TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/29 W158 2207323-2

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Veröffentlicht am 29.09.2021
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Entscheidungsdatum

29.09.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W158 2207323-2/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben, der angefochtene Bescheid behoben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II. Die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheids werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Um Wiederholungen zu vermeiden wird zum bisherigen Verfahrensgang auf den Beschluss vom 14.11.2018, W158 2207323-1/3 verwiesen, womit der den Antrag der Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) auf internationalen Schutz abweisende Bescheid wegen gravierender Ermittlungsmängel behoben und die Sache an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) zurückverwiesen wurde.

Soweit für das Verständnis relevant ist daraus hervorzuheben, dass die BF in der Einvernahme einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend machte und von einer Dolmetscherin einvernommen werden wollte. Das BFA führte trotz dieses ausdrücklichen Wunsches keine Einvernahme mit einer Dolmetscherin durch und wies den Antrag ab.

I.2. Im fortgesetzten Verfahren wurde die BF am 18.12.2018 von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin des BFA in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Die BF wurde dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab sie an, sie sei wegen eines Grundstücksstreits vergewaltigt worden.

I.3. Mit Bescheid vom 11.01.2019, der BF am 15.01.2019 durch Hinterlegung zugestellt, wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Dazu führte das BFA mit näherer Begründung aus, dass die BF ihr Fluchtvorbringen nicht glaubhaft machen habe können. Sie sei auch nicht „westlich“ orientiert. Die BF könne mit ihrer Familie nach Kabul zurückkehren, wo die Familie lange gelebt habe. Der Antrag der BF sei daher abzuweisen gewesen. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr der BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen würde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.4. Mit Verfahrensanordnung vom 14.01.2019 wurde der BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.5. Am 08.02.2019 erhob die BF Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Sie beantragte, ihr den Status der Asylberechtigten in eventu den der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und einen Aufenthaltstitel zu erteilen, in eventu den Bescheid zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen und eine mündliche Verhandlung durch eine Richterin mit einer Dolmetscherin unter Ausschluss der Öffentlichkeit und getrennt von ihrem Mann durchzuführen.

Begründend wird die Beweiswürdigung bestritten und ausgeführt, dass der von der BF geschilderte Vorfall entgegen der Ansicht des BFA glaubhaft sei. Darüber hinaus sei die BF, wie sich an ihrem Leben in Österreich zeige, sehr wohl „westlich“ orientiert. Ihr wäre daher der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Jedenfalls und unabhängig davon wäre ihr aber der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

I.6. Am 13.02.2019 langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

I.7. Nachdem die BF Integrationsunterlagen vorgelegt und die im Spruch genannte Vertreterin ihre Bevollmächtigung angezeigt hatte, führte das Bundesverwaltungsgericht am 07.07.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die BF, ihre Familie und die gemeinsame Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurden die BF und ihre älteste Tochter im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, ihren Familienangehörigen und ihren Fluchtgründen befragt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend die BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat sowie die von der BF vorgelegten Unterlagen;

-        Befragung der BF und ihrer ältesten Tochter im Rahmen der Beschwerdeverhandlung am 07.07.2021;

-        Einsicht in das Strafregister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person der BF:

Die BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung an. Ihre Muttersprache ist Dari.

Die BF ist in Kabul geboren und aufgewachsen. Sie hat acht Jahre eine Schule besucht. Im Jahr 1997 hat sie XXXX (W158 2207328-2) in Afghanistan geheiratet. Sie hat mit ihm mehrere Kinder, von denen drei ( XXXX , W158 22073127-2; XXXX , W158 2207326-2; XXXX , W158 2207324-2) im Bundesgebiet leben. Die übrigen Kinder leben in Schweden. Von 2010 bis 2015 lebte die BF im Iran, wo sie als Schneiderin und Hilfsarbeiterin arbeitete.

Die BF ist strafrechtlich unbescholten.

II.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

Der Mann der BF kaufte in Afghanistan etwa 2010 ein Grundstück, wobei sich nach dem Kauf herausstellte, dass die Verkäufer und Mittelsmänner Taliban waren und das Grundstück sich nicht in ihrem Eigentum befand. Der Mann der BF forderte die Verkäufer mehrmals auf, ihm ein Grundstück oder das Geld zu übergeben, weswegen es auch zu Übergriffen und Drohungen kam. Zuletzt gelangten zwei Taliban in das Haus der BF in Kabul, als der Mann der BF arbeiten war. Die Angreifer fragten zuerst nach dem Mann der BF wegen des Grundstücks und randalierten in der Wohnung. In weiterer Folge drohten sie, die älteste Tochter der BF mitzunehmen. Nachdem die BF sich dagegen wehrte, wurden die anwesenden Kinder in ein Zimmer eingesperrt und die BF vergewaltigt. Bevor die Angreifer das Haus verließen, drohten sie der BF, sie und ihre Tochter das nächste Mal mitzunehmen. Außerdem sollte die Familie keine Ansprüche auf das Grundstück oder das Geld mehr stellen. Nach diesem Vorfall verließ die Familie Afghanistan Richtung Iran. 2015 wurde die BF und einige ihrer Kinder nach Afghanistan abgeschoben, wo sie etwa ein Monat versteckt bei ihrem Vater lebten.

Bei einer Rückkehr würde die BF von den Gegnern ihres Mannes, die sie bereits vergewaltigten, Repressalien von Einschüchterungen über Bedrohungen bis hin zu einer möglichen Ermordung ausgesetzt sein. Würde die Vergewaltigung in der Gesellschaft bekannt werden, würde sie auch von der Gesellschaft ausgegrenzt oder sogar ermordet werden. Von den Taliban, die die Staatsgewalt für sich in Anspruch nehmen, kann die BF keinen Schutz erwarten.

II.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

II.3.1. Sonderkurzinformation 17.08.2021

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Quellen:

•        BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email

•        bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021

•        Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegenfluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021

•        IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email

•        orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021

•        orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021

•        orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021

•        orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021

•        tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021

•        UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021

•        VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email

•        VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email

II.3.2. Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR-Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

Quellen:

•        bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952

•        bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021

•        bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021

•        bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8

•        orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021

•        orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021

•        orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021

•        zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021

•        UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email

III. Beweiswürdigung:

III.1. Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

III.2. Zu den Feststellungen zur Person der BF:

Die Feststellungen zur Verfahrensidentität, zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF sowie ihrer Muttersprache traf aufgrund der insofern gleichbleibenden und nicht anzuzweifelnden Angaben der BF (AS 5, 56) bereits das BFA. Diese Feststellungen wurden in der Beschwerde auch nicht bestritten, sodass daran im Beschwerdeverfahren keine Zweifel aufgekommen sind und sie auch der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden können. Ihre Identität kann mangels Vorlage eines unbedenklichen Dokuments aus dem Herkunftsstaat nicht festgestellt werden.

Das Gleiche gilt im Wesentlichen auch für die Feststellungen zum Aufwachsen der BF in Afghanistan und dem Iran, sowie zu ihrem Schulbesuch und Berufstätigkeit. Auch dazu waren die Angaben der BF stets gleichbleibend (AS 5, 56). Es besteht daran für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund zu zweifeln. Ebenfalls unstrittig sind die Feststellungen zu den Familienangehörigen der BF, hat sie doch bereits das BFA aufgrund der Angaben der BF und ihrer Familienangehörigen getroffen.

Dass die BF strafrechtlich unbescholten ist, war aufgrund eines aktuellen Strafregisterauszugs festzustellen.

III.3. Zu den Fluchtgründen der BF:

Letztlich konnte auch dem Vorbringen der BF zu ihren Fluchtgründen gefolgt werden, weil es ihr gelungen ist, dieses während des Verfahrens glaubhaft zu machen. Die gegenteilige Begründung des BFA überzeugt nicht. Anfangs führt das BFA dazu aus, die BF habe ihre Fluchtgründe im Wesentlichen erst in den Einvernahmen vor dem BFA geschildert, während sie in der Erstbefragung lediglich die allgemeine Situation erwähnt habe. Abgesehen davon, dass die unreflektierte Verwertung der Erstbefragung ohnehin kritisch zu sehen ist, zumal sich diese von Gesetzes wegen nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, ist die Heranziehung im konkreten Fall jedenfalls nicht geeignet, der BF die Glaubhaftigkeit in Bezug auf ihre Fluchtgründe abzusprechen. Die BF tat (und tut) sich offensichtlich schwer von dem erlebten Übergriff vor Männern zu erzählen. So forderte sie deswegen in der ersten Einvernahme mehrmals eine Dolmetscherin, um darüber erzählen zu können (AS 57f; S. 9 VP), was vom BFA im ersten Verfahrensgang übergangen wurde. Auch in der Einvernahme im Dezember 2018 gab sie noch an, sich zu schämen, da sie ihre Ehre verloren habe und nicht mehr sauber sei (S. 4 EV). Bis heute hat sie deswegen auch noch nicht mit ihrem Mann oder ihrer Tochter, die den Vorfall mitanhören musste und die Mutter danach nackt aufgefunden hat, darüber gesprochen. Die BF befindet sich wegen dieses Vorfalls auch in Therapie und kann mittlerweile wieder leichter auf Männer zugehen (S. 8f VP). Jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Einreise konnte sie jedoch über diesen Vorfall (noch) nicht in Anwesenheit von Männern sprechen. Wie dem Protokoll der Erstbefragung entnommen werden kann, wurde dieser zwar eine Dolmetscherin beigezogen, allerdings wurde sie von einem Mann durchgeführt (AS 7). Es verwundert daher nicht, dass die BF diesen Übergriff während der Erstbefragung nicht erwähnt hat.

Weiters führt das BFA aus, dass sich die Unglaubhaftigkeit auch daraus ergebe, dass sie nach dem Übergriff noch einige Monate in Afghanistan gelebt habe, da ihr Mann noch Geld für die Flucht auftreiben habe müssen. Damit verkennt das BFA aber, wie die Beschwerde richtig geltend macht, die Aussage der BF. Der Übergriff ereignete sich nach der Aussage der BF im Jahr 2010, wobei sie damals sofort Afghanistan verlassen hätten (AS 58, S. 4 EV). Nach ihrer Abschiebung vom Iran nach Afghanistan im Jahr 2015 konnten sie Afghanistan dagegen nicht gleich wieder verlassen, da ihr Mann gesagt habe, er müsse noch Geld verdienen. Während dieser Zeit habe die BF versteckt bei ihrem Vater gelebt und das Haus nicht verlassen (S. 5 EV). Der vom BFA herangezogene Umstand, dass die BF das Land nicht sofort verlassen habe, ereignete sich somit nicht nach dem Übergriff, sondern nach der Abschiebung vom Iran nach Afghanistan, während sie nach dem Überfall bereits nach ein paar Tagen das Land verließen (AS 58). Auch dieses Argument vermag daher die Begründung des BFA nicht zu tragen.

Das BFA spricht der BF in Bezug auf ihr Vorbringen die Glaubhaftigkeit auch deswegen ab, weil sie das Ereignis beinahe wortgleich mit ihrer Tochter schilderte, was vermuten lasse, dass die Geschichte um den Vorfall einstudiert sei. Auch das kann aber nicht überzeugen. Vielmehr zeigen die übereinstimmenden Schilderungen der BF und ihrer ältesten Tochter in den verschiedenen Einvernahmen vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht, dass sich der Vorfall wie geschildert zugetragen hat, zumal die BF aber auch ihre Tochter vor dem Hintergrund des von der BF Erlebten glaubhaft angaben, über den erlebten Vorfall noch gar nicht miteinander gesprochen zu haben. Die BF und ihre älteste Tochter schilderten den Vorfall wie auch dessen Folgen nachvollziehbar und detailliert. Es ist kein Grund ersichtlich, warum diesen Angaben nicht gefolgt werden sollte.

Das BFA führt dann als Alternativbegründung zur Abweisung des Antrags noch aus, dass die Ereignisse, selbst wenn sie als wahr unterstellt würden, keine Aktualität aufweisen würden. Für diese Annahme liefert das BFA aber keine Begründung außer dem Hinweis, dass sich der Übergriff vor (damals) acht Jahren ereignet habe. Nun ist es zwar richtig, dass der Übergriff vor mittlerweile elf Jahre stattgefunden hat, nichtsdestotrotz ist von einer Aktualität der Befürchtungen der BF auszugehen. Der Übergriff basiert darauf, dass der Mann der BF bei einem Grundstückskauf betrogen worden ist. Um ein Ende der Verfolgung zu erreichen, müsste der Mann der BF daher auf sein ihm zustehendes Recht verzichten. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Täter von der Rückkehr der BF erfahren würden, zumal einerseits die Täter den Taliban, die die Staatsgewalt für sich beanspruchen, angehören und andererseits die BF (und auch ihr Mann) wieder – im Gegensatz zu ihrem kurzzeitigen Aufenthalt in Afghanistan im Jahr 2015 – am Gesellschaftsleben teilnehmen würde, soweit ihr das unter den Taliban möglich ist. Um mögliche Ansprüche durch den Mann der BF hintanzuhalten, würden die Täter daher die BF beziehungsweise ihre Familie wiederum bedrohen oder ihr sonst wie schaden wollen.

Dazu kommt, dass den Berichten (UNHCR Richtlinien, EASO Country Guidances) vor der Machtübernahme durch die Taliban zu entnehmen war, dass für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr bestand, geächtet, zur Abtreibung gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden (zB UNHCR Richtlinien von August 2018, S. 81ff). Übereinstimmend damit schilderte das auch die BF in ihrer zweiten Einvernahme derart (S. 4 EV). Es liegen zwar zu diesem Themenkomplex noch keine aussagekräftigen Berichte zur Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban vor, allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sich an dieser Situation durch die Übernahme einer islamistisch sunnitischen Gruppierung etwas daran ändert. Einerseits beruht das darauf, dass diese Einstellung innerhalb der Gesellschaft bereits seit vielen Jahren, trotz und unabhängig der verschiedenen Regime und politischen Systemen besteht. Andererseits haben die Taliban bereits verkündet, dass sich ihre (noch nicht verlautbarten) Regeln nach der Scharia richten würden, was ebenso wenig eine Änderung der Regeln oder der gesellschaftlichen Einstellung nahelegt. Auch insofern ist die Bedrohung der BF daher aktuell und bezieht sich auf das gesamte Staatsgebiet, zumal diese gesellschaftliche Einstellung im Wesentlichen in ganz Afghanistan besteht.

III.4. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell.

Die Berichte wurden zwar weder der BF noch dem BFA zur Stellungnahme übermittelt, die BF ist dadurch allerdings nicht beschwert, zumal ihrem Antrag stattgeben wurde. Auch das BFA legt diese Berichte seinen Entscheidungen stets zugrunde. Die Feststellungen beruhen darüber hinaus auf der Staatendokumentation des BFA und sind somit von ihm selbst erstellt. Auch das BFA ist daher in seinen Rechten nicht verletzt.

IV. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.

IV.1. Zum Spruchpunkt A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge dieser Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472; 29.01.2020, Ra 2019/18/0228).

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Mitbeteiligte bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Selbst wenn daher der Fremde im Herkunftsstaat bereits asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt war, ist entscheidend, dass er im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (Aktualität der Verfolgung; vgl. VwGH 06.04.2020, Ra 2019/01/0443; 25.09.2018, Ra 2017/01/0203).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan, dass die BF Flüchtling im Sinne der GFK ist:

Die BF hat glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund eines Grundstücksstreits vergewaltigt worden ist. Das Beweisverfahren hat auch ergeben, dass die Verfolgung nach wie vor aktuell ist. Ebenso gründet die Verfolgung auf einem in der GFK genannten Grund, nämlich der sozialen Gruppe. Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (VwGH 26.04.2021, Ra 2020/01/0025).

Die BF wurde vergewaltigt und hat damit einen Hintergrund, der nicht mehr verändert werden kann, den sie mit der Gruppe der vergewaltigten Frauen teilt. Wie in der Beweiswürdigung unter Bezugnahme auf die UNHCR Richtlinien dargelegt, hat diese Gruppe in Afghanistan eine deutlich abgegrenzte Identität und wird von der Gesellschaft als andersartig betrachtet. Es besteht auch ein kausaler Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zur Gruppe mit der Verfolgung. Auch wenn die Verfolgung von einem Privaten ausgeht, ist sie, so lange sie auf einem GFK Grund beruht, asylrelevant, wenn der Staat dagegen nicht schutzfähig oder schutzwillig ist (VwGH 14.04.2021, Ra 2020/18/0126). Von einer staatlichen Schutzfähigkeit konnte aber nach den Länderfeststellungen bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban nicht ausgegangen werden. Noch weniger ist davon nach der Machtübernahme und Beanspruchung der Staatsgewalt durch die Taliban auszugehen. Die Situation ist in ganz Afghanistan im Wesentlichen gleich, sodass auch eine innerstaatliche Fluchtalternative ausscheidet. Die BF befindet sich daher aus wohlbegründeter Furcht außerhalb Afghanistans und ist im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren.

Da auch kein in § 6 AsylG genannter Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde der BF stattzugeben und ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der BF kommt damit – da sie ihren Antrag nach dem 15.11.2015 stellte (§ 75 Abs. 24 AsylG) – gemäß § 3 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status der Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.

Aufgrund der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten und der damit verbundenen Aufenthaltsberechtigung liegen die Voraussetzungen für die weiteren Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids nicht mehr vor. Diese waren daher ersatzlos zu beheben.

IV.2. Zum Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Vielmehr sind hier im Wesentlichen Tatfragen maßgeblich, die aufgrund der Beweiswürdigung zu lösen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser aber als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen (VwGH 27.05.2021, Ra 2021/19/0163). Zu den Voraussetzungen einer sozialen Gruppe besteht ebenfalls einheitliche Judikatur, von der das Bundesverwaltungsgericht nicht abgewichen ist.

Schlagworte

Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung ersatzlose Teilbehebung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit Gruppenverfolgung inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative Kassation mündliche Verhandlung private Streitigkeiten Rückkehrentscheidung behoben Sexualdelikt soziale Gruppe Spruchpunktbehebung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung Vergewaltigung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W158.2207323.2.00

Im RIS seit

18.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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