Entscheidungsdatum
08.10.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W257 2185419-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 27.12.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.09.2021, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 21.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der am 22.03.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er im Iran geboren worden sei und er sich bis zuletzt dort aufgehalten habe. Er verfüge über eine dreijährige Schulbildung im Iran und habe dort Berufserfahrung als Tischler gesammelt. Seine Muttersprache sei Farsi/Dari. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekenne sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Er sei ledig und habe keine Kinder. In seinem Heimatland würden sich keine Verwandten aufhalten. Seine Eltern, sein Bruder und seine beiden Schwestern würden im Iran leben. Auch in Österreich habe er keine Angehörigen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass er den Iran verlassen habe, weil er und seine Geschwister dort illegal aufhältig gewesen wären. Da sie dort des Öfteren geschlagen worden wären und sie auch eine Abschiebung nach Afghanistan befürchtet hätten, habe seine Mutter beschlossen, er solle nach Europa gehen. Im Falle einer Rückkehr habe er niemanden in Afghanistan. Im Iran habe er Angst vor einer Abschiebung.
3. Mit Schreiben vom 01.03.2016 erging die Vereinbarung, dass der minderjährige BF, der mit Beschluss eines Bezirksgerichts vom 23.12.2015 durch Land XXXX als Kinder-und Jugendwohlfahrtsträger, vertreten durch die Kinder- und Jugendhilfe des Magistrates der Stadt XXXX gesetzlich vertreten werde, die Ausübung der Obsorge an die Caritas übertrage.
4. Zu den mit der Ladung zur durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“) verschickten Länderfeststellungen zu Afghanistan gab die gesetzliche Vertretung des BF mit Schriftsatz vom 09.08.2016 eine Stellungnahme ab. In dieser wurde festgehalten, dass der Vater des BF im Iran Drogen verkauft hätte und er deswegen von der iranischen Polizei gesucht worden wäre. Der BF habe auch zur Polizeistation gehen müssen, wo er als Zehn- oder Elfjähriger zur Gartenarbeit eingeteilt und danach sexuell missbraucht worden sei. Er sei auch fünfmal von Bekannten seines Vaters vergewaltigt worden.
5.Bei der Einvernahme durch das BFA am 18.08.2016 gab der BF an, dass er gesund sei. Er habe bis vor einem Monat Schlaftabletten eingenommen, benötige jedoch derzeit aber weder eine Therapie noch einen Arzt. Seine Mutter habe ihm gesagt, dass er 14 Jahre alt sei. Seine Verfolgungsgründe würden sich auf den Iran beziehen.
Er könne integrationsbegründende Unterlagen sowie einen Impfpass, ein Schreiben und Fotos vorlegen. Zeugnisse aus dem Iran habe er keine.
Er sei afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem, schiitischer Glaubensrichtung. Er sei nie in Afghanistan gewesen, sondern im Iran geboren worden und dort aufgewachsen. Er sei drei Jahre in eine Schule gegangen und habe mit etwa zehn Jahren in einer Tischlerei zu arbeiten begonnen. Im Iran würden noch seine Eltern, seine beiden Schwestern und ein Bruder leben. Er sei mit seiner Mutter in regelmäßigem Kontakt. Er sei ledig und habe keine Kinder sowie keine Verwandten in Afghanistan oder Österreich. In seinem Heimatland sei er weder vorbestraft noch inhaftiert gewesen noch habe er Probleme mit staatlichen Behörden gehabt. Er verneinte auch, jemals politisch aktiv oder Mitglied einer politischen Partei gewesen zu sein. Er habe auch keine Probleme wegen seiner Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit gehabt und habe im Heimatland weder Probleme mit Privatpersonen gehabt noch an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen teilgenommen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er den Iran verlassen habe, weil sein Vater Drogendealer gewesen sei und nie gearbeitet hätte. Er habe sich nie um den BF gekümmert und diesen auch geschlagen. Er hätte es auch gewollt, dass er nicht mehr in der Tischlerei arbeite, sondern ebenfalls Drogen verkaufe. Eines Tages habe ihn ein Bekannter seines Vaters bedroht und ihm mit einem Messer in sein Ohr geschnitten. Der BF sei zur Polizei gegangen, doch dort hätten ihn zwei Soldaten abgepasst, ihn Gartenarbeiten verrichten lassen und ihm gedroht, dass er nach Afghanistan geschickt werde. Danach hätten sie ihn vergewaltigt. Er habe danach unter Schmerzen arbeiten muss. Später habe ihn ein Freund seines Vaters unter einem Vorwand zu sich nach Hause gelockt und dort mehrmals vergewaltigt. Es sei danach noch mehrmals zu solchen Vorfällen gekommen, sodass der BF zu seiner Mutter gemeint habe, dass er das Land verlassen müsse. So sei er nach Europa gegangen, weil er hier Bildung erhalten würde, ihn keine Männer anfassen würden und er keine Drogen verkaufen müsse. Er habe etwa drei bis vier Jahre in dieser Tischlerei gearbeitet und unter Woche auch gerne dort geschlafen, damit ihn sein Vater nicht finde. Wann und warum seine Eltern Afghanistan verlassen hätten, wisse er nicht. Im Iran müsse er in den Krieg ziehen und würde umgebracht werden, jedoch sei die Lage in Afghanistan noch schlimmer als im Iran.
In Österreich lebe er in einem Asylwerberheim und werde von der Caritas finanziell unterstützt. Er gehe in die Schule und besuche dort auch einen Deutschkurs. In seiner Freizeit spiele er Fußball und treffe Freunde. Er habe auch eine Patenfamilie, die ihm auch helfe, dass er Deutsch nicht nur verstehen, sondern auch sprechen könne. Er wolle Mechaniker werden. Er sei in keinem Verein ein aktives Mitglied und sei nicht straffällig geworden. Abschließend wurde der gesetzlichen Vertretung eingeräumt eine schriftliche Stellungnahme zu den aktuellen Länderfeststellungen binnen 14 Tagen zu erstatten.
6. Mit Schriftsatz vom 30.08.2016 gab die gesetzliche Vertretung des BF eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan ab. In dieser wurde festgehalten, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hätte und Angehörige der Minderheit der Hazara Diskriminierungen ausgesetzt wären. Beim BF komme noch hinzu, dass dieser besonders vulnerabel sei, weil er minderjährig sei und keine familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan habe. Seine im Iran lebende Familie sei auch nicht in der Lage, dass sie den BF in irgendeiner Form unterstützen könnte.
7. In einer Jugendstrafsache eines Bezirksgerichts vom 07.06.2017 hat sich der BF wegen eines Strafantrages zu §§ 218 Abs. 1 Z 1, 218 Abs. 1a StGB (sexuelle Belästigung) zu einer Erbringung gemeinnütziger Leistungen in der Höhe von 50 Stunden im Zuge einer diversionellen Erledigung bereiterklärt.
8. Mit Schriftsatz vom 13.11.2017 gab die gesetzliche Vertretung des BF eine Stellungnahme zu den persönlichen Verhältnissen des BF, verbunden mit einer Urkundenvorlage und zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan, ab. In dieser wurde festgehalten, dass sich strafrechtlichen Verfolgungen gegen den BF allesamt eingestellt worden wären, er sich aktiv um eine Lehrstelle bemühen würde und seine sprachliche und gesellschaftliche Integration vorantreibe. Die Sicherheitslage und die menschenrechtliche Situation hätten sich im Jahre 2017 in Afghanistan weiterhin verschlechtert. Mit Schreiben vom 19.12.2017 wurde ein weiterer Einstellungsbeschluss eines Strafverfahrens den BF betreffend vorgelegt.
9. Mit Bescheid vom 27.12.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.12.2018 erteilt (Spruchpunkt III.). Begründend wurde festgehalten, dass das Vorbringen des BF bezüglich des Aufwachsen im Iran als glaubhaft erachtet werde. Dem Vorbringen des BF, dass er im Iran mehrmals vergewaltigt worden sei und sein Vater drogensüchtig wäre, sei keine asylrechtlich relevante Bedrohungssituation betreffend Afghanistan zu entnehmen gewesen. Vielmehr habe sich der BF auch darauf berufen, dass sich seine Verfolgungshandlungen nur auf den Iran beziehen würden und er nicht wisse, aus welchen Grund seine Eltern Afghanistan überhaupt verlassen hätten. Er habe sonstige verfolgungsbegründende Probleme mit seinem Heimatstaat verneint. Auch für den Fall der Rückkehr sei keine asylrechtlich Verfolgungsgehfahr aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder einer anderen sozialen Gruppe für den BF zu entnehmen gewesen.
Aufgrund des Aufwachsens des BF im Iran, der Ermangelung familiärer Anknüpfungspunkte in Afghanistan und seiner Minderjährigkeit würden beim BF individuelle Verhältnisse vorliegen, die es nicht mit erforderlicher Sicherheit ausschließen lassen würden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan keiner realen Gefahr ausgesetzt sei, die eine existenzbedrohende Notlage nach sich ziehen könnte. Es sei diesem daher der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.
10. Mit Verfahrensanordnung vom 28.12.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt.
11. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 26.01.2018 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass die belangte Behörde die Verneinung der wohlbegründeten Furcht des BF vor seiner Verfolgungsgefahr mit unzulässig mutwilligen, aktenwidrigen und auch widersprüchlichen Schlussfolgerungen begründet hätte. Insbesondere sei der BF aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Waisenkinder und der als „westlich“ und somit als politisch feindlich wahrgenommenen Rückkehrer einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt. Da er alleinstehend und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sei, weise er weitere Vulnerabilitätsmerkmale auf, die eine asylrechtlich relevante Verfolgung nach sich ziehen würden. Ebenso habe die belangte Behörde in ihrer Entscheidungsfindung weder seine Minderjährigkeit noch seine familiären Verhältnisse einfließen lassen. So wäre sie verpflichtet gewesen, noch weitere Ermittlungen zu tätigen, ob der BF nicht der Gefährdung eines möglichen Ehrenmordes durch seinen Vater ausgesetzt sei. Jedenfalls sei der BF im Falle einer Rückkehr aufgrund des mangelnden staatlichen Schutzes einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt, die ihm aufgrund der zuvor angeführten Merkmale eine ihren Ansichten widerstrebende politische Gesinnung unterstellen würden.
12. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 06.02.2018 vom BFA vorgelegt, wobei die belangte Behörde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichte habe. Es wurde auch beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
13. Mit Schreiben vom 23.06.2021 ersuchte der BF um Vertagung der für 24.06.2021 vor dem BVwG anberaumten mündlichen Verhandlung, weil er mittels Kurzarztbrief eines Klinikums darlegte, dass er aufgrund eines Suizidversuchs mittels Schnittverletzung stationär in die dortige Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin aufgenommen wurde. Mit Schreiben vom 20.07.2021 legte der BF den diesbezüglichen Entlassungsbrief vor.
14. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 14.07.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung, nunmehr die BBU GmbH, persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete mit Schreiben vom 10.09.2021 auf eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Der BF gab an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Seine Mutterspreche sei Dari, er spreche aber sehr gut Deutsch, sodass die Konversation auch in dieser Sprache geführt werden könne. Er legte einen gültigen Arbeitsvertrag, ein Zeugnis zur Integrationsprüfung und zwei Jahreszeugnisse einer Berufsschule vor. Gesundheitlich gehe es ihm gut.
Er berief sich darauf, dass er im Verlauf des bisherigen Verfahrens immer die Wahrheit gesagt und er die Dolmetscher immer gut verstanden habe.
Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppen der Hazara und gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er sei im Iran geboren worden und dort aufgewachsen. Er habe drei Jahre eine afghanische Schule im Iran besucht. In Österreich befinde er sich in der Lehre zum Maurer.
Danach erfolgte die Befragung zu seinen Fluchtgründen, wobei der BF angab, dass sein Vater im Iran Drogen verkauft hätte und er deswegen nicht in die Schule gehen hätte können. Der BF habe sich jedoch eine Arbeit in der Tischlerei gesucht und sei Vater sei ebenfalls dagegen gewesen. Er habe weiterhin Drogen konsumiert und mit dem BF und seiner Mutter gestritten. Dann sei er verschollen gewesen und die Polizei habe nach ihm gefragt. Da sowohl die Polizei als auch die Freunde des Vaters immer wieder den BF und seine Mutter heimgesucht hätten, hätte sie mehrmals ihre Anschrift gewechselt. Eines Tages habe ihn ein Freund des Vaters bedroht und ihm das Ohr abschneiden wollen. Er sei danach zur Polizei gegangen, doch dort habe man ihn ausgelacht und die Anzeige nicht entgegengenommen. Er habe die Polizeistation putzen müssen und danach hätten zwei Soldaten oder Beamte gesagt, dass er ruhig blieben müsse, sonst werde er abgeschoben. Daraufhin sei er vergewaltigt worden. Er habe sich seiner Mutter anvertraut. Eines Tages hätten Freunde seines Vaters auf seinem Arbeitsplatz in der Tischlerei nach diesem gefragt und BF ebenfalls vergewaltigt. Danach habe er den Entschluss gefasst, den Iran zu verlassen, zumal er weder vergewaltigt noch nach Afghanistan abgeschoben werden wollte noch als Drogenverkäufer habe enden wollen.
Der Dolmetscher hielt fest, dass der BF einen iranischen Dialekt habe. Der BF führte aus, dass er nicht wisse, warum seine Eltern Afghanistan verlassen hätten. Seine Eltern wären aber noch in Afghanistan geboren worden. Seitens Afghanistan oder Bevölkerungsteilen in Afghanistan werde der BF nicht bedroht. Verwandte habe der BF in Afghanistan nicht.
Danach wurde festgehalten, dass der BF im Laufe seines Verfahrens eine Reihe von Faktoren vorgebracht habe, die in einer Gesamtbetrachtung ein erhöhtes Verfolgungsrisiko begründen würden. Dazu zähle etwa seine Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara, sein langjähriger Auslandsaufenthalt, seine Traumatisierungen, der Umstand, dass er in Afghanistan als Iran-Rückkehrer diskriminiert werden sowie als „verwestlicht“ betrachtet werden würde und die Tatsache, dass er keinerlei familiäre und sozial Anknüpfungspunkte in Afghanistan habe.
Laut VwGH sind diese Umstände „in ihrer Gesamtheit im Rahmen einer globalen Bewertung zu beurteilen, ohne einzelne Aspekte der Fluchtgeschichte ohne Rücksichtnahme auf andere Gesichtspunkte der Beurteilung zugrunde zu legen“ (Ra 2015/19/0180). In einem weiteren Judikat hält der VwGH fest, dass sich aus einer Mehrzahl allein nicht ausreichender Umstände im Einzelfall die wohlbegründete Flucht vor Verfolgung ergeben kann. Auch das BVwG schließt sich der Ansicht an, dass sich aus einer Kumulation von Eigenschaften Asylrelevanz ergeben kann (beispielsweise W255 2145523 vom 18.04.2017).
UNHCR ist der Ansicht, dass für Personen, die in der Wahrnehmung regierungsfeindliche Kräfte gegen deren Auslegung islamischer Grundsätze und Werte verstoßen, ein Bedarf an internationalem Schutz aufgrund einer begründeten Flucht vor Verfolgung wegen der Religion oder der unterstellten politischen Überzeugung bestehen kann. Dem BF würde im Falle einer Rückkehr Diskriminierungen und Benachteiligungen drohen, die die Schwelle einer asylrelevanten Verfolgung erreichen.
Danach wurde die mündliche Verhandlung geschlossen. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.
9. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
? Österreichischer Impfpass
? Referenzschreiben samt Fotos der Patenfamilie des BF
? Bewerbungsschreiben um eine Lehrstelle
? Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen
? Schulnachricht und „Ergänzende differenzierte Leistungsbeschreibung
? Teilnahmebestätigungen über den Besuch des Lehrganges „Übergangsstufe“
? Teilnahmebestätigung an Integrationskursen
? Benachrichtigungen über die Einstellung zweier Strafverfahren
? Sprachzertifikat ÖSD A1
? Arbeitsvertrag
? Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1
? Jahreszeugnisse einer Berufsschule der Schuljahre 2018/2019 und 2019/2020
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Die Muttersprache des BF ist Farsi/Dari. Der BF verfügt über einen nach Außen erkennbaren iranischen Akzent.
Der BF wurde im Iran geboren lebte mit seiner Familie bis zu seiner Ausreise nach Europa ausschließlich in diesem Staat. Im Iran besuchte der BF drei Jahre die Schule und arbeitete als Tischler. Der BF hat sich bis heute noch nie in Afghanistan aufgehalten. Der BF hat keine Verwandten, die derzeit in Afghanistan leben. Seine Eltern, ein Bruder und zwei Schwestern leben nach wie vor im Iran. Der BF hat auch keine Bekannten oder Freunde, die sich in Afghanistan aufhalten.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und verfügt hier in Österreich über keine Verwandten. Er verfügt über Deutschsprachkenntnisse auf B1-Niveau, besucht eine Berufsschule und steht kurz vor dem Abschluss der Lehrer als Maurer. Er sucht und hält Kontakt zu Bewohnern Österreichs und zeigt seinen Bildungswillen. Durch den Abschluss eines Arbeitsvertrages befindet sich der BF auch in einem aufrechten Dienstverhältnis.
Der BF ist nach seiner Ausreise aus dem Iran über die Türkei, in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 21.03.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der BF steht in Kontakt mit seiner im Iran lebenden Familie.
Aufgrund eines Suizidversuchs mittels Schnittverletzung wurde der BF stationär in die Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin eines Klinikums aufgenommen.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF wurde im Iran geboren und hat sich niemals in Afghanistan aufgehalten. Er hat daher keine eigenen Wahrnehmungen über den Grund der Ausreise der Familie von Afghanistan in den Iran. Der BF kann keine Angaben machen, weshalb seine Eltern entschieden haben, in den Iran zu übersiedeln und dort zu leben.
Der BF hat schließlich den Iran aufgrund der allgemeinen schlechten Situation/Sicherheitslage, der mangelnden Freiheit und der Tatsache, dass er illegal im Iran gelebt hat, verlassen.
Andere Gründe des BF für das Verlassen des Herkunftsstaates konnten nicht festgestellt werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vater des BF im Iran ein Drogendealer gewesen ist und ob der BF von Soldaten oder Polizisten sowie von Freunden seines Vaters im Iran vergewaltigt worden ist.
Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.
Der BF verfügt aufgrund eigener Gewalterfahrungen und seiner Wahrnehmung der Entwicklung in Afghanistan über eine deutlich „Afghanen/Afghanistan-ablehnende“ Haltung. Die Haltung und Denkweise des BF entspricht nicht den in der afghanischen Gesellschaft herrschenden Gepflogenheiten. Der BF möchte ein selbstbestimmtes Leben führen, sich bilden und eigenständig wesentliche Lebensentscheidungen treffen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara sowie schiitische Muslim in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es ist wahrscheinlich, dass der BF aufgrund einer Kumulation seiner Eigenschaften (Hazara, junger Erwachsener, iranischer Dialekt) bzw. Denk- und Verhaltensweise (Afghanistan ablehnend, modern denkend, moderne Interessen, nach selbstbestimmtem Leben trachtend), Vergangenheit (niemals in Afghanistan gelebt; nie in die afghanische Gesellschaft integriert) sowie psychischem und physischem Zustand (labiler Zustand; Selbstverletzung) in seiner Herkunftsland psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan sowohl Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder der Familie oder Mitglieder seiner ethnischen Gruppe und gleichzeitig Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu Erwerbsmöglichkeiten hat.
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kommt vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast.
Dem BF würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in sein Heimatland ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Zudem liefe er bei einer Rückkehr in sein Heimatland mangels familiärer Anknüpfungspunkte und mangels Eigentum Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur im Iran sozialisiert worden. Er ist zwar mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut, jedoch nicht ausreichend genug, um sich dort als alleinstehender Rückkehrer, der nie in Afghanistan gelebt, dort keine sozialen Anknüpfungspunkte hat sowie prägende Jahre seiner Entwicklung in Europa verbracht hat, in die afghanische Gesellschaft integrieren zu können.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 16.09.2021:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.09.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Über die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf medizinische Versorgung, Impfraten und Maßnahmen gegen COVID-19 sind noch keine validen Informationen bekannt.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.6.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Wochen nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.8.2021). Mit Stand 4.9.2021 wurden 153.534 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO 6.9.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IDW 17.6.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 3.6.2020).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, USAID 11.6.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage wurde durch die Auswirkungen der Pandemie noch verstärkt (AA 15.7.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.6.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.5.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.7.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.7.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.3.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM o.D.).
Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vgl. JS 7.9.2021). Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal (REU 8.9.2021). Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung (FP 23.8.2021), die schließlich nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets (JS 7.9.2021; vgl. UNGASC 2.9.2021). Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (JS 7.9.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vgl. AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021). Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten (FA 23.8.2021), jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (AJ 24.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021, AJ 23.8.2021).
Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als Quetta-Shura (NZZ 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war (NZZ 7.9.2021), ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war (ORF 7.9.2021). Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021), ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (NZZ 7.9.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vgl. BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vgl. ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.8.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Friedensverhandlungen, Abzug der internationalen Truppen und Machtübernahme der Taliban
Letzte Änderung: 16.09.2021
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass "irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020).
Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft (NZZ 7.9.2021)]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021).
Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021).
Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar (DW 18.7.2021). In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen (AAN 19.7.2021). Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (DW 18.7.2021; vgl. AAN 19.7.2021).
Abzug der Internationalen Truppen
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der "Bruch" des Doha-Abkommens "öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat" (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021). Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (AAN 17.8.2021).
US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen "Besatzungstruppen" gearbeitet hätten, "irregeführt" worden seien und "Reue" für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem "Verrat" am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021).
icherheitslage
Letzte Änderung: 16.09.2021
Jüngste Entwicklungen - Machtübernahme der Taliban
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vgl. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vgl. TAG 15.8.2021). Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vgl. BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vgl. BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vgl. WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vgl. ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein (AJ 6.9.2021) sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vgl. AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021). [Anm.: zum Widerstand im Distrikt Behsud s. auch Abschnitt 6.5]
Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (PAJ 15.8.2021; vgl PAJ 21.8.2021).
Vorfälle am Flughafen Kabul
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.8.2021; BBC 8.9.2021c, UNGASC 2.9.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.8.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.8.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.8.2021).
Am 26.8.2021 wurde bei einem der Flughafeneingänge ein Selbstmordanschlag auf eine Menschenmenge verübt, bei dem mindestens 170 afghanische Zivilisten sowie 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die das Gelände sichern sollten, getötet wurden. Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu dem Anschlag (MEE 27.8.2021; vgl. AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 1.9.2021; vgl. BBC 30.8.2021). Berichten zufolge soll es bei dem Drohnenangriff in Kabul jedoch zu zehn zivilen Todesopfern gekommen sein (AAN 1.9.2021; vgl. NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vgl. AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vgl. BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Es gibt jedoch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, währ