TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/20 W129 2244965-1

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Veröffentlicht am 20.09.2021
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Entscheidungsdatum

20.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W129 2244965-1/3E
W129 2244968-1/3E

W129 2244967-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter DDr. MMag. Markus GERHOLD als Einzelrichter über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , 2) XXXX , geb XXXX , und 3) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. SYRIEN, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 23.06.2021, Zahlen: 1) XXXX , 2) XXXX und 3) XXXX betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer 1 (in Folge: BF 1), ein syrischer Staatsangehöriger, seine Ehefrau die Beschwerdeführerin 2 (in Folge: BF 2) und ihre gemeinsame Tochter die mj. Beschwerdeführerin 3 (in Folge: BF 3) stellten am 22.02.2021 Anträge auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am folgenden Tag durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF 1 an, sein Heimatland wegen des Krieges verlassen zu haben. Die BF 2 gab an, wegen des Krieges und mangels Lebensqualität in Syrien ausgereist zu sein.

Am 17.06.2021 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt), bei der der BF 1 berichtete, dass er seinen Militärdienst von XXXX bis zum XXXX als Hilfskraft in einer Klinik geleistet habe. Er habe zuletzt in der Stadt XXXX , in der Provinz Aleppo gelebt. Er habe Syrien wegen des Krieges verlassen und hätte zum Militär gehen sollen. Bei einer Rückkehr würde er sicher dazu gezwungen werden, für das syrische Militär zu kämpfen. Die BF 2 erklärte, dass sie wegen des Krieges in die Türkei geflüchtet seien. Bezüglich ihrer Rückkehrbefürchtungen nannte sie den Krieg und fehlende Sicherheit. Außerdem hätten sie vor der ISIS-Gruppe Angst (gehabt). Schließlich bestätigte sie, dass ihre Tochter keine eigenen Fluchtgründe hat.

2.       Mit den angefochtenen Bescheiden wies das Bundesamt die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkte I.), erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkte II. und III.).

3.       Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhoben die BF am 28.07.2021 Beschwerde. Die (gemeinsame) Beschwerde wurde, samt den bezugshabenden Verwaltungsakten, dem Bundesverwaltungsgericht am 03.08.2021 vorgelegt.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zu den Beschwerdeführern:

Der BF 1 führt den im Spruch genannten Namen und ist an dem oben genannten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Er ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF 1 ist Arabisch.

Der BF 1 ist in XXXX , Provinz Aleppo geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er besuchte die Schule bis zur neunten Klasse, wobei er jedoch keinen Pflichtschulabschluss machte und verrichtete als Hilfskraft Lager- und Transportarbeiten im Bauunternehmen seines Onkels.

Der BF 1 ist mit der BF 2 (mangels standesamtlicher Trauung in der Türkei) nicht rechtsgültig verheiratet und hat mit ihr eine gemeinsame Tochter, die mj. BF 3. Daneben hat der BF 1 noch vier Brüder im Libanon und seine Eltern mit zwei Schwestern in der Türkei. Eine Schwester ist nach Syrien zurückgekehrt und hat dort geheiratet. Er steht mit seiner im Heimatort lebenden Schwester in regelmäßigem telefonischen Kontakt und stand auch bis zu seiner Ausreise aus der Türkei mit seinem Onkel in der Heimat durchgehend in Verbindung.

Die BF 2 führt den im Spruch genannten Namen und ist an dem oben genannten Datum geboren. Ihre Identität steht nicht fest. Sie ist syrische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Kurden an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Sie telefoniert noch gelegentlich mit ihrem Onkel väterlicherseits im Heimatdorf in Syrien.

Die BF 2 ist in XXXX , Provinz Aleppo geboren und lebte dort bis zu ihrer Ausreise. Sie besuchte die Schule nur bis zur siebenten Klasse. Sie hat ihre Heimat mit 16 oder 17 Jahren verlassen und wurde bis dahin vom Vater versorgt.

Neben ihrer Tochter, welche die BF 2 mit dem BF 1 hat, hat die BF 2 noch einen Bruder und einen Cousin im Bundesgebiet, einen Bruder in Deutschland und ihre Eltern sowie ihre drei Schwestern in der Türkei. In Syrien lebt nur mehr ihr Onkel väterlicherseits.

Der BF 1 verließ Syrien am XXXX (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „Nachgefragt, ich habe Syrien am selben Tag verlassen.“) gemeinsam mit seinen Eltern sowie drei Schwestern und reiste illegal zu Fuß in die Türkei, wo er sechs Jahre lebte, die BF 2 traditionell heiratete und mit ihr eine Tochter, die BF 3 bekam. Die BF 2 verließ ihre Heimat auch im Jahr XXXX und reiste illegal in die Türkei, wo sie acht Jahre lebte. Schließlich reisten sie gemeinsam mit der BF 3 über Griechenland, Serbien, Rumänien und Ungarn illegal ins Bundesgebiet ein. Am 22.02.2021 stellten sie den Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 23.06.2021 wurde den drei BF der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die Stellung der Anträge auf internationalen Schutz durch die BF in Österreich ist dem syrischen Regime bzw. den syrischen Behörden nicht bekannt geworden.

1.2.    Zu den Fluchtgründen der BF:

Die BF haben das Land hauptsächlich wegen des herrschenden Krieges verlassen und um in Österreich mit ihrer Tochter zu leben.

Der BF 1 hat seinen verpflichtenden syrischen Wehrdienst als Hilfskraft in einer Klinik bereits von XXXX bis zum XXXX abgeleistet. Das Vorliegen eines Einberufungsbefehls als Reservist zur syrischen Armee konnte nicht festgestellt werden. Eine Gefahr, als Reservist zum syrischen Militär eingezogen zu werden, wird daher nicht festgestellt. Folglich wird auch eine Gefahr, durch das syrische Regime wegen einer Wehr- oder Reservedienstverweigerung als oppositionell eingestuft zu werden, nicht festgestellt. Ebenso wird auch eine Gefährdung, im Fall einer Rückkehr nach Syrien durch andere Gruppierungen zwangsrekrutiert zu werden, nicht festgestellt.

Die BF 2 hat im gesamten Verfahren keine persönliche Verfolgung oder Bedrohung geltend gemacht, sondern eine solche ausdrücklich verneint und auch bezüglich ihrer Rückkehrbefürchtungen ausschließlich Sicherheitsbedenken aufgrund des Krieges geäußert bzw. ihre Ängste vor der ISIS-Gruppe bekräftigt. Ebenso hat sie nicht an Demonstrationen teilgenommen oder sich sonst politisch betätigt, sodass ihr bei einer Rückkehr auch deswegen keine Verfolgung durch das Regime oder durch sonstige Gruppen droht.

Das Herkunftsgebiet der BF ist in der Hand kurdischer Kräfte (vgl. https://syria.liveuamap.com/), den BF, insbesondere dem BF 1 droht weder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung durch kurdische Milizen, noch eine Verfolgung durch das Regime, die syrische Armee oder andere Organe des Regimes.

Die BF konnten eine Verfolgung aus dem Grund, dass der BF 1 als Reservist erneut zur syrischen Armee eingezogen bzw. von kurdischen Volksverteidigungseinheiten zwangsrekrutiert (vgl. Beschwerde vom 28.07.2021) und für seine Verweigerung asylrelevant verfolgt werden könnte, nicht glaubhaft machen.

Auch darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass die BF einer konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Syrien ausgesetzt sind oder eine solche, im Falle ihrer Rückkehr, zu befürchten hätten. In diesem Zusammenhang ist aber auch darauf hinzuweisen, dass es sich vor dem Hintergrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzes an die drei BF dabei ohnehin lediglich um eine hypothetische Beurteilung der Rückkehrsituation handelt.

1.3.    Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsland:

Auszüge aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien:
Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien

Letzte Änderung: 16.12.2020

Mit großer militärischer Unterstützung der russischen Luftwaffe und iranischer Bodentruppen hat das Assad-Regime mittlerweile etwa zwei Drittel des Landes wieder unter seine Kontrolle gebracht (KAS 8.2020).

Der Westen des Landes, insbesondere Tartous und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 19.5.2020; vgl. ÖB 29.9.2020). In den größeren Städten und deren Einzugsgebieten wie Damaskus, Homs und Hama stellt sich die Sicherheitslage im September 2020 als relativ stabil dar. Im Osten der Provinz Homs ist der sogenannte Islamische Staat (IS) aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 29.9.2020). Aktuell kommt es in westlichen Landesteilen nur sehr vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen (AA 19.5.2020).

Die Regierung besitzt nicht die nötigen Kapazitäten, um alle von ihr gehaltenen Gebiete auch tatsächlich zu kontrollieren. Daher greift die Regierung auf unterschiedliche Milizen zurück, um manche Gegenden und Checkpoints in Aleppo, Lattakia, Tartous, Hama, Homs und Deir ez-Zour zu kontrollieren. Es gibt auch Berichte, wonach es in einigen Gebieten zu Zusammenstößen sowohl zwischen den unterschiedlichen Pro-Regierungs-Milizen als auch zwischen diesen und Regierungstruppen gekommen ist (DIS/DRC 2.2019). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, wie im Westen Syriens und in Damaskus, besteht laut deutschem Auswärtigen Amt weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 19.5.2020). Dies betrifft u.a. Verschwindenlassen, Entführungen und willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitsdienste oder Milizen (AA 19.5.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020).

In den ersten Monaten des Jahres 2018 erlebte Ost-Ghouta, nahe der Hauptstadt Damaskus, die heftigste Angriffswelle der Regierung seit Beginn des Bürgerkrieges (DP 1.4.2018). Mitte April 2018 wurde die Militäroffensive der syrischen Armee auf die Rebellenenklave von Seiten der russischen Behörden und der syrischen Streitkräfte für beendet erklärt (DS 15.4.2018; vgl. SD 12.4.2018). Ende Mai 2018 zogen sich die letzten Rebellen aus dem Großraum Damaskus zurück, wodurch die Hauptstadt und ihre Umgebung erstmals wieder in ihrer Gesamtheit unter der Kontrolle der Regierung standen (Spiegel 21.5.2018; vgl. ISW 1.6.2018). Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Damaskus und Damaskus-Umland (Rif Dimashq) deutlich verbessert (DIS/DRC 2.2019). Anfang des Jahres 2020 kam es in Damaskus und Damaskus-Umland zu wiederholten Anschlägen, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020).

Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genützt werden, durch. Diese wurden 2020 zunehmend auf Ziele in ganz Syrien ausgeweitet (ÖB 29.9.2020). Im August 2020 griffen israelische Flugzeuge wieder militärische Ziele im Süden Syriens an, als Vergeltung für einen Angriff auf die israelisch besetzten syrischen Golanhöhen (BBC 4.8.2020; vgl. FAZ 4.8.2020). Auch Anfang September wurde über Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Posten der Armee sowie pro-iranischer Milizen in Damaskus und im Süden des Landes berichtet (DS 1.9.2020). Das israelische Militär führt weiterhin regelmäßige Luftschläge auf iranische Stellungen und Stellungen iranischer Milizen in Syrien durch (AA 19.5.2020; vgl. UNHCR 14.8.2020).

Nordwestsyrien

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist seit den Anfängen des Konfliktes eine Oppositionshochburg. Im März 2015 übernahmen oppositionelle Gruppierungen die Kontrolle über die Provinz (CRS 2.1.2019).

Anfang Januar 2019 drängte die Jihadistenallianz Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) die pro-türkische National Liberation Front (NLF) zurück (DZ 8.3.2019) und übernahm die Kontrolle über die Provinz Idlib und die Randgebiete angrenzender Provinzen (DP 10.1.2019). Laut Schätzungen befinden sich mit Stand April 2020 insgesamt etwa 70.000 oppositionelle Kämpfer in Idlib. Auch al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020). Die De-Eskalationszone Idlib ist das letzte Gebiet unter Kontrolle der bewaffneten Opposition (AA 19.5.2020).

Im Mai 2017 wurde durch eine Vereinbarung zwischen Russland und Iran (als Verbündete des syrischen Regimes) einerseits, und der Türkei (als Unterstützer der Rebellen) andererseits, eine Deeskalationszone eingerichtet, die ganz Idlib sowie auch Teile der Provinzen Lattakia, Aleppo und Hama umfasste. Einheiten der syrischen Regierung führen jedoch trotz dieser Vereinbarung militärische Operationen in diesem Gebiet durch und eroberten bis Mitte 2018 etwa die Hälfte dieser Deeskalationszone zurück (CRS 2.1.2019). Mitte September 2018 einigten sich die Türkei und Russland auf die Schaffung einer entmilitarisierten Zone in Idlib (Reuters 26.10.2018; vgl. UNHRC 31.1.2019).

Im Februar 2019 kam es zu erneuten Luftangriffen der syrischen Regierung im Großraum Idlib (ISW 7.3.2019) und im März 2019 erstmals seit September 2018 wieder zu russischen Luftangriffen auf die Provinz (DS 14.3.2019). Im Mai 2019 weiteten die russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen ihre Boden- und Luftangriffe auf Idlib und Nord-Hama massiv aus (DS 8.5.2019). Im Dezember 2019 intensivierten das Regime und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut den Vereinten Nationen (UN) zur größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrien-Konflikts. Im Februar 2020 begann die Türkei die sogenannte Militäroperation „Spring Shield“ mit Vergeltungsschlägen gegen das syrische Regime. Anfang März vereinbarten Russland und die Türkei dann ein zeitlich unbegrenztes Zusatzprotokoll zu dem in Kraft bleibenden Abkommen über die Deeskalationszone Idlib von 2018, das unter anderem eine Waffenruhe in Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4 sowie russisch-türkische Patrouillen vorsieht. Auch wenn die Waffenruhe bisher weitgehend eingehalten wird, kommt es immer wieder zu einzelnen Gefechten. Die vollständige Umsetzung des Zusatzprotokolls steht ebenso wie die vollständige Umsetzung der ursprünglichen Vereinbarung über die sogenannte Deeskalationszone Idlib weiterhin aus. Auch daher gilt die Waffenruhe weiterhin als fragil (AA 19.5.2020).

Laut Angaben der UN vom Februar 2020 flohen seit Dezember 2019 beinahe 900.000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, vor den Kampfhandlungen in Idlib (UN News 21.2.2020; vgl. KAS 4.2020). Die syrische Armee konnte im Verlauf der Offensive weite Teile der Provinz zurückerobern, darunter die M5 Fernstraße (KAS 4.2020). Im September 2020 kam es erneut zu schweren Angriffen russischer Kampfflugzeuge in Idlib, den schwersten seit der russischtürkischen Zusatzvereinbarung von März 2020 (Reuters 20.9.2020).

Türkische Militäroperationen in Nordsyrien

Letzte Änderung: 16.12.2020

Seit August 2016 ist die Türkei im Rahmen der Operation „Euphrates Shield“ in Syrien aktiv. Die Operation zielte auf zum damaligen Zeitpunkt vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltene Gebiete, sollte jedoch auch dazu dienen, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) davon abzuhalten, ein autonomes Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Die Türkei sieht die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und die YPG als Bedrohung der türkischen Sicherheit (CRS 2.1.2019).

Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der Operation „Olive Branch“ die zuvor kurdisch kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Seit der Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind (Bellingcat 1.3.2019). Die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UN warnte, dass die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra’s al-’Ain und Tel Abyad düster, und Gewalt und Kriminalität weit verbreitet seien (UN News 18.9.2020).

Nachdem US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mit Hilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019).

Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge seien in dem Gefangenenlager ’Ain Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019).

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der „türkischen Aggression“ entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Das Regime ist jedenfalls in allen größeren Städten im Nordosten präsent (AA 19.5.2020).

Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine „Sicherheitszone“ in dem Gebiet zwischen Tal Abyad und Ra’s al-’Ain ein (SWP 1.1.2020; vgl. AA 19.5.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).

Auch seit Ende der türkischen Militäroperation „Peace Spring“ im Oktober 2019 kommt es weiterhin vereinzelt zu Kampfhandlungen und Anschlägen (AA 19.5.2020). Im August 2020 wurde im Nordosten Syriens eine steigende Zahl von Übergriffen nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen, syrischer Regierungskräfte und der SDF im Süden der Kontaktlinie des Gebiets zwischen Tal Abyad und Ra’s al-’Ain gemeldet. Sowohl die SDF als auch die pro-Regime-Kräfte erlebten einen Anstieg der Zahl der Angriffe des IS. Haftanstalten, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden, berichten von zunehmenden Unruhen mit immer wiederkehrenden Aufständen und versuchten Ausbrüchen (UN SC 20.8.2020).
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 16.12.2020

Anm.: In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Letzte Änderung: 16.12.2020

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 12.8.2020; vgl. AA 20.11.2019, FIS 14.12.2018). Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Nach dem Ausbruch des Konfliktes stellte die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten, welche den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatten, ein (DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). 2018 wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren. Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch auch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020).

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird (STDOK 8.2017).

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Unter anderem besteht aufgrund der Kämpfe in Idlib ein hoher Bedarf an Rekruten und Reservisten. Nach Gebietsgewinnen im Sommer 2018 rekrutieren die syrischen Streitkräfte nun vermehrt in diesen Gebieten. Während ein Abkommen zwischen den überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung vom November 2019 die Stationierung von Truppen der syrischen Streitkräfte in vormals kurdisch kontrollierten Gebieten vorsieht, hat die syrische Regierung aufgrund von mangelnder Verwaltungskompetenz bislang keinen verpflichtenden Wehrdienst in diesen Gebieten wiedereingeführt (DIS 5.2020) [Anm.: zum Wehrdienst bei Einheiten der SDF siehe Kapitel „Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)“.

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden. Weiters rekrutieren die syrischen Streitkräfte in Lagern für Binnenvertriebene (DIS 5.2020).

Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB 29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über- 42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).

Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020).

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).
Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung: 16.12.2020

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an oder tauchte unter (DIS 5.2020).

Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft [Anm.: die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort]. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz, je nach den Umständen, mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft (AA 20.11.2019). Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo 3.1.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018), was von einer Quelle mit dem Bedarf der syrischen Regierung nach Verstärkung in Verbindung gebracht wird. Quellen berichten jedoch auch, dass gefasste Wehrdienstverweigerer riskieren, von den syrischen Behörden vor der Einberufung inhaftiert zu werden (DIS 5.2020). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020).

Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine Befreiungsgebühr von 8,000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder zu entgehen (DIS 5.2020).

Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017). Neben anderen Personengruppen sind insbesondere auch Wehrdienstverweigerer bzw. Deserteure Ziel der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 19.5.2020; vgl. DIS 5.2020).

Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt (Landinfo 3.1.2018).

Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (STDOK 8.2017).

Unterschiedliche Quellen berichten von unterschiedlichen Konsequenzen für Deserteure und Überläufer. Während eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, habe die syrische Regierung jedoch ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an Kräften an der Front festgenommene Deserteure unter Umständen vor dem Militärgericht zu kurzen Haftstrafen verurteilt. Eine andere Quelle berichtet jedoch, dass Deserteure üblicherweise von Einheiten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert würden, womit sie dem Risiko von Folter und Verschwindenlassen ausgesetzt sein können. Auch berichtet eine weitere Quelle, dass Tötungen und Exekutionen von Deserteuren weiterhin stattfinden, zum Beispiel während der Offensive in Idlib im Jahr 2020 (DIS 5.2020).

Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von „high profile“-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).

In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des Wehrdienstes getroffen (STDOK 8.2017; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge wurden solche Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen (AA 20.11.2019; vgl. FIS 14.12.2018, DIS 5.2020). Auch in den „versöhnten Gebieten“ sind Männer im entsprechenden Altermit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem einer Quelle zufolge viele Deserteure und Überläufer, denen durch die Versöhnungsabkommen Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).


Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 18.12.2020

In dem seit mehr als neun Jahren andauernden Bürgerkrieg gab es nach Schätzungen bereits rund eine halbe Million Tote (Welt 30.6.2020; vgl. BBC 12.7.2020). Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich in der Abwesenheit freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

Es gibt krasse Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten und einen geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten. Die Bürger werden ungleich behandelt. Ihnen werden aufgrund konfessioneller Zugehörigkeit, des Herkunftsortes, ethnischer Zugehörigkeit und des familiären Hintergrundes grundlegende staatsbürgerliche Rechte vorenthalten bzw. Privilegien gewährt oder verweigert. Grundlegende Aspekte der Staatsbürgerschaft werden großen Teilen der Bevölkerung verwehrt. Diese ungerechte Behandlung hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft (BS 29.4.2020).

Die Verfassung bestimmt die Ba’ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Ein Dekret von 2011 erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur regierungsnahen Gruppen offizielle Parteien zu gründen und zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba’ath-Partei in der National Progressive Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet um Hunderte Mitglieder von Menschenrechts- und Studentenorganisationen zu verhaften. Es gibt auch zahlreiche Berichte zu anderen Formen der Drangsalierung von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen oder Personen, die als oppositionell wahrgenommen werden. Diese reichen von Reiseverboten, Enteignung und Überwachung bis hin zu willkürlichen Festnahmen, Verschwindenlassen und Folter (USDOS 11.3.2020).

Laut Human Rights Watch bekräftigen die Ereignisse im Jahr 2019 die Schlussfolgerung, dass die Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen, die für den Konflikt charakteristisch sind, weiterhin die Regel und nicht die Ausnahme sind (HRW 14.1.2020; vgl. AA 19.5.2020). Jedoch hat die Intensität dieser Übergriffe im Vergleich zu den Vorjahren aufgrund des Endes der aktiven Kampfhandlungen in den meisten Regionen des Landes 2019 abgenommen (SHRC 7.1.2020).

Weiterhin besteht in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile, insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020).

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (HRW 14.1.2020; vgl. SHRC 24.1.2019). Diejenigen, die sich mit der Regierung „versöhnt“ haben, werden weiterhin durch die Regierungstruppen misshandelt. Auch nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen begehen schwere Übergriffe. Das Schicksal von Tausenden, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) entführt wurden, bleibt unbekannt. Auch die kurdischen Behörden, die von den USA geführte Koalition oder die syrische Regierung unternehmen keine Schritte, deren Verbleib zu ermitteln. Trotz der internationalen Aufmerksamkeit, einschließlich durch den Sondergesandten und den Sicherheitsrat, die den Inhaftierten und Verschwundenen im Machtbereich der syrischen Regierung zuteil wird, wurden kaum Fortschritte erzielt (HRW 14.1.2020; vgl. SHRC 7.1.2020).

Es sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für als regierungsfeindlich angesehene Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert werden, darunter sollen auch Fälle sein, bei denen die gesuchten Personen ins Ausland geflüchtet sind (AA 20.11.2019; vgl. AA 19.5.2020). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vgl. UNHCR 7.5.2020).

Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als Kriegstaktik; Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 11.3.2020).

Orte, die im Laufe der vergangenen Jahre wieder unter die Kontrolle der Regierung gelangt sind, erlebten organisierte und systematische Plünderungen durch die bewaffneten Einheiten der Regierung (SHRC 24.1.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zögerlich dabei, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020). Zwangsdeportationen von Hunderttausenden Bürgern haben ganze Städte und Dörfer entvölkert (BS 29.4.2020).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), sind für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, wie Massaker, Beschuss, Entführung, unrechtmäßige Inhaftierung, extremen körperlichen Missbrauch, Tötung und Zwangsvertreibung auf Basis der Konfession Betroffener, verantwortlich (USDOS 11.3.2020). Sexuelle Versklavung und Zwangsverheiratung sind zentrale Elemente der Ideologie des sogenannten IS. Mädchen und Frauen wurden zur Heirat mit Kämpfern gezwungen. Frauen und Mädchen, die Minderheiten angehören, wurden sexuell versklavt, zwangsverheiratet und anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt (USDOS 20.6.2019).

Elemente der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen an Korruption, rechtswidriger Einschränkung des Personenverkehrs und willkürlicher Verhaftung von Zivilisten sowie an Angriffen beteiligt gewesen sein, die zu zivilen Opfern führten. Es gibt vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 10.9.2018). Familienmitglieder von gesuchten Aktivisten, darunter auch Verwandte von Mitgliedern des IS, sollen von den SDF in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefangen genommen worden sein, um Informationen zu erhalten oder um Druck auszuüben (USDOS 13.3.2019).

Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer bis jihadistischer Gruppen befinden (AA 20.11.2019).

Ein Charakteristikum des Bürgerkriegs in Syrien ist, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als „regierungsfreundlich“ oder „regierungsfeindlich“ gilt (UNHCR 11.2015).
Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

Letzte Änderung: 16.12.2020

Mit großer militärischer Unterstützung der russischen Luftwaffe und iranischer Bodentruppen hat das Assad-Regime mittlerweile etwa zwei Drittel des Landes wieder unter seine Kontrolle gebracht (KAS 8.2020).

Der Westen des Landes, insbesondere Tartous und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 19.5.2020; vgl. ÖB 29.9.2020). In den größeren Städten und deren Einzugsgebieten wie Damaskus, Homs und Hama stellt sich die Sicherheitslage im September 2020 als relativ stabil dar. Im Osten der Provinz Homs ist der sogenannte Islamische Staat (IS) aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 29.9.2020). Aktuell kommt es in westlichen Landesteilen nur sehr vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen (AA 19.5.2020).

Die Regierung besitzt nicht die nötigen Kapazitäten, um alle von ihr gehaltenen Gebiete auch tatsächlich zu kontrollieren. Daher greift die Regierung auf unterschiedliche Milizen zurück, um manche Gegenden und Checkpoints in Aleppo, Lattakia, Tartous, Hama, Homs und Deir ez-Zour zu kontrollieren. Es gibt auch Berichte, wonach es in einigen Gebieten zu Zusammenstößen sowohl zwischen den unterschiedlichen Pro-Regierungs-Milizen als auch zwischen diesen und Regierungstruppen gekommen ist (DIS/DRC 2.2019). Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, wie im Westen Syriens und in Damaskus, besteht laut deutschem Auswärtigen Amt weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 19.5.2020). Dies betrifft u.a. Verschwindenlassen, Entführungen und willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitsdienste oder Milizen (AA 19.5.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020).

In den ersten Monaten des Jahres 2018 erlebte Ost-Ghouta, nahe der Hauptstadt Damaskus, die heftigste Angriffswelle der Regierung seit Beginn des Bürgerkrieges (DP 1.4.2018). Mitte April 2018 wurde die Militäroffensive der syrischen Armee auf die Rebellenenklave von Seiten der russischen Behörden und der syrischen Streitkräfte für beendet erklärt (DS 15.4.2018; vgl. SD 12.4.2018). Ende Mai 2018 zogen sich die letzten Rebellen aus dem Großraum Damaskus zurück, wodurch die Hauptstadt und ihre Umgebung erstmals wieder in ihrer Gesamtheit unter der Kontrolle der Regierung standen (Spiegel 21.5.2018; vgl. ISW 1.6.2018). Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Damaskus und Damaskus-Umland (Rif Dimashq) deutlich verbessert (DIS/DRC 2.2019). Anfang des Jahres 2020 kam es in Damaskus und Damaskus-Umland zu wiederholten Anschlägen, bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen wurden (TSO 10.3.2020).

Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genützt werden, durch. Diese wurden 2020 zunehmend auf Ziele in ganz Syrien ausgeweitet (ÖB 29.9.2020). Im August 2020 griffen israelische Flugzeuge wieder militärische Ziele im Süden Syriens an, als Vergeltung für einen Angriff auf die israelisch besetzten syrischen Golanhöhen (BBC 4.8.2020; vgl. FAZ 4.8.2020). Auch Anfang September wurde über Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Posten der Armee sowie pro-iranischer Milizen in Damaskus und im Süden des Landes berichtet (DS 1.9.2020). Das israelische Militär führt weiterhin regelmäßige Luftschläge auf iranische Stellungen und Stellungen iranischer Milizen in Syrien durch (AA 19.5.2020; vgl. UNHCR 14.8.2020).

Letzte Änderung: 09.12.2020

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem geographischen Gebiet, in dem die Opposition dominiert, verweigern. Das syrische Regime verlangt außerdem ein Ausreisevisum und schließt regelmäßig den Flughafen Damaskus und Grenzübergänge, angeblich aus Sicherheitsgründen (USDOS 11.3.2020). Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 19.8.2020). Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängte das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer (USDOS 11.3.2020).

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017). Außerdem gibt es ein Gesetz, das bestimmten männlichen Verwandten erlaubt, Frauen das Reisen zu verbieten (USDOS 11.3.2020).

Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen, dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).

Infolge der COVID-19-Pandemie wurden sowohl der Flughafen Damaskus als auch die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen. Innerhalb des Landes wurden mehrere Maßnahmen zur Begrenzung der Ausbreitung umgesetzt, darunter Ausgangssperren. Reisen zwischen den Provinzen wurde weitestgehend untersagt (AA 19.5.2020). Es gab jedoch bereits wieder Lockerungen für Reisen in das Ausland als auch bei der Einreise nach Syrien. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wieder aufgenommen (BMEIA 19.8.2020). Es kommt jedoch zu verstärkten Einreisekontrollen, Gesundheitsprüfungen und Einreisesperren (AA 19.8.2020). Die Reisebeschränkungen zwischen Städten und Umland wurden wieder aufgehoben (FES 7.2020).

2.       Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt, den Gerichtsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, und das Grundversorgungs-Informationssystem.

2.1.    Zu den Beschwerdeführern:

Die Feststellungen zur Identität (Name und Geburtsdatum) der BF gründen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF sowie auf das vom BF 1 im Verfahren vorgelegte Dokument (syrischer Personalausweis im Original). Die Identität des BF 1 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dennoch nicht festgestellt und begründend dazu ausgeführt, dass seine Identität mangels Ergebnis des einer Untersuchung zugeführten Personalausweises nicht festgestellt werden habe können. Die namentliche Nennung würde lediglich der Individualisierung seiner Person als Verfahrenspartei dienen. Der BF 1 hat jedoch stets gleichbleibenden Angaben zu seinen Personalien gemacht, welche mit den Angaben im vorgelegten (originalen) Personaldokument vollkommen übereinstimmen. Es besteht nach Ansicht des Gerichtes daher kein Grund für irgendwelche Zweifel und müssten vor diesem Hintergrund ansonsten alle syrischen Dokumente in Zweifel gezogen werden.

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, sowie zur Muttersprache der BF gründen auf den diesbezüglich glaubhaften und stets gleichbleibenden Angaben der BF. Auch ihren Lebenslauf (Aufenthaltsorte, Schuldbildung und Berufserfahrungen) und den Verbleib ihrer Angehörigen konnten die BF im Verfahren glaubwürdig und widerspruchsfrei schildern, und sieht das Gericht keinen Anlass die Angaben der BF hierzu in Zweifel zu ziehen.

Der Zeitpunkt der Antragstellung und der Umstand, dass den BF der Status von subsidiär Schutzberechtigten zukommt, ergibt sich aus der Aktenlage. Die Antragstellung ist den syrischen Behörden nicht bekannt geworden, da es den österreichischen Behörden verboten ist, solche Informationen mit ausländischen Behörden zu teilen und kein Anzeichen für einen Bruch dieser Norm zu sehen ist, sowie die BF nicht vorgebracht haben, dass sie dieses Faktum den syrischen Behörden mitgeteilt haben.

2.2.    Zu den Fluchtgründen der BF:

Der BF 1 hat glaubhaft vorgebracht, dass er seinen Wehrdienst bei der syrischen Armee bereits von XXXX bis XXXX als Hilfskraft in einer Klinik abgeleistet hat. Er hat damit keine militärische Spezial-Ausbildung erhalten und seinen Militärdienst bereits vor über zwanzig Jahren abgeleistet. Es ist daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr von den syrischen Militärbehörden aufgrund etwaiger Spezialkenntnisse oder –fähigkeiten als Soldat oder für die medizinische Versorgung verletzter Soldaten herangezogen werden könnte. Hierzu hat der BF 1 nämlich keine nachvollziehbaren und glaubwürdigen Angaben machen können, welche eine Verfolgung seitens des syrischen Regimes wegen einer allfälligen Wehrdienstverweigerung tatsächlich nahelegen würden.

Insoweit er im Verfahren von einer Einberufung als Reservist bzw. von einem Einberufungsbefehl gesprochen hat, konnte er diesen Umstand letztlich nicht nachvollziehbar und glaubwürdig darlegen. Vielmehr ist es diesbezüglich zu mehreren Widersprüchen und Unstimmigkeiten gekommen.

So hat der BF 1 zur angeblichen Einberufung zum Reservedienst zunächst zwar erklärt, dass er selbst einen Brief erhalten habe (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „[…] ich habe einfach den Brief von der syrischen Regierung für den Militärdienst bekommen. Ich sollte zum Militär gehen.“), zur näheren Schilderung der Umstände aufgefordert, hat er dies jedoch wieder verneint und seinen Onkel als eigentlichen Adressaten des Schreibens genannt (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „Ich persönlich habe den Brief nicht in die Hand bekommen.“). Weiters hat sich letztlich sogar herausgestellt, dass er bei der angeblichen Einberufung offenbar gar nicht mehr in der Heimat war (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „Vor ca. 3 Jahren, als ich schon das Land verlassen hatte, hat mein Onkel etwas bekommen, dass ich zum syrischen Militär gehen soll.“). Schließlich hat er nicht einmal angeben können, ob es überhaupt ein diesbezügliches Schriftstück gegeben hat (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „LA: Hat Ihr Onkel einen Brief bekommen? VP: Ich weiß es nicht genau. Ich nehme an, dass er es schwarz auf weiß bekommen habe, aber den sehe ich nicht.“) bzw. war es ihm nicht einmal möglich konkrete Angaben zum Einrückungstermin oder zur Rekrutierungsstelle zu machen, wo er sich melden hätte sollen (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „LA: Wann sollten Sie einrücken? […] VP: An das Datum kann ich mich nicht erinnern, aber ca. vor drei Jahren. […] LA: Welche Frist wurde Ihnen laut Ihrem Onkel eingeräumt, um beim Militär vorstellig zu werden? VP: Es gab keine Frist und mein Onkel hat nichts Anderes gesagt. LA: Bei welcher Behörde sollten Sie bezüglich der Einrückung vorstellig werden? […] VP: Er hat nichts Anderes gesagt, als das, was ich Ihnen anfangs gesagt habe.“). Aber auch zu den telefonischen Kontakten mit dem Onkel nach dieser brisanten Information hat er unterschiedliche Angaben gemacht. Während er einen weiteren Kontakt zunächst unmissverständlich verneint hat (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „Nach diesem Anruf hat er mich nie wieder kontaktiert.), hat er auf Nachfrage schließlich zugegeben, dass es doch zu weiteren Telefongesprächen mit seinem Onkel gekommen ist („Nein, nach diesem Anruf hat er uns ca. alle 10 Tage kontaktiert – mich oder meine Eltern – um zu fragen, wie es uns geht.“). Es wäre daher naheliegend, dass sein Onkel bzw. letztlich auch der BF 1 davon berichtet hätte, wenn er tatsächlich zum Reservemilitärdienst einberufen und in weiterer Folge deswegen gesucht worden wäre. Dann wäre es nämlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren Kontaktaufnahmen seitens der syrischen Militärbehörde gekommen. Von diesbezüglichen Mitteilungen des Onkels hat der BF 1 jedoch im gesamten Verfahren keine Erwähnung gemacht, sondern bloß von belanglosen Gesprächen bzw. Erkundigungen nach ihrem Wohlbefinden berichtet. Auch von den regelmäßigen Kontaktaufnahmen mit seiner wieder im Heimatdorf lebenden Schwester wurden von ihm keine diesbezüglichen Bedrohungs- oder Verfolgungshandlungen der syrischen Militärbehörde berichtet.

Zu guter Letzt hat er auch zum Verbleib seines Wehrdienstbuches stark abweichende Angaben gemacht. Während er danach befragt, zunächst eindeutig vom Verlust des Militärbuches berichtet und dies mit einem Nachsatz noch bekräftigt hat (vgl. Einvernahme vom 17.06.2021: „Das Militärbuch habe ich verloren. Ich habe es einfach nicht.“), hat er bezüglich der näheren Umstände plötzlich und völlig unerwartet angegeben, dass es eigentlich in der Heimat verblieben sei („Ich habe es in der elterlichen Wohnung zurückgelassen.“). Unabhängig davon hat er auch zu seinem Ausreisezeitpunkt stark abweichende Aussagen getroffen. In seiner Erstbefragung hat er noch lapidar das Jahr XXXX genannt und keinen genaueren Zeitpunkt nennen können, in der Einvernahme hingegen plötzlich ein ganz konkretes Datum angeben können. Das Vorbringen des BF 1 in Bezug auf eine Wiedereinberufung als Reservist durch die syrische Regierung wirkt daher konstruiert und wenig glaubhaft.

Unabhängig davon ist darauf hinzuweisen, dass Reservisten in Syrien laut den Länderberichten bis zum Erreichen des XXXX . Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden können, wobei einzelne Berichte vorliegen, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat. Der BF 1 befindet sich wenige Monate vor Vollendung des XXXX . Lebensjahrs, daher noch grundsätzlich im wehrfähigen Alter und ist Reservist.

Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Die Behörden ziehen jedoch vornehmlich Männer bis zum 27. Lebensjahr ein und Personen mit speziellen, im früheren Militärdienst erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen, wobei der BF1 weder zur ersten noch zur zweiten Risikogruppe gehört: Aus der Funktion des BF 1 beim Militärdienst oder seiner Berufstätigkeit kann nicht abgelesen werden, dass er früher bei seinem regulären Militärdienst eine besondere Fähigkeit erworben oder eine besondere Position eingenommen hat, noch lässt sich aus seiner Berufstätigkeit im Baugewerbe ableiten, dass er heute über wesentliche Fähigkeiten verfügt, die ihn für die abermalige Musterung besonders attraktiv macht. Sein Wehrdienst liegt zeitlich bereits lange zurück. Vor dem Hintergrund der individuellen Eigenschaften des BF 1 (Beruf, Rang und Funktion beim Militärdienst) sowie der Länderberichte, die eine entsprechend systematische und generelle Einberufung von Reservisten nicht dokumentieren bzw. von einem hohen Maß an Willkür dabei ausgehen, wird daher auch keine Feststellung zu einer entsprechend wahrscheinlich drohenden Einberufung als Reservist getroffen.

Abgesehen davon muss erneut darauf verwiesen werden, dass die Heimatregion der drei BF durch die kurdischen Einheiten kontrolliert wird. Eine Gefährdung des BF 1 durch die syrische Regierung aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung wird daher nicht festgestellt.

In Bezug auf die erstmals in der Beschwerde vorgebrachte Befürchtung, wonach dem BF 1 auch eine Zwangsrekrutierung durch kurdische Einheiten drohen könnte, ist festzuhalten, dass aus den oben angeführten Länderinformationen hervorgeht, dass in kurdisch kontrollierten Gebieten eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst für Männer von 18 bis 30 Jahren besteht, und im aktuell geltenden Gesetz „Pflicht zur Selbstverteidigung“ aus dem Jahr 2019 sogar ein Wehrdienst bis zum vierzigsten Lebensjahr festgelegt ist. Allerdings hat der BF 1 dieses Alter bereits überschritten und Rekrutierungsversuche durch andere Gruppierungen vor der belangten Behörde überhaupt nicht vorgebracht, sodass es nicht den geringsten Hinweis auf eine drohende Zwangsrekrutierung durch kurdische Milizen gibt. Zwar sind Fälle von Zwangsrekrutierungen von Personen, die das dreißigste Lebensjahr überschritten haben, dokumentiert, jedoch handelt es sich hierbei üblicherweise um Bestrafungsmaßnahmen für eine oppositionelle Einstellung. Im Laufe des Verfahrens sind jedoch keine Hinweise dafür hervorgekommen, dass der BF 1 gegenüber den kurdischen Einheiten oppositionell in Erscheinung getreten ist. Es kann daher zur Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch kurdische Milizen im Fall einer Rückkehr nach Syrien keine Feststellung getroffen werden.

Das Gericht verkennt nicht, dass die Schwelle, von Seiten des syrischen Regimes, als oppositionell betrachtet zu werden niedrig ist sowie, dass Personen aus unterschiedlichen Gründen und teilweise willkürlich als regierungsfeindlich angesehen werden. Es übersieht auch nicht, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als "regierungsfreundlich" oder "regierungsfeindli

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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