nicht mehr begleichen können und habe daraufhin das Hotel für drei Millionen Dollar verkaufen wollen. Dies sei nicht möglich gewesen, weil ihr Mann von bestimmten Leuten bedroht worden sei. Diese Leute hätten ihr und ihrem Mann das Hotel im Jahr 2009 weggenommen. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 2010 sei auch die Beschwerdeführerin bedroht worden. Die Beschwerdeführerin habe erfolglos versucht zu einer Einigung zu kommen bzw. einen Kompromiss zu schließen. Als sie einmal auf Kur gewesen sei, hätten die Leute ihre Wohnung durchwüstet und nach den Besitzdokumenten für das Hotel gesucht. Die Beschwerdeführerin habe dann einen Bekannten gebeten mit diesen Leuten zu sprechen. Diese hätten ihrem Bekannten gesagt, dass sie die Beschwerdeführerin finden und umbringen würden.

Die Beschwerdeführerin brachte diverse Unterlagen, darunter medizinische Befunde, in Vorlage.

4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2018 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.), hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine abgewiesen (Spruchpunkt II.) und der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt V.). Zudem wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise innerhalb von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde festgehalten, dass die Behörde die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen als unlogisch und unglaubwürdig erachte, weswegen die behaupteten Fluchtgründe nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden könnten. Eine Gefährdung oder Verfolgung der Beschwerdeführerin im Herkunftsland habe nicht festgestellt werden können. Im Falle einer Rückkehr in die Ukraine könne nicht angenommen werden, dass für die Beschwerdeführerin dort die Gefahr bestehe, in eine finanzielle Notlage zu geraten, zumal sie über Schul- und Universitätsbildung sowie 27 Jahre Berufserfahrung verfüge. Es sei ihr zumutbar, im Falle einer Rückkehr von ihrer Pension zu leben und finanzielle Unterstützung seitens ihrer Familie zu erhalten. Im Übrigen sei die medizinische und ökonomische Versorgung in der Ukraine grundsätzlich gewährleistet und sei die Beschwerdeführerin auch bereits von 2010 bis 2015 in ihrem Herkunftsland medizinisch behandelt worden.

5. Mit Schriftsatz vom 26.10.2018 wurde durch den gewillkürten Vertreter der Beschwerdeführerin Beschwerde erhoben. In dieser wurde der erstinstanzliche Bescheid wegen mangelhafter Beweiswürdigung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften im vollen Umfang angefochten. Nach Wiederholung des Sachverhaltes wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl es unterlassen habe alle Beweismittel vollständig auszuwerten sowie durch konkretes Nachfragen die relevanten Sachverhaltselemente zu ermitteln. Die Beschwerdeführerin sei einer Verfolgung durch politische Akteure ausgesetzt und könne sich daher nicht auf staatlichen Schutz verlassen. Die Beschwerdeführerin leide an der systemischen Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes. Aufgrund fehlender bzw. in eventu geringen Sozialleistungen könne die Beschwerdeführerin das Geld für eine medizinische Behandlung in der Ukraine nicht aufbringen. Im Falle einer Rückkehr drohe der Beschwerdeführerin aufgrund des Schweregrades und der Komplexität ihrer Krankheit eine Verletzung im Sinne des Art 3 EMRK. Zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin wurden aktuelle medizinische Befunde vorgelegt.

6. Am 12.11.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme zu den Länderberichten ein. Mitvorgelegt wurden aktuelle medizinische Unterlagen sowie Integrationsnachweise. Aus den Länderberichten gehe hervor, dass die technische Ausstattung ukrainischer Krankenhäuser dürftig sei, 97 % der Medikamente von den Patienten selbst zu bezahlen wären und im Gesundheitsbereich zum Teil gravierende Defizite bestünden. Die Beschwerdeführerin sei jedoch auf eine stabile und zuverlässige, medizinische Versorgung angewiesen. Die Corona-Pandemie würde zu einer zusätzlichen Gefährdung der Beschwerdeführerin führen, zumal sie aufgrund ihres hohen Alters und aufgrund ihrer Erkrankung zur Risikogruppe zähle. Die Beschwerdeführerin habe sich bemüht in Österreich in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu integrieren. Sie spreche Deutsch und verfüge über ein soziales Netzwerk im Bundesgebiet. Der fragile psychische Zustand der Beschwerdeführerin würde sich durch eine Außerlandesbringung zudem massiv verschlechtern, weshalb sie verstärkt private Interessen am Verbleib im Bundesgebiet habe.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.03.2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihrem Fluchtgrund, ihrem Gesundheitszustand, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat und zu ihrer Integration befragt wurde.

8. Mit Parteiengehör vom 05.07.2021 wurde die Beschwerdeführerin vom Ergebnis der Beweisaufnahme (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 02.07.2021 und EASO MedCOI vom 30.06.2021) verständigt. Der Beschwerdeführerin wurde die Möglichkeit eine diesbezügliche Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen abzugeben, eingeräumt.

9. Mit Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 14.07.2021 wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin außerstande wäre, die von ihr benötigten Medikamente zu bezahlen und daher aus finanziellen Gründen schon keinen Zugang zu der von ihr benötigten, medizinischen Behandlung hätte. Die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin sei zudem auch aufgrund des schlecht aufgestellten Gesundheitssystems und der allgemein schlechten Versorgungslage in Zusammenschau mit den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie in der Ukraine nicht gesichert. Vor diesem Hintergrund bestehe für die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in ihr Herkunftsland die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Ferner wurde auf das mitvorgelegte Schreiben des Leiters einer Wiener Rheumaambulanz verwiesen, in dem das Risiko einer Unterbrechung der aktuellen Therapie der Beschwerdeführerin betont werde.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 02.07.2021 und EASO MedCOI vom 30.06.2021, der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.       Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist ukrainische Staatsangehörige, der Volksgruppe der Armenier und der Religionsgemeinschaft der orthodoxen Christen zugehörig.

Die Beschwerdeführerin reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 05.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin wurde in Armenien geboren, wo sie nach eigenen Angaben bis zu ihrem 22. Lebensjahr gelebt hat und nach ihrer Heirat gemeinsam mit ihrem Mann in die Ukraine nach Dnepropetrovsk verzogen ist und dort bis zu ihrer Ausreise blieb. Die Beschwerdeführerin verfügt in der Ukraine über familiäre Anknüpfungspunkte und hat nach eigenen Angaben regelmäßig Kontakt zu ihren zwei Kindern, die in der Ukraine leben. Ihr Ehemann verstarb im Oktober 2010. Die Mutter der Beschwerdeführerin lebt in Armenien, ihre Schwester in Russland. Die Beschwerdeführerin spricht Armenisch, Russisch, Ukrainisch und etwas Deutsch. Die Beschwerdeführerin verfügt über Schul- und Universitätsbildung. Sie hat in Armenien als Mathematiklehrerin und in der Ukraine als Mathematikingenieurin gearbeitet. Im Oktober 2010 ging die Beschwerdeführerin krankheitsbedingt in Pension. In der Ukraine lebte die Beschwerdeführerin von 2012 bis 2015 zusammen mit ihrem Sohn und dessen Familie in ihrer Mietwohnung.

Die Beschwerdeführerin leidet an Systemischem Lupus erythematodes sowie an einer rezidivierenden depressiven Störung und an Hypertonie. Im Jahr 2010 erlitt die Beschwerdeführerin einen Herzinfarkt (Myokardialinfarkt), ausgelöst durch ihre Lupus Erkrankung. In dieser Zeit wurde auch ihre Lupuserkrankung diagnostiziert. Seitdem befand sich die Beschwerdeführerin in der Ukraine bis zu ihrer Ausreise in ärztlicher Behandlung. In Österreich befindet sich die Beschwerdeführerin unter regelmäßiger medizinischer Kontrolle. Die Beschwerdeführerin nimmt täglich verschiedene Medikamente ein und muss ergänzend regelmäßig spezielle Augentropfen- und Augengels sowie Vitamintropen und Hautcremes zur Linderung ihrer Beschwerden verwenden. Des Weiteren wird der Beschwerdeführerin einmal pro Jahr ein Medikament (Infusion) gegen Osteoporose verabreicht. Laut fachärztlicher Stellungnahme ist die Beschwerdeführerin zudem Hochrisikopatientin für einen schweren Krankheitsverlauf durch eine SARS-CoV-2/Covid-19-Infektion und muss besonders darauf achten nicht an Corona zu erkranken. Die Beschwerdeführerin wird kontinuierlich mit immunmodulierenden, respektive immunsupprimierenden Medikamenten behandelt. Eine Unterbrechung ihrer Therapie könnte laut ärztlicher Stellungnahme des Leiters einer Rheumaambulanz zu einer Verschlechterung ihrer Grundkrankheit im Sinne einer wiederaufflammenden, systemischen Entzündungsreaktion führen.

In Österreich bezieht die Beschwerdeführerin Grundversorgung. Die Beschwerdeführerin hat Deutschkurse besucht und eine Prüfung (Niveau A2) absolviert. Die Beschwerdeführerin verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich. Die Beschwerdeführerin ist nicht erwerbstätig.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin ihre Heimat aufgrund asylrelevanter Verfolgung verlassen hat.

Im Rahmen einer Gesamtschau kann im konkreten Einzelfall aufgrund der Erkrankungen der Beschwerdeführerin und damit in Zusammenhang stehenden notwendigen medizinischen Behandlung vor dem Hintergrund der eingeschränkten Belastbarkeit und des Alters der Beschwerdeführerin, nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigen wird können. Festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage geraten würde. Festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr von ihren Kindern nicht in ausreichendem Maße finanziell unterstützt werden kann.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 06.07.2020:

Sicherheitslage

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).

Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).

Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).

Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).

Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).

Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).

Ostukraine

In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).

In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).

In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).

Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).

Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).

Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).

Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).

Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).

Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).

Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).

Rechtsschutz / Justizwesen

Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).

Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).

2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).

Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).

Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).

Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).

In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).

Folter und unmenschliche Behandlung

Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).

Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der Festnahme und des Verhörs. Die meisten Insassen berichteten, dass die Untersuchungsbeamten eine solche Behandlung einsetzten, um sie einzuschüchtern oder sie zu zwingen, ein angebliches Verbrechen zu gestehen. Der Sonderberichterstatter stellte ferner fest, dass es Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern an grundlegenden Kenntnissen mangelte, um Anschuldigungen von Folter und Misshandlung angemessen zu untersuchen und zu dokumentieren. Folglich erhielten Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen im Allgemeinen keine Hilfe von staatlichen Behörden. Nach Angaben der Charkiwer Menschenrechtsgruppe berichteten diejenigen, die bei der Generalstaatsanwaltschaft Folterbeschwerden eingereicht hatten, dass Strafverfolgungsbeamte sie oder ihre Angehörigen eingeschüchtert und gezwungen hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten über Todesfälle aufgrund von Folter oder Vernachlässigung durch Polizei oder Gefängnispersonal (USDOS 11.3.2020).

Im von der Regierung kontrollierten Gebiet erhielt das Office of the UN High Commissioner for Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) weiterhin Vorwürfe, dass der SBU Personen sowohl in offiziellen als auch in inoffiziellen Haftanstalten festhielt und missbrauchte, um Informationen zu erhalten und Verdächtige unter Druck zu setzen, damit sie gestehen oder kooperieren. Die Zahl der gemeldeten Fälle war erheblich geringer als in den vergangenen Jahren. HRMMU vermutete, dass solche Fälle zu wenig gemeldet wurden, weil die Opfer oft in Haft blieben oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder aus mangelndem Vertrauen in das Justizsystem Angst hatten, Missbrauch anzuzeigen. Dem HRMMU zufolge gibt der Mangel an wirksamen Ermittlungen in zuvor dokumentierten Fällen von Folter und körperlicher Misshandlung nach wie vor Anlass zur Sorge (USDOS 11.3.2020). Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse des HRMMU, einige wenige Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlungen wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen. HRMMU, das sonst in regierungskontrollierten Gebieten problemlos Zugang zu Inhaftierten erhält, beklagte in der Vergangenheit gelegentlich erhebliche Verzögerungen beim Erhalt von Besuchsgenehmigungen für Personen, gegen die der SBU ermittelt. Ein im Mai 2017 bekannt gewordener Gesetzentwurf räumt die Existenz illegaler SBU-Gefängnisse ein und zielt darauf ab, diese auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen (AA 29.2.2020).

Aus den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine (Donbas) gibt es Berichte über gewaltsame Unterdrückung aller Formen von Dissidenten, allgegenwärtige Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen (AI 16.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Nach Angaben internationaler Organisationen und NGOs gehören zu den Missbräuchen Schläge, Zwangsarbeit, psychische und physische Folter, öffentliche Erniedrigung und sexuelle Gewalt (USDOS 11.3.2020).

Korruption

Die Ukraine wird im 2019 Corruption Perceptions Index von Transparency International mit 30 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 2019). Die Gesetze sehen strafrechtliche Sanktionen für Korruption vor, aber die Behörden setzen diese nicht effektiv um, und viele Beamte sind ungestraft korrupt, weniger in der Regierung, aber auf allen Ebenen der Exekutive, Legislative und der Justizbehörden. Trotz Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption durch die Regierung, bleibt diese ein Problem für Bürger und Unternehmen (USDOS 13.3.2019).

Korruption ist in der Ukraine weit verbreitet und stellt seit vielen Jahren ein inhärentes Problem dar. Korruption war ein zentrales Thema während der Proteste in Kiew im Herbst/Winter 2013/2014, die im Februar 2014 mit einem Regimewechsel endeten. In den Jahren 2014 und 2015 wurden im Rahmen einer nationalen Antikorruptionsstrategie mehrere neue Gremien zur Bekämpfung der Korruption auf verschiedenen Ebenen des Regierungsapparats eingerichtet. Darüber hinaus wurden Reformen in Polizei und Justiz eingeleitet, die beide stark von Korruption betroffen sind. Bis heute gibt es je nach Zuständigkeitsbereich eine Reihe von Stellen, die Korruptionsfälle untersuchen und strafrechtlich verfolgen. Es kam jedoch, wenn überhaupt, nur zu sehr wenigen Verurteilungen (Landinfo 2.3.2020). Bis vor kurzem gab es keine separaten Gesetze zum Schutz von Informanten, weshalb viele Bürger Korruption nicht anzeigen wollten. Im Jänner 2020 trat ein neues bzw. geändertes Gesetz zum Schutz von Informanten bezüglich Korruption in Kraft (Landinfo 2.3.2020; vgl. RFE/RL 14.11.2019).

Im Juni 2018 unterzeichnete der Präsident das Gesetz über das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC) (USDOS 13.3.2019). Das HACC nahm im September 2019 seine Arbeit auf. Mit der Schaffung des HACC wurde das System der Organe des Landes zur Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vervollständigt und zwei zuvor geschaffene Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung, ergänzt. Die neuen unabhängigen Antikorruptionsbehörden sehen sich politischem Druck ausgesetzt, der das Vertrauen der Öffentlichkeit untergräbt, Bedenken hinsichtlich des Engagements der Regierung im Kampf gegen die Korruption aufkommen ließ und die Zukunftsfähigkeit der Institutionen bedroht (USDOS 11.3.2020). Mit der Errichtung des Hohen Antikorruptionsgerichts wurde der Aufbau des institutionellen Rahmens für die Bekämpfung der endemischen Korruption abgeschlossen (AA 29.2.2020). Das HACC hat jedoch bisher noch keine Ergebnisse erzielt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ende Februar 2019 hat das ukrainische Verfassungsgericht Artikel 368-2 des ukrainischen Strafgesetzbuches, welcher illegale Bereicherung durch ukrainische Amtsträger kriminalisierte, aufgehoben, weil er gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. In der Folge musste NABU 65 anhängige Ermittlungen gegen Parlamentarier, Richter, Staatsanwälte und andere Beamte einstellen, die teilweise schon vor Gericht gekommen waren. Die EU zeigte sich über diese Entscheidung besorgt (Hi 3.3.2019). Am 26. November 2019 unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz, das die strafrechtliche Verantwortung für die unrechtmäßige Bereicherung von Regierungsbeamten wieder einführte (USDOS 11.3.2020).

Das Gesetz schreibt vor, dass hohe Amtsträger Einkommens- und Ausgabenerklärungen vorlegen müssen und diese durch die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NAPC) geprüft werden. Die NAPC überprüft neben diesen Finanzerklärungen auch die Parteienfinanzierung. Beobachter stellen jedoch zunehmend infrage, ob die NAPC die Fähigkeit und Unabhängigkeit besitzt, diese Funktion zu erfüllen (USDOS 11.5.2020; vgl. ÖB 2.2019).

Durch den Reformkurs der letzten Jahre wurden mehr Transparenz und gesellschaftliches Bewusstsein für Korruption erreicht. Dennoch sind Korruption, Oligarchie und teilweise mafiöse Strukturen weiterhin Teil des Alltags der Menschen in der Ukraine, ob im Gesundheits- oder Bildungsbereich, in der Wirtschaft, im Zollwesen sowie in der Medienlandschaft (KAS 2019). Korruption ist nach wie vor ein ernstes Problem und trotz des starken Drucks der Zivilgesellschaft ist der politische Wille gering, dagegen anzugehen. Antikorruptionsagenturen wurden wiederholt in politisch belastete Konflikte mit anderen staatlichen Stellen und gewählten Vertretern verwickelt (FH 4.3.2020). Im Mai 2020 wurde bekannt, dass die Spezialstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung gegen den ehemaligen ukrainischen Generalstaatsanwalt Ruslan Ryaboshapka, der zwei Monate zuvor in einem parlamentarischen Misstrauensvotum aus dem Amt gezwungen wurde, ermittelt (RFE/RL 6.5.2020).

Die Ukraine hat einige Fortschritte bei der Förderung der Transparenz erzielt, zum Beispiel durch die Verpflichtung der Banken, die Identität ihrer Eigentümer zu veröffentlichen, und indem 2016 ein Gesetz verabschiedet wurde, das Politiker und Beamte dazu verpflichtet, elektronische Vermögenserklärungen abzugeben. Es ist jedoch möglich, einige Vorschriften zu umgehen, zum Teil, weil unterentwickelte Institutionen nicht in der Lage sind, Verstöße zu erkennen und zu bestrafen (FH 4.3.2020). Trotz der Bemühungen um eine Reform des Justizwesens und der Generalstaatsanwaltschaft bleibt Korruption unter Richtern und Staatsanwälten weit verbreitet (USDOS 11.3.2020).

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der seit 2019 im Amt ist, hat sich vor allem den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben (UA 27.2.2019; vgl. AA 29.2.2020).

Allgemeine Menschenrechtslage

Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl. GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw. ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest (USDOS 11.3.2020).

Die Möglichkeit von NGOs, sich im Bereich Menschenrechte zu betätigen, unterliegt keinen staatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Verfassung sieht eine vom Parlament bestellte Ombudsperson vor, den parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten. Das Amt wird derzeit von Lyudmila Denisova bekleidet. Ihr Büro arbeitet bei verschiedenen Projekten zur Überwachung von Menschenrechtspraktiken in Gefängnissen und anderen staatlichen Institutionen häufig mit NGOs zusammen. Die Ombudsperson bemühte sich in der Vergangenheit speziell um Krimtataren, IDPs, Roma, Menschen mit Behinderungen, und von Russland inhaftierte politische Gefangene. Sie ist auch bei Problemen mit der Justiz jederzeit ansprechbar (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor. Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März 2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember 2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische (Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019). Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie Diskriminierung, den Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma) geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird (FH 4.3.2020). Nach den Parlamentswahlen vom Juli 2019 stieg der Anteil der Frauen im Parlament von 12 auf 20% (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.3.2020).

Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen beträchtlichen Pluralismus sowie offene Kritik an der Regierung aus (FH 4.3.2020). Meinungs- und Pressefreiheit leiden jedoch weiter hinunter der wirtschaftlichen Schwäche des unabhängigen Mediensektors und dem Übergewicht von Medien, die Oligarchen gehören oder von ihnen finanziert werden. Repressionen und Angriffe gegenüber Journalisten sind insgesamt rückläufig; besorgniserregend bleiben aber die oftmals fehlenden Ermittlungserfolge und die daraus resultierende Straflosigkeit – selbst in schwerwiegenden Fällen. Diverse russische soziale Medien und populäre Onlinedienste bleiben seit einem Dekret von Mai 2017 weiter verboten. Aus diesen Gründen verbleibt die Ukraine trotz großer Fortschritte gegenüber den Jahren vor dem Euromaidan im „Reporter ohne Grenzen“-Index auf Platz 102 von 180 Staaten (AA 29.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 erneuerten die Behörden bestehende Maßnahmen gegen eine Reihe russischer Nachrichtenagenturen und ihre Journalisten. Verschiedene Sprachgesetze schreiben Nachrichtenagenturen vor, dass bestimmte Inhalte in ukrainischer Sprache verfasst sein müssen. Im Jahr 2019 bestätigte der Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige "Kulturprodukte", darunter Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Die Regierung setzte die Praxis fort, bestimmte Werke russischer Schauspieler, Filmregisseure und Sänger zu verbieten und Sanktionen gegen pro-russische Journalisten zu verhängen (USDOS 11.3.2020).

Von einigen Ausnahmen abgesehen, können Einzelpersonen im Allgemeinen öffentlich und privat Kritik an der Regierung üben und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutieren, ohne offizielle Repressalien befürchten zu müssen. Das Gesetz verbietet jedoch Aussagen, die die territoriale Integrität bzw. nationale Sicherheit des Landes bedrohen, den Krieg fördern, einen Rassen- oder Religionskonflikt befeuern oder die russische Aggression gegen das Land unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen nach diesen Gesetzen (USDOS 11.3.2020). Gewalt und Drohungen gegen Journalisten bleiben weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Das unabhängige Institut für Masseninformation registrierte von Januar bis Anfang Dezember 2019 226 Verstöße gegen die Medienfreiheit, darunter die Ermordung eines Journalisten. Weitere Verstöße waren 20 Fälle von Schlägen, 16 Cyberangriffe, 93 Fälle von Einmischung, 34 Fälle von Bedrohung und 21 Fälle von Einschränkung des Zugangs zu öffentlichen Informationen (FH 4.3.2020). Die Qualität des ukrainischen Journalismus leidet nicht nur unter russischer Propaganda, Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter einer nicht zufriedenstellenden Ausbildung und Einhalten von journalistischen Standards (GIZ 3.2020a). Die Strafverfolgungsbehörden überwachen das Internet, zeitweise ohne entsprechende rechtliche Befugnisse, und unternahmen 2019 schwerwiegende Schritte, um den Zugang zu Websites aufgrund von "nationalen Sicherheitsbedenken" zu blockieren. Gerichte sollen auch begonnen haben, den Zugang zu Websites aus anderen Gründen als der nationalen Sicherheit zu blockieren. Es gab Berichte darüber, dass die Regierung Einzelpersonen wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien strafrechtlich verfolgte (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung sieht die Versammlungsfreiheit vor und die Regierung respektiert dieses Recht im Allgemeinen. Gelegentlich wird berichtet, dass die Polizei übermäßige Gewalt anwendet, um Proteste aufzulösen. In Kiew, Odessa und Charkiw fanden groß angelegte LGBT-Veranstaltungen weitgehend friedlich und unter dem Schutz tausender Polizeibeamter statt. Bisweilen schützte die Polizei die Teilnehmer vor oder nach diesen Veranstaltungen nicht ausreichend vor Angriffen, und auch kleinere Demonstrationen, insbesondere von Minderheiten oder oppositionellen politischen Bewegungen, wurden nicht ausreichend geschützt. Veranstaltungen von Frauenrechtsaktivisten oder der LGBT-Gemeinschaft wurden regelmäßig von Mitgliedern gewalttätiger radikaler Gruppen gestört (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Zu den Pflichten des Veranstalters von friedlichen Versammlungen zählt unter anderem die Anmeldung der Veranstaltung im Vorfeld bei den örtlich zuständigen Behörden. Die Fristen, die in diesem Zusammenhang anzuwenden sind, sind jedoch nicht klar geregelt und variieren je nach vertretener Auffassung zwischen drei und zehn Tagen. Diese Unklarheit lässt den öffentlichen Behörden einen relativ großen Freiraum, Versammlungen zu untersagen (ÖB 2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Tatsächlich wird die Abhaltung von friedlichen Versammlungen von den Behörden regelmäßig abgelehnt. Als gängige Begründungen dienen die zu späte Ankündigung der Demonstration, der Mangel an verfügbaren Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der gleichzeitige Besuch einer offiziellen ausländischen Delegation oder das gleichzeitige Stattfinden einer anderen Veranstaltung am gleichen Ort. Auch die Definition der „Friedlichkeit“ einer Versammlung ist nicht immer unstrittig (ÖB 2.2019).

Die Verfassung u

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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