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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H M, vertreten durch Mag. Rainer Oliver Storch, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Bürgerstraße 62, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juli 2021, W238 2205647-1/20E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen;
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren war abzuweisen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus dem Distrikt Mazar-e Sharif, beantragte am 2. Februar 2017 internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er zusammengefasst vor, ihm drohe im Herkunftsstaat die Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Außerdem würde er als Rückkehrer aus dem „westlichen Ausland“ bzw. wegen „westlicher Orientierung“ verfolgt werden.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 9. August 2018 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend erachtete es das BVwG für nicht glaubhaft, dass dem Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohen oder er wegen seines Aufenthalts in Europa verfolgt werden würde. Er habe auch keine „westliche Lebenseinstellung“ als wesentlichen Bestandteil seiner Identität angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan stehe. Asyl sei ihm daher nicht zu gewähren. Zum subsidiären Schutz führte das BVwG aus, die aktuelle Sicherheitslage stehe einer Rückkehr des Revisionswerbers nach Mazar-e Sharif und einer Ansiedlung in Herat nicht entgegen. Es sei davon auszugehen, dass der Revisionswerber „trotz Schwankungen der allgemeinen Sicherheitslage in den genannten Gebieten auch auf Dauer sicher leben können“ werde. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vor.
4 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, der Revisionswerber trete der Beweiswürdigung des BVwG zum Fluchtvorbringen entgegen. Im Falle der Rückkehr wäre er aufgrund seiner bereits verinnerlichten „westlichen Orientierung“ und seines längeren „westlichen Aufenthalts“ psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Nach seiner Ansicht ergebe sich aus der „aktuellen Berichtslage“, dass jeder afghanische Staatsbürger, der sich einige Zeit im westlichen Ausland aufgehalten habe, mit Verfolgung rechnen müsse. Zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führt die Revision aus, die aktuelle Sicherheitslage stehe einer Rückkehr des Revisionswerbers nach Mazar-e Sharif und einer Ansiedlung in Herat entgegen. Bei der aktuellen Sicherheitslage sei mit Schwankungen zu rechnen und es sei dem Revisionswerber - entgegen der Argumentation des BVwG - nicht möglich, auf Dauer sicher in diesen Gebieten zu leben.
5 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.
Zu Spruchpunkt I.
8 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zeigt sie ihre Zulässigkeit im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht auf.
9 Das BVwG hat mit näherer Begründung ausgeführt, dass dem Revisionswerber wegen seines Aufenthalts in Europa bei Rückkehr nach Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung drohen würde (vgl. dazu insbesondere die verwerteten Länderberichte auf Seite 40 des angefochtenen Erkenntnisses). Es hat auch verneint, dass der Revisionswerber eine (schützenswerte) Lebensweise angenommen und verinnerlicht hat, deren Fortsetzung ihn in Afghanistan einer Verfolgung aussetzen könnte. Die Revision tritt dem zwar entgegen, führt aber keine Argumente ins Treffen, nach denen die Beweiswürdigung des BVwG in diesem Zusammenhang als unvertretbar anzusehen wäre und damit der höchstgerichtlichen Rechtsprechung widerspräche.
10 Wenn die Revision insbesondere anführt, aus der „aktuellen Berichtslage“ ergebe sich, dass Rückkehrer aus dem „westlichen Ausland“ in Afghanistan verfolgt würden, zeigt sie nicht auf, welche konkreten Berichte das BVwG verwerten hätte sollen, um zu einer solchen Einschätzung zu gelangen.
11 In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig zurückzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.
12 Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet.
13 Das BVwG legte seiner Einschätzung zur Sicherheitslage in Afghanistan das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 11. Juni 2021, Version 4) zugrunde. Es folgerte daraus, dass der Revisionswerber „trotz Schwankungen der allgemeinen Sicherheitslage in den genannten Gebieten auch auf Dauer sicher leben können“ werde.
14 Diese Begründung ist nicht nachvollziehbar und entspricht daher den Anforderungen an die Begründungspflicht von verwaltungsgerichtlichen Erkenntnissen nicht. Das BVwG gesteht nämlich zu, dass aus den verwerteten Länderberichten auch für die Herkunftsprovinz des Revisionswerbers und für die als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht gezogene Stadt Herat „Schwankungen“ der Sicherheitslage dokumentiert werden. Warum es dennoch zu dem Schluss kam, der Revisionswerber werde dort auf Dauer sicher leben können, legt es hingegen nicht hinreichend dar.
15 Dabei darf nicht übersehen werden, dass es in einer besonderen, durch eine extreme Volatilität aufgrund einer sich äußerst rasch verändernden Sicherheitslage gekennzeichneten Situation - wie hier - nicht ausreicht, wenn das BVwG momentbezogen eine kriegerische Auseinandersetzung an einem bestimmten Ort verneint (vgl. dazu insbesondere auch zur Sicherheitslage in Afghanistan unter Bedachtnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 11. Juni 2021, Version 4, VfGH 24.9.2021, E 3047/2021-11). Konkret absehbare Entwicklungen der Lage sind bei der Beurteilung des BVwG betreffend die Rückkehrsituation des Asylwerbers jedenfalls zu berücksichtigen.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß
§ 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. Dezember 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180273.L00Im RIS seit
18.01.2022Zuletzt aktualisiert am
18.01.2022