TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/9 Ro 2020/08/0007

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Veröffentlicht am 09.12.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §10
AlVG 1977 §38
AlVG 1977 §9 Abs2
AVG §37
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §28 Abs3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wiener Neustadt in Wiener Neustadt, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. April 2020, W228 2216533-1/2E, betreffend Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG in einer Angelegenheit nach dem AlVG (mitbeteiligte Partei: M D in F), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Mit Bescheid vom 16. Jänner 2019 stellte die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wiener Neustadt (AMS) fest, dass der Mitbeteiligte gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 19. Dezember 2018 bis 29. Jänner 2019 verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe eine ihm zugewiesene zumutbare Beschäftigung als Hilfsarbeiter im Sägewerk der P-GmbH vereitelt. Dem Bescheid vorangegangen waren eine telefonische Mitteilung des Herrn P. (Geschäftsführer der P-GmbH) an das AMS sowie eine niederschriftliche Einvernahme des Mitbeteiligten. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 12. März 2019 als unbegründet ab.

2        Begründend führte das AMS zusammengefasst aus, dem Mitbeteiligten sei ein Vermittlungsvorschlag für eine Stelle als Hilfsarbeiter übermittelt worden. Im folgenden Vorstellungsgespräch habe sich der Mitbeteiligte gegenüber der potentiellen Dienstgeberin arbeitsunwillig gezeigt. Er habe angegeben, aufgrund von Schmerzen im linken Handgelenk nicht arbeiten zu können. Auf die Frage, weshalb er nicht zum Arzt gehe, habe der Mitbeteiligte geantwortet, er wolle das nicht, weil dann der Arzt die Hand wieder richten werde und er dann wieder arbeiten müsse, was er aber nicht wolle. Daraufhin habe Herr P., der Geschäftsführer der potentiellen Dienstgeberin, das Gespräch abgebrochen.

3        Der Mitbeteiligte habe daher durch sein Verhalten beim Vorstellungsgespräch in Kauf genommen, nicht eingestellt zu werden und damit den Tatbestand des § 10 iVm. § 38 AlVG erfüllt.

4        Im Zusammenhang mit den vom Mitbeteiligten vorgebrachten gesundheitlichen Beschwerden führte das AMS zudem aus, im Zuge einer am 29. Jänner 2019 durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung sei beim Mitbeteiligten ua. eine posttraumatische Handgelenksarthrose links, aufgrund eines im Kindesalter erlittenen und unzureichend versorgten Bruchs des linken Unterarms (Defektheilung) diagnostiziert worden. Die Belastbarkeit des linken Armes sei eingeschränkt und eine operative Sanierung empfohlen. Der Mitbeteiligte sei nur für leichte und mittelschwere Tätigkeiten als geeignet anzusehen, womit Hilfsarbeiten, die mit häufigem Heben und Tragen von schweren Lasten verbunden seien, nicht mehr durchgeführt werden sollen.

5        In Folge des amtsärztlichen Gutachtens habe der Geschäftsführer der potentiellen Dienstgeberin auf Nachfrage des AMS angegeben, die ausgeschriebene Stelle als Hilfsarbeiter sei nicht mit schweren Tätigkeiten verbunden. Sollte es dennoch vorkommen, dass etwas Schweres zu heben sei, könne man sich Hilfe holen.

6        Auf Grundlage dieser Angaben und des amtsärztlichen Gutachtens gelangte das AMS zur Ansicht, die angebotene Beschäftigung als Hilfsarbeiter gefährde nicht die Gesundheit des Mitbeteiligten und entspreche daher den Zumutbarkeitsbestimmungen des § 9 Abs. 2 AlVG.

7        In seiner Beschwerde und seinem Vorlageantrag wandte sich der Mitbeteiligte ua. gegen die Sachverhaltsannahmen des AMS und brachte vor, aufgrund seiner Schmerzen seit Monaten bei „sämtlichen“ Ärzten gewesen zu sein. Zudem habe er bereits im September 2018 einen MRT-Termin für den 7. Jänner 2019 vereinbart gehabt, was er beim Vorstellungsgespräch auch angegeben habe. Er habe beim Vorstellungsgespräch niemals gesagt, nicht zum Arzt gehen zu wollen, weil er nicht arbeiten wolle. Er habe im Gespräch lediglich angemerkt, nicht mehr fit und gesund genug zu sein für Schwerarbeit, weil der Geschäftsführer der potentiellen Dienstgeberin gesagt habe, dass sie nur Schwerarbeiten anbieten würden.

8        Mit dem in Revision gezogenen Beschluss hob das Bundesverwaltungsgericht diesen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das AMS zurück. Das Bundesverwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei, weil der Beschluss „hohes Potential“ aufweise, von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG abzuweichen.

9        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, das AMS habe es unterlassen, hinreichende Ermittlungen bezüglich der Zumutbarkeit des Stellenangebots durchzuführen. Die Bejahung der Zumutbarkeit aufgrund der Auskunft des Geschäftsführers der potentiellen Dienstgeberin sei verfehlt, weil sich daraus weder die „Häufigkeit des Hebens“ noch das Gewicht der Lasten ergebe. Das AMS werde Erhebungen zu den konkreten Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters bei der potentiellen Dienstgeberin durchzuführen und deren Häufigkeit sowie die Schwere allfälliger Lasten in messbaren Einheiten zu erfassen haben. Diese Erhebungen würden sodann als Grundlage zur Erstellung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet der Berufskunde dienen, um die messbaren Einheiten mit den Kriterien des amtsärztlichen Gutachtens in Übereinstimmung bringen zu können.

10       Aus diesen Gründen sei davon auszugehen, dass das AMS notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen habe und sich der vorliegende Sachverhalt als nicht einmal bloß ansatzweise ermittelt erweise. Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht könne vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

11       Gegen diesen Beschluss richtet sich die ordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

12       Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision ergänzend zu den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes vor, der Beschluss weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil das Bundesverwaltungsgericht die seiner Ansicht nach fehlenden Ermittlungen selbst hätte durchführen können, etwa im Zuge einer mündlichen Verhandlung durch Befragung des Geschäftsführers der potentiellen Dienstgeberin. Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung lägen daher keinesfalls vor.

13       Die Revision ist zulässig. Sie ist im Ergebnis auch berechtigt.

14       Das Bundesverwaltungsgericht stützt die Zurückverweisung der Angelegenheit an das AMS gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG auf fehlende Erhebungen zur Art und zum Umfang der im Rahmen der ausgeschriebenen Stelle zu erbringenden Tätigkeiten.

15       Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind (vgl. etwa VwGH 25.5.2020, Ra 2020/08/0046, Rn. 14, mwN).

16       Entgegen der Annahme des Bundesverwaltungsgerichts war im vorliegenden Fall eine die Zurückverweisung rechtfertigende Konstellation nicht gegeben. es kann insbesondere nicht gesagt werden, dass das AMS nur ansatzweise ermittelt hätte oder keine brauchbaren Ermittlungsergebnisse vorgelegen wären. Vielmehr hat das AMS zur Frage, ob die angebotene Stelle dem Mitbeteiligten in gesundheitlicher Hinsicht zumutbar war, zum einen ein amtsärztliches Gutachten erstellen lassen und zum anderen Erkundigungen beim potentiellen Dienstgeber eingeholt. Es trifft zwar zu, dass sowohl die vom AMS getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Anforderungen des Arbeitsplatzes als auch das amtsärztliche Gutachten ergänzungsbedürftig waren. Es handelte sich aber jeweils um Ergänzungen, die vom Bundesverwaltungsgericht selbst vorzunehmen gewesen wären: zum einen durch Befragung einer Vertretung des potentiellen Dienstgebers dazu, welche konkreten Belastungen mit den genannten „nicht schweren“ Arbeiten tatsächlich verbunden waren, zum anderen durch die Einholung einer Stellungnahme des Amtsarztes zur Zumutbarkeit dieser konkreten Tätigkeiten. Alternativ wäre es dem Bundesverwaltungsgericht offen gestanden, zunächst - in einer mündlichen Verhandlung - die Frage zu klären, ob der Mitbeteiligte die vorgeworfene, von ihm bestrittene Vereitelungshandlung überhaupt gesetzt hatte.

17       Da die Voraussetzungen für die Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG somit nicht gegeben waren, war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 9. Dezember 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2020080007.J00

Im RIS seit

18.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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