TE Vwgh Beschluss 2021/12/14 Ra 2020/19/0067

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Veröffentlicht am 14.12.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
E6J
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3
EURallg
32011L0095 Status-RL Art12
32011L0095 Status-RL Art17
32011L0095 Status-RL Art17 Abs1 litb
62017CJ0369 Ahmed VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache des M B, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. März 2019, W271 2207168-1/11E und W271 2207168-2/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger stellte als Minderjähriger am 5. Mai 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 30. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigen ab, erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigen zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29. November 2018.

2        Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11. Juli 2018 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs. 1, § 84 Abs. 5 Z 2 StGB unter Anwendung des § 5 Z 4 Jugendgerichtsgesetz 1988 (JGG) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt und Bewährungshilfe angeordnet.

3        Mit Bescheid vom 4. September 2018 erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 (Z 3) Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und entzog ihm gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter. Unter einem wurde dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt, jedoch festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei.

4        Begründend führte das BFA auf das Wesentliche zusammengefasst aus, der Revisionswerber sei wegen eines Verbrechens im Sinne des § 17 StGB rechtskräftig verurteilt worden, weswegen ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen gewesen sei.

5        Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

6        Mit Schreiben vom 19. Oktober 2018 beantragte der Revisionswerber die Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2018 wies das BFA diesen Antrag unter Hinweis auf die erfolgte Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab.

7        Auch gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das BVwG.

8        Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die Beschwerden des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit einer hier nicht relevanten Maßgabe - jeweils als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9        Zur strafgerichtlichen Verurteilung stellte das BVwG fest, das Gericht habe die bisherige Unbescholtenheit des Revisionswerbers als mildernd berücksichtigt; erschwerend sei nichts gewertet worden. Der Revisionswerber habe in verabredeter Verbindung gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männern einem im Tatzeitpunkt alkoholisierten Obdachlosen mit mehreren gezielten Faustschlägen ins Gesicht und Fußtritten („Karatetritten“ und „Sprungtritten“ aus dem Lauf) gegen den Oberkörper mehrere offene Wunden und Schwellungen im Gesichtsbereich zugefügt. Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen sei es vor einem Restaurant in W unvermutet zum Angriff gegen das Opfer gekommen, ohne dass es davor einen Streit gegeben hätte („aus dem Nichts heraus“). Ein Grund für den Angriff sei nicht ersichtlich gewesen. Das Opfer habe sich nicht gegen die Angriffe gewehrt. Der Revisionswerber und die anderen Täter hätten sich nach der Attacke hingesetzt „als wäre nichts gewesen“. Beim Eintreffen der Polizei hätten sie die Tatbegehung geleugnet. Der Revisionswerber habe sich im Strafverfahren nicht einsichtig gezeigt. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG habe der Revisionswerber nicht gezeigt, dass er zu seiner Tat stehe und trotz rechtskräftiger Verurteilung weiterhin angegeben, mit jemandem verwechselt worden zu sein. Der Revisionswerber leugne nach wie vor die Tatbegehung, habe keine feststellbaren Lehren aus der Tat und der Verurteilung gezogen, keine Wiedergutmachung versucht und sei nicht bereit, ernstlich Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Zur Strafbemessung stellte das BVwG fest, der Strafrahmen für eine schwere Körperverletzung iSd. § 84 StGB betrage sechs Monate bis fünf Jahre. Der Revisionswerber sei im Tatzeitpunkt minderjährig gewesen, weswegen das Mindestmaß der Strafe entfallen und die mögliche Höchststrafe auf die Hälfte herabgesetzt worden sei. Weiters traf das BVwG Feststellungen zum Strafrahmen für Körperverletzungen in anderen Staaten (Deutschland, Frankreich und Spanien). Hinsichtlich des sonstigen Verhaltens des Revisionswerbers in Österreich stellte das BVwG fest, dieser nehme die Bewährungshilfe an, bilde sich weiter, besuche die Schule und wolle seinen Pflichtschulabschluss machen. Er habe u.a. einen Werte- und Orientierungskurs besucht, einen guten Sozialbericht und positive Empfehlungsschreiben erhalten, die seine guten Charaktereigenschaften hervorheben würden. Er plane, später eine Lehre als KFZ-Mechaniker zu machen und als solcher zu arbeiten. Er lebe von der Grundversorgung und gehe keiner regelmäßigen Beschäftigung nach.

10       Rechtlich führte das BVwG zunächst aus, dass eine Aberkennung nach § 9 Abs. 1 AsylG 2005 im vorliegenden Fall u.a. deshalb ausscheide, weil keine grundlegende Veränderung der Situation im Herkunftsstaat oder der individuellen Situation des Revisionswerbers eingetreten sei.

11       Hinsichtlich des Aberkennungstatbestandes des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 legte das BVwG nach Wiedergabe des Urteils des EuGH vom 13. September 2018, Ahmed, C-369/17, und des hg. Erkenntnisses vom 6. November 2018, Ra 2018/18/0295, dar, dass in dem EASO-Bericht (Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie [Richtlinie 2011/95/EU], 2016) als ein Beispiel für eine schwere Straftat auch eine „gefährliche Körperverletzung“ genannt werde. Der Revisionswerber sei wegen einer Straftat (schwere Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 5 Z 2 StGB) verurteilt worden, die nach der österreichischen Rechtsordnung als Verbrechen gelte, was ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer schweren Straftat darstelle. Die in Übereinstimmung mit dem EASO-Bericht überprüften anderen Rechtsordnungen (Deutschland, Frankreich, Spanien) normierten für mit § 84 Abs. 5 Z 2 StGB vergleichbare Körperverletzungsdelikte Strafrahmen in einer ähnlichen Größenordnung wie Österreich. Die schwere Körperverletzung gelte nur in Österreich als „Verbrechen“, in den genannten anderen Jurisdiktionen werde sie hingegen als „Vergehen“ bzw. „mittelschwere Straftat“ gewertet. Diese würden jedoch Strafrahmen in einer ähnlichen Größenordnung wie in Österreich aufweisen. Auf die nationale Unterscheidung zwischen Vergehen und Verbrechen komme es nach dem genannten EuGH-Urteil und dem EASO-Bericht aber ohnehin nicht ausschließlich an. Vielmehr stelle der EASO-Bericht auf den möglichen Gesamtunwert gewisser Deliktstypen ab, welcher bei der schweren Körperverletzung als hoch anzusehen sei, wenn mehrere verabredet gemeinsam eine, wenn auch nur leichte, Körperverletzung zufügten. Dass es sich dabei um ein „Gefährdungsdelikt“ handle, ändere daran nichts.

12       Die Höhe der über den Revisionswerber verhängten Strafe sei mit drei Monaten am unteren Ende des Strafrahmens orientiert. Unter Berücksichtigung der Gründe für die Strafzumessung ergebe sich, dass die Bestimmungen des JGG zu einem veränderten Strafrahmen geführt hätten und die Mindeststrafe entfallen sei. Der etwas ältere Komplize des Revisionswerbers, ein zum Tatzeitpunkt „junger Erwachsener“, sei bei sonst gleichgelagertem Sachverhalt zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Bei einem Erwachsenen wäre bei gleichgelagertem Sachverhalt eine noch höhere Strafe trotz Unbescholtenheit zu erwarten gewesen. Ungeachtet des Entfalls eines Mindeststrafmaßes sei über den Revisionswerber unter mildernder Berücksichtigung seines ordentlichen Lebenswandels eine Freiheitsstrafe von drei Monaten verhängt worden. Aus der Anordnung von Bewährungshilfe ergebe sich, dass das Strafgericht von einer weiteren Tatbegehungsgefahr ausgegangen sei, sodass gerade nicht von einer positiven Prognose für den Revisionswerber durch das Gericht die Rede sein könne.

13       Hinsichtlich der Umstände der Tatbegehung und des Nachtatverhaltens des Revisionswerbers zeige sich, dass dieser gegenüber rechtlich geschützten Werten eine deutlich ablehnende bzw. gleichgültige Einstellung annehme. Er sei gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männer grundlos auf einen „harmlosen (alkoholisierten) Unterstandslosen“ losgegangen, womit sie sich ein Opfer ausgesucht hätten, das auf Grund seiner Lebensumstände am Rande der Gesellschaft stehe und wenig wehrhaft erschienen sei. Der Revisionswerber und die anderen Täter hätten das Opfer, welches sich nicht gewehrt hätte, mit Schlägen und Sprungtritten malträtiert. Bei der Art der zugefügten Gewalt sei es mehr dem Zufall zu verdanken, dass das Opfer keine schweren Verletzungen davongetragen habe. Ein mit rechtlich geschützten Werten auch nur ansatzweise verbundener Mensch und selbst ein (nach dem Beschwerdevorbringen) ungebildeter junger Mann würde eine solche Tat nicht begehen. Nach dem Angriff hätten sich der Revisionswerber und die anderen jungen Männer niedergelassen, als sei nichts gewesen. Daraus werde deutlich, dass der Revisionswerber weder Unrechtsbewusstsein hinsichtlich seiner Tat, noch Respekt vor der eintreffenden Polizei gehabt habe. Der Revisionswerber habe vor der Polizei, dem Strafgericht und dem BVwG die Tat geleugnet. Auch vor dem BVwG habe der Revisionswerber keine Schuldeinsicht und kein Unrechtsbewusstsein gezeigt. Er habe weder eine Wiedergutmachung versucht, noch Verantwortung für sein Tun übernommen. Ihm könne jedoch eine individuelle Verantwortung zugerechnet werden. Dem im Tatzeitpunkt 16 Jahre alten Revisionswerber sei unter Berücksichtigung seiner Reife zuzumuten gewesen, die Tat nicht zu begehen. Es sei auch auf Grund seines jungen Alters kein nachvollziehbarer Entschuldigungs-, Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund vorgelegen.

14       Nach dem EASO-Bericht sei auch das Nachtatverhalten zu prüfen. Dem Revisionswerber sei zwar zu Gute zu halten, dass er die Bewährungshilfe positiv für sich nutze, verschiedene integrative Maßnahmen gesetzt habe und positive Empfehlungsschreiben vorweisen könne. Er leugne aber nach wie vor die Tat, zeige keine Zeichen von Reue, habe keine Wiedergutmachung versucht und übernehme keine Verantwortung. Die erst kurze Zeit seit der Tat und der Verurteilung erlaube nicht die Beurteilung, dass ein Ausschluss vom subsidiären Schutz nicht länger gerechtfertigt wäre.

15       Der Revisionswerber habe somit unter besonders verwerflichen Umständen ein Verbrechen begangen, das auch unter Berücksichtigung des jungen Alters und seines geringen Bildungsstandards und bei gebotener restriktiver Auslegung dieses Begriffes als „schwere Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) zu beurteilen sei. Der Revisionswerber habe sich damit des internationalen Schutzes in Form des subsidiären Schutzes unwürdig gezeigt, weshalb die Aberkennung des Titels zu Recht erfolgt sei.

16       Das BVwG prüfte auch die Folgen der Aberkennung des Schutzstatus im Hinblick auf Aufenthaltsrecht, Möglichkeit des Schulbesuches, Leistungen der öffentlichen Hand sowie Ausbildung und gelangte zum Ergebnis, dass der Revisionswerber als bloß Geduldeter - im Vergleich zur Rechtsstellung als subsidiär Schutzberechtigter - keine maßgeblichen Nachteile erleide, sodass auch Erwägungen betreffend das Kindeswohl nicht gegen eine Aberkennung sprächen.

17       Angesichts der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei der Antrag des Revisionswerbers auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter abzuweisen gewesen.

18       Mit Beschluss vom 11. Dezember 2019, E 1415/2019-26, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen diese Erkenntnisse gerichteten Beschwerde des Revisionswerbers ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 23. Dezember 2019, E 1415/2019-28, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

19       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

20       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Nach § 34 Abs. 3 VwGG ist ein Beschluss nach Abs. 1 in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

21       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

22       Ob eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zu beurteilen. Wurde die zu lösende Rechtsfrage daher in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - auch nach Entscheidung des Verwaltungsgerichtes oder selbst nach Einbringung der Revision - bereits geklärt, ist eine Revision wegen fehlender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht (mehr) zulässig (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0064, mwN).

23       Die Revision wendet sich in ihrem Zulässigkeitsvorbringen ausschließlich gegen die Beurteilung des BVwG, es liege eine „schwere Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie vor. Dazu bringt die Revision zunächst vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, inwieweit bei der Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des Einzelfalls das Alter des Täters zum Tatzeitpunkt berücksichtigt werden müsse. Das BVwG habe der Minderjährigkeit des Revisionswerbers kein erkennbares Gewicht beigemessen.

24       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 nicht allein darauf gestützt werden, dass der Revisionswerber wegen eines Verbrechens im Sinn des § 17 StGB (hier: Schwere Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 5 Z 2 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 6. November 2018, Ra 2018/18/0295, vor dem Hintergrund des Urteils des EuGH vom 13. September 2018, Ahmed, C-369/17, näher erläutert hat, ist bei der Anwendung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 jedenfalls auch eine Einzelfallprüfung durchzuführen, ob eine „schwere Straftat“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie vorliegt. Dabei ist die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen und eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen. Bei dieser einzelfallbezogenen Würdigung sind auch die konkret verhängte Strafe und die Gründe für die Strafzumessung zu berücksichtigen (vgl. VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005; 20.8.2020, Ra 2019/19/0522).

25       Der Verwaltungsgerichtshof hat auch betont, dass der Zweck dieses Ausschlussgrundes darin besteht, jene Personen, die als des subsidiären Schutzes unwürdig anzusehen sind, von diesem Status auszuschließen (vgl. VwGH 22.10.2020, Ra 2020/20/0274, unter Bezugnahme auf EuGH Ahmed, C-369/17, Rn 51; 20.10.2021, Ra 2021/20/0252).

26       Im Revisionsfall berücksichtigte das BVwG das Alter des (bei der Tatbegehung 16-jährigen) Revisionswerbers bei der Beurteilung der Gründe für die Strafzumessung, welcher auf Grund der Anwendung des JGG ein geänderter Strafrahmen zu Grunde lag, und verglich die Strafzumessung beim Revisionswerber mit jener bei einem Mittäter, welcher nach dem JGG als junger Erwachsener galt, sowie mit einer erwartbaren Strafzumessung für einen Erwachsenen bei einem vergleichbaren Delikt. Ebenso nahm das BVwG bei der Beurteilung der Tatumstände auf das Alter und die behaupteten Bildungsdefizite des Revisionswerbers Bedacht und begründete die Aberkennung im Kern damit, dass auch unter Berücksichtigung dieser Umstände ein mit rechtlich geschützten Werten auch nur ansatzweise verbundener Mensch eine solche - in den Feststellungen im Detail beschriebene - Tat nicht begehen werde. Auch dem im Tatzeitpunkt 16-jährigen Revisionswerber sei diese Einsichtsfähigkeit zuzumuten. Gegen diese Beurteilung bringt die Revision, die sich insoweit darauf beschränkt zu behaupten, bei Berücksichtigung des Alters des Revisionswerbers wäre das Vorliegen einer „schweren Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie zu verneinen gewesen, nichts Stichhaltiges vor.

27       Die Revision legt somit weder dar, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Berücksichtigung des Alters bei der Tatbegehung im Rahmen der Prüfung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls fehlt, noch zeigt sie auf, dass das BVwG fallbezogen von den Leitlinien dieser Rechtsprechung abgewichen wäre.

28       Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit auch vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, welche Kriterien bei einer „rechtsvergleichenden Analyse“ im Sinn des Urteils des EuGH in der Rechtssache Ahmed, C-369/17, heranzuziehen seien, um zu beurteilen, ob eine bestimmte Straftat in anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als „schwere Straftat“ angesehen werde.

29       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 22. Oktober 2020, Ra 2020/20/0274, bereits ausgeführt, dass der EuGH im Urteil Ahmed, C-369/17, auf den bereits zitierten EASO-Bericht hingewiesen habe, welcher empfehle, dass die Schwere der Straftat, aufgrund deren eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u.a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde.

30       Im Revisionsfall berücksichtigte das BVwG zunächst, dass der EASO-Bericht (S. 32, 50) eine „gefährliche Körperverletzung“ als ein Beispiel einer „schweren Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie nennt. Das BVwG führte sodann - auf Grundlage entsprechender Feststellungen - aus, dass eine schwere Körperverletzung zwar nur in Österreich als „Verbrechen“ gewertet werde, in den Rechtsordnungen Deutschlands, Frankreichs und Spaniens aber für eine Körperverletzung wie die vom Revisionswerber zu verantwortende auf Grund von Deliktsqualifikationen Strafrahmen in einer ähnlichen Größenordnung bestünden. Dies wird in der Revision auch nicht bestritten.

31       Vor diesem Hintergrund kann es dahinstehen, ob die - in der Revision bekämpfte - Deutung des BVwG, es komme bei einem Vergleich mit anderen Rechtsordnungen nicht auf die nationale Einordnung einer Tat in verschiedene Kategorien von Straftaten, sondern auf den „möglichen Gesamtunwert gewisser Deliktstypen“ an, zutreffend ist (vgl. aber EuGH Ahmed, C-369/17, Rn 36, wonach der Begriff der „schweren Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie autonom nach Maßgabe des Unionsrechts auszulegen ist). Nach dem genannten EASO-Bericht (S. 31, 50), auf welchen sich der EuGH (Ahmed, C-369/17, Rn 56) in diesem Zusammenhang bezieht, kann nämlich schon einer von mehreren Faktoren (Art der Tat; Bestrafung; tatsächlicher Schaden; Form des Verfahrens) für sich genommen zu dem Schluss führen, es liege eine „schwere Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie vor.

32       Fallbezogen stützte das BVwG seine Beurteilung tragend auf das Ausmaß an Gewalt und die Vorgehensweise des Revisionswerbers und somit auf die Art der Tatbegehung im Sinn des EASO-Berichts.

33       Schon deswegen hängt die Revision weder von der Lösung der Rechtsfrage ab, wie viele nationale Rechtsordnungen bei der Beurteilung, ob die fragliche Straftat überwiegend als „schwere Straftat“ angesehen wird, einzubeziehen sind, noch von der Beantwortung der zu ihrer Zulässigkeit ebenfalls aufgeworfenen Frage, welchem Gewicht der eingetretene Schaden (im Sinn des im EuGH-Urteil Ahmed verwiesenen EASO-Berichts) bei der Beurteilung einer „schweren Straftat“ zukommt.

34       Ihre Zulässigkeit begründet die Revision weiters damit, das BVwG habe die bedingte Strafnachsicht und die Anordnung von Bewährungshilfe nicht entsprechend gewürdigt.

35       Auch damit legt die Revision eine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht dar. Das BVwG ging zwar im Rahmen seiner Befassung mit der Strafzumessung nicht eigens auf den Umstand der bedingten Strafnachsicht, jedoch auf die Anordnung von Bewährungshilfe ein, und stützte seine Beurteilung - wie bereits dargestellt - tragend auf die Umstände der Tatbegehung, insbesondere Art und Ausmaß der Gewaltanwendung, sowie auf das Verhalten des Revisionswerbers nach der Tat. Dabei hob das BVwG hervor, dass dieser weder im Strafverfahren noch im Aberkennungsverfahren Verantwortung für seine Tat übernommen, noch Reue gezeigt habe.

36       Die Revision zeigt auch insoweit nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, der Revisionswerber habe unter besonders verwerflichen Umständen ein Verbrechen begangen, welches als „schwere Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie zu beurteilen sei, fallbezogen unvertretbar oder mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit belastet wäre.

37       Nichts Anderes gilt für das Zulässigkeitsvorbringen, das BVwG habe bei der Beurteilung des Vorliegens einer „schweren Straftat“ die im angefochtenen Erkenntnis festgestellte „positive Entwicklung“ des Revisionswerbers nach der Tatbegehung (wie verschiedene Integrationsbemühungen) nicht berücksichtigt. Es kann daher fallbezogen dahinstehen, ob und inwieweit solche Umstände, welche jedenfalls (auch) in die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Rückkehrentscheidung einzufließen haben (vgl. etwa VwGH 14.4.2021, Ra 2021/18/0048, Rn 28), in die Beurteilung des Vorliegens einer „schweren Straftat“ im Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. b Statusrichtlinie einzubeziehen sind. Klarstellend ist anzumerken, dass es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Anwendung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 auf die Prognose, ob weiterhin eine vom Fremden ausgehende Gefahr vorliegt, nicht ankommt (vgl. VwGH 22.10.2020, Ro 2020/20/0001; 20.10.2021, Ra 2021/20/0252).

38       In Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtverlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung enthält die Revision kein gesondertes Zulässigkeitsvorbringen.

39       In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 14. Dezember 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0369 Ahmed VORAB

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190067.L00

Im RIS seit

18.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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