TE Bvwg Erkenntnis 2021/10/29 W155 2210285-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.10.2021
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Entscheidungsdatum

29.10.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W155 2210285-1/24E

W155 2210286-1/21E

W155 2210296-1/17E

W155 2232889-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KRASA über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX , 2. XXXX , geboren am XXXX , 3. XXXX , geboren am XXXX und 4 XXXX , geboren am XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU GmbH), gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX und XXXX , Zahlen 1. XXXX , 2. XXXX , 3. XXXX und 4. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX und XXXX der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. XXXX , XXXX , XXXX und XXXX werden jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind traditionell islamisch verheiratet und reisten unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 27.04.2016 Anträge auf internationalen Schutz.

Die niederschriftliche Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 27.04.2016 statt.

Der BF1 gab zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, dass er seine Frau kennengelernt und geheiratet habe. Die Verwandten seiner Frau wären damit nicht einverstanden gewesen und hätten gedroht, ihn und seine Frau umzubringen. Außerdem wären Taliban gekommen und hätten sein Haus bombardiert. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, dass er und seine Frau getötet werde. Zudem gab er an, dass Österreich sein Zielland gewesen sei, weil es ein sicheres Land sei und es keinen Krieg gebe.

Die BF2 gab zu ihrem Fluchtgrund befragt an, von ihrer Verwandtschaft mit dem Tod bedroht worden zu sein, da ihr Mann mit Amerikanern zusammengearbeitet habe. Sie fürchte um das Leben ihres Mannes und um ihr Leben.

Der Drittbeschwerdeführer (BF3) wurde am 13.06.2016 in Österreich geboren. Die BF2 stellte als gesetzliche Vertreterin für ihn am 16.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Infolge mit Ungarn geführter Konsultationen im Rahmen der Dublin III-Verordnung wurden die Anträge der Beschwerdeführer (BF) mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) vom 15.09.2016 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Ungarn zur Prüfung der Anträge zuständig sei. Zudem wurde die Außerlandesbringung der BF angeordnet und festgestellt, dass deren Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.

Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 23.01.2016 (BF1 und BF2) bzw. 23.01.2017 (BF3) stattgegeben, die Asylanträge zugelassen und die bekämpften Bescheide behoben.

Am 13.06.2018 wurden die BF vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab zu seinen Fluchtgründe zusammengefasst an, dass er die BF2 in der Stadt kennengelernt und ihr seine Handynummern habe zukommen lassen. Er habe der BF2 ein eigenes Handy besorgt und mit ihr ca. 5 Monate lang täglich in der Nacht stundenlang telefoniert. Sie habe ihm gesagt, dass sie als kleines Mädchen einem anderen Mann versprochen worden sei und ihn aber nicht heiraten wolle. Er sei nach ca. drei Monaten mit seinen Eltern zu ihrer Familie gegangen und habe bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. Der Vater der BF2 habe gesagt, dass seine Tochter bereits verlobt sei und habe seinen Vater geschlagen, er selbst sei ebenfalls vom Bruder der BF2 geschlagen worden. Sein Vater sei wütend gewesen, weil er im Vorfeld nichts von der Verlobung des Mädchens erfahren habe. Er selbst sei zu seinem Onkel F. gezogen und habe die BF2 zu sich geholt. Am nächsten Tag habe er von seinem Onkel F. erfahren, dass der Verlobte der BF2 seine Familie aufgesucht und nach ihm gesucht hätte. Nach ein paar Tagen habe ein Mullah ihn mit der BF2 im Haus des Onkels F. verheiratet. Er sei mit der BF2 zu einem anderen Onkel J. gezogen, nachdem die Familie des Verlobten auch beim Onkel F. nach ihnen gesucht hätte. Es hätte auch die Polizei in seinem Haus nach ihnen gesucht. Sein Vater habe schließlich die Ausreise organisiert und sei er gemeinsam mit der BF2 und mit Hilfe eines Schleppers aus Afghanistan geflüchtet.

Die BF2 gab hinsichtlich ihres Geburtsdatums korrigierend an, dass sie am XXXX geboren worden sei. Bezüglich ihrer Fluchtgründe führte sie an, dass sie einem Mann versprochen worden sei, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen sei. Sie habe immer gesagt, dass sie diesen Mann nicht heiraten wolle und gedroht, sich umzubringen, wenn sie gezwungen werde, ihn zu heiraten. Sie habe den BF1 kennengelernt und habe er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. Ihr Vater und ihr Bruder hätten wegen der Verlobung mit dem anderen Mann die Familie des BF1 geschlagen und aus dem Haus geworfen. Sie habe keinen anderen Ausweg gefunden, als wegzulaufen und mit dem BF1 zu flüchten. Die BF legten ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor (Empfehlungsschreiben, div. Teilnahmebestätigungen, Fotos, aber auch ärztliche Befunde).

Die belangte Behörde wies die Anträge der BF auf internationalen Schutz mit den oben genannten Bescheiden zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte den BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.). Gegen die BF wurde eine Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkte IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkte VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass den BF nicht gelungen sei, eine asylrelevante Bedrohung glaubhaft zu machen, da das Vorbringen widersprüchlich und nicht nachvollziehbar vorgetragen worden sei. Die BF hätten auch nicht glaubhaft dargelegt, dass sie im Falle ihrer Rückkehr keine Lebensgrundlage mehr hätten. Dem BF1 könne zugemutet werden, den Lebensunterhalt für seine Familie im Falle einer Rückkehr zu erwirtschaften. Zudem hätten die BF familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan und komme familiären Rückhalt in Afghanistan nach wie vor starke Bedeutung zu. Den BF sei eine Rückkehr nach XXXX zumutbar. Überdies stehe den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif offen. Die BF würden nicht über familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich verfügen. Das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen wiege schwerer als die privaten Interessen der BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich, weshalb sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als geboten erweise.

Die BF erhoben gegen oben genannte Bescheide fristgerecht Beschwerde mit der Begründung, dass sich die belangte Behörde nicht mit dem individuellen Vorbringen der BF auseinandergesetzt und eine unzutreffende Beweiswürdigung vorgenommen habe. Sie habe verkannt, dass die BF ein detailliertes und nachvollziehbares Vorbringen erstattet haben und hätte die belangte Behörde zum Schluss kommen müssen, dass den BF in Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung drohe. Ihr gleichbleibendes und nachvollziehbares Vorbringen habe eine begründete Furcht vor dem Verlobten der BF2 bzw. ihrer Familie dargetan. Den BF drohe eine asylrelevante Verfolgung durch den Verlobten der BF2. Zudem sei den herangezogenen Länderinformationen eine allgemeine Verschlechterung der Sicherheitslage zu entnehmen. Der BF1 legte ein Arbeitszeugnis eines Tourismusverbandes vor.

Mit Schreiben der belangten Behörde vom 11.02.2019 erfolgte eine Verständigung über die Vernehmung des BF1 als Beschuldigter durch eine Landespolizeidirektion. Eine Anzeige durch die Staatsanwaltschaft erfolgte nicht.

Am 23.05.2020 wurde der BF4 in Österreich geboren und stellte die BF2 als gesetzliche Vertreterin für ihn am 09.06.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid vom 23.06.2020 abgewiesen wurde.

Auf Grund einer Unzuständigkeitseinrede wurde der Verwaltungsakt am 26.05.2020 der Gerichtsabteilung W155 zugeteilt.

Mit Schriftsatz vom 20.05.2021 wurden weitere (vor allem ärztliche) Unterlagen vorgelegt.

Am 21.05.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Die Verfahren der BF wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die BF wurden zu ihrer Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, zu ihrem Gesundheitszustand, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

Mit Schriftsatz vom 28.05.2021 brachten die BF zusammengefasst vor, dass die COVID-19-Pandemie in Afghanistan außer Kontrolle geraten sei. Von einer Verbesserung der allgemeinen Situation in Afghanistan könne keine Rede sein. Auch die aktualisierten Berichte würden die weiterhin katastrophale Sicherheits- und Wirtschaftslage bestätigen. Die BF hätten in Afghanistan überhaupt keine Lebensperspektive und wären sie im Falle einer Rückkehr in realer Gefahr, in eine existentielle Notlage zu geraten und wäre eine innerstaatliche Fluchtalternative in keinem Bereich Afghanistans zumutbar. Sowohl die BF2 als auch der BF3 seien gesundheitlich beeinträchtigt. Es handle sich bei der BF2 und den minderjährigen BF3 und BF4 um vulnerable Personen. Aktuell hätten rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Bei der BF2 sei das Vorliegen einer „westlichen Gesinnung“ zu bejahen. Ergänzend wurde medizinische Unterlagen der BF2 aus 2020 (insbesondere über die Schwangerschaft und die Geburt des BF4) vorgelegt.

Mit Schriftsatz vom 20.09.2021 wurde um baldige Entscheidung ersucht mit dem Hinweis, dass die Familie bereits 6 Jahre in Österreich aufhältig sei und unter schwierigen Wohnverhältnissen (nur ein Zimmer) in einem Flüchtlingsheim lebe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der Beschwerdeführer:

Die BF führen die im Spruch angeführten Namen und Geburtsdaten. Sie sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben, den sie praktizieren. Ihre Muttersprache ist Dari.

Der BF1 und die BF2 haben in Afghanistan nach traditionell-islamischem Ritus vor einem Mullah geheiratet. Das Datum der Hochzeitszeremonie ist nicht bekannt.

Die BF sind Eltern der in Österreich geborenen minderjährigen BF3 und BF4.

Der BF1 und die BF2 stammen aus XXXX wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Europa gelebt haben.

Der BF1 hat für 12 Jahre die Grundschule besucht und maturiert, ohne Nachweis. Er hat ca. fünf Jahre als Kellner und Barkeeper gearbeitet. Die Familie des BF1 war wohlhabend und hatte ein Eigentumshaus und ein Auto. Die Eltern, zwei Brüder sowie zwei Schwestern des BF1 leben seit 2020 in Griechenland als anerkannte Flüchtlinge. Der BF1 steht mit seinen Angehörigen über soziale Medien in Kontakt. Ein Bruder des BF1 lebt seit ca. acht Jahren in Deutschland.

Die BF2 hat 7 Jahre die Schule besucht. Ihre Eltern, drei Brüder und eine Schwester sowie weitere Verwandte leben noch in Afghanistan. Die BF2 steht mit ihren Angehörigen nicht in Kontakt.

Die BF wurden nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, sie sind mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Zum Leben der BF in Österreich:

Der BF1 und die BF2 stellten am 27.04.2016, der BF3 am 16.06.2016 und der BF4 am 23.05.2020 im Rahmen des Familienverfahrens Anträge auf internationalen Schutz.

Sie halten sich seit ihren Antragstellungen bzw. seit ihrer Geburt auf Grund des vorläufigen Aufenthaltsrechts im Asylverfahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.

Der BF1 und die BF2 haben Deutschkurse auf dem Niveau A2 (BF1) bzw. A1/ A0 (BF2) besucht, jedoch keinerlei Prüfungen abgelegt. Der BF1 spricht gut, die BF2 kaum bzw. gebrochen Deutsch. Der BF1 hat diverse gemeinnützige Tätigkeiten durchgeführt, die BF2 hat sich nicht ehrenamtlich in Österreich betätigt. Der BF1 und die BF2 haben in Österreich jeweils einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Die BF2 ist im Haushalt tätig und hauptsächlich mit ihren Kindern beschäftigt und wird vom BF1 unterstützt. Sie gehen gemeinsam spazieren und einkaufen. Sie haben Kontakt zu afghanischen Familien. Die BF2 auch Kontakt zu Österreicherinnen. Sie will als Kindergärtnerin arbeiten ohne konkrete Informationen zur Ausbildung angeben zu können. Der BF1 möchte als Zusteller arbeiten oder Barkeeper, oder auf Baustellen oder als Autohändler, ohne konkrete Informationen zu einer Ausbildung angeben zu können. Eine Ausbildung war nach seiner Angabe wegen der Kinder und der Verantwortung noch nicht möglich.

BF3 und BF4 wachsen im elterlichen Haushalt und im sozialen Gefüge ihrer Familie auf. BF3 besucht den Kindergarten und BF4 wird von seinen Eltern zuhause betreut.

Die BF leiden an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Bei der BF2 wurden Hand- und Beinödeme sowie Asthma bronchiale diagnostiziert. Eine medizinische Therapie und/oder regelmäßige Einnahme von Medikamenten wurde nicht belegt. Beim BF3 besteht eine Entwicklungsstörung, ihm wurde mit Bescheid vom 03.11.2020 eine Ergotherapie, Logotherapie sowie klinisch-psychologische Behandlung im Ausmaß von 40 Stunden gewährt. Der BF1 und die BF2 sind arbeitsfähig.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten bzw. noch strafunmündig.

Zum Fluchtvorbringen und Rückkehrbefürchtungen

Die BF2 wurde weder jemanden Dritten im Kindesalter versprochen noch von ihrer Familie zwangsverlobt.

Das von den BF ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen im Zusammenhang mit der behaupteten Zwangsverlobung kann nicht festgestellt werden.

Die BF hatten in ihrem Herkunftsstaat weder Probleme mit den Behörden noch wurden sie wegen ihrer Nationalität, ihrem Bekenntnis zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken oder wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe bedroht oder wurde sonst eine Handlung oder Maßnahme aus diesen Gründen gegen sie gesetzt.

Den BF wird im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Bezüglich der in Österreich geborenen BF3 und BF4 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht und sind nicht ersichtlich.

Dem BF3 und dem BF4 ist es möglich, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren. Ihnen droht aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan weder physische oder psychische Gewalt noch sind sie deswegen einer Verfolgung oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Die BF2 ist in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Bei der BF2 handelt es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie verfügt – unter Berücksichtigung ihres bald sechsjährigen Aufenthaltes in Österreich – nur über geringe Deutschkenntnisse, kümmert sich in Österreich primär um den Haushalt und ihre Kinder. Die BF2 bewegt sich hauptsächlich in ihrem räumlichen Nahebereich. Sie ist überwiegend an ihrem Mann, der Kindererziehung sowie an der Haushaltsführung orientiert.

Zur Rückkehrmöglichkeit

Den BF droht bei einer Rückkehr in die Stadt XXXX kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit aufgrund der dort herrschenden aktuellen allgemeinen Sicherheitslage.

Den BF ist eine Rückkehr nach XXXX oder eine Neuansiedlung in größeren Städten wie Herat oder Mazar-e Sharif zum Entscheidungspunkt nicht zumutbar.

Durch die COVID-19 Situation und die Machtübernahme durch die Taliban ist die wirtschaftliche Lage in Afghanistan angespannt, die Arbeitslosigkeit gestiegen und sind besonders Familien sowie Gelegenheitsarbeiter von den wirtschaftlichen Folgen betroffen. Es ist zum Entscheidungszeitpunkt auf Grund der angespannten Versorgungslage nicht sicher, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können und könnten die BF Gefahr laufen, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zumal BF1 allein für die Unterhaltskosten seiner Familie sorgen müsste und die BF2 infolge der Betreuung der beiden Kinder aktuell nicht zum Lebensunterhalt beitragen könnte. Mit einer Unterstützung durch Familienangehörige im Falle einer Rückkehr ist nicht zu rechnen, da die Familie des BF1 nicht mehr in Afghanistan aufhältig ist und die BF2 keinen Kontakt zu ihren im Herkunftsstaat verbliebenen Angehörigen hat.

BF3 und BF4 sind Minderjährige im Alter von 5 ½ und 1 ½ Jahren. Sie leben im Familienverband mit ihren Eltern und sind von ihnen abhängig, sie verfügen über keine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung und muss von einer besonderen Vulnerabilität ihrer Personen ausgegangen werden.

Die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus stellt für sich allein kein Rückkehrhindernis dar. Die BF gehören keiner Risikogruppe an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würden. Zudem ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar und der Umgang der Taliban mit der Corona-Pandemie ungewiss.

Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Länderinformationsblatt (LIB) der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11. Juni 2021, gekürzt auf die entscheidungsmaßgeblichen Abschnitte und Berücksichtigung des aktuellen LIB vom 17.09.2021

COVID-19

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).

Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020; vgl. HRW 13.01.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden

Zivile Opfer

Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.01.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.01.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). [...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019 als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.01.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte;

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84% der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 07.02.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.06.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 09.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 07.02.2020).

Kabul

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 01.06.2020). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.). [...]

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020)

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 01.07.2020), und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.01.2021, USDOD 01.07.2020, NYTM 26.03.2020, HRW 12.05.2020)

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch, internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.01.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.06.2020; vgl LI 22.01.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).

In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.02.2021).

Grundversorgung und Wirtschaft

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.08.2019; vgl. WB 7.2019).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 07.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.07.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von US-Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020 aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.01.2021).

Rechtsschutz / Justizwesen

Familienrecht

Artikel 54 der Verfassung Afghanistans besagt, dass die Familie der Grundpfeiler der Gesellschaft ist und vom Staat geschützt werden soll. Er verpflichtet den Staat, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die körperliche und geistige Gesundheit der Familie, insbesondere des Kindes und der Mutter, die Erziehung der Kinder sowie die Beseitigung damit verbundener Traditionen, die den Prinzipien des Islam widersprechen, zu erreichen (Musawah 11.2019; cf. CoA 26.1.2004). Die Regelungen zum afghanischen Familienrecht für die sunnitische Mehrheit sind im afghanischen Zivilgesetzbuch von 1977 festgeschrieben (VfSt 31.10.1990; vgl. MPI AoRuVR 7.2012, Musawah 2.2020, ACCORD 22.1.2021, ZGB-AFGH 5.1.1977). Für die schiitische Minderheit in Afghanistan gilt seit 2009 das schiitische Personenstandsrecht (Musawah 2.2020; vgl. SPSL 2009).

Eheschließung und Registrierung der Ehe

Das Registrieren einer Ehe ist keine rechtliche Voraussetzung für deren Gültigkeit (RA KBL 3.1.2018; vgl. ACCORD 17.5.2019, MPI-PRIV 7.2012). Die meisten Ehen sind nicht registriert und werden nur vor einem Geistlichen (Mullah) geschlossen (RA KBL 3.1.2018). Nur jene Ehepartner, die ihre Ehe für offizielle Zwecke beglaubigen müssen, suchen um die Registrierung derselben an. Selbst vor kurzem geschlossene Ehen sind nicht registriert, außer dies wird von einer Behörde, oder anderen Organisationen für offizielle Zwecke, wie z.B. Migration, Erbschaft etc. benötigt (RA KBL 20.12.2020). Auch kann eine Ehe zu einem späteren Zeitpunkt offiziell registriert werden. Es existieren Fälle, in denen die Parteien ihre Ehen erst nach vielen Jahrzehnten registriert haben (RA KBL 3.1.2018; vgl. LI 10.5.2019). Jedoch ist es nicht immer einfach, eine religiös geschlossene Heirat im Nachhinein bei der afghanischen Botschaft bestätigt zu bekommen, insbesondere dann, wenn die Zeremonie bereits vor längerer Zeit stattgefunden hat und es kein Dokument gibt, das diese belegt (LIFOS 18.2.2019; vgl. ACCORD 17.5.2019).

Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 6.10.2020; vgl. AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus (AA 16.7.2020; vgl. CIA 6.10.2020, USDOS 10.6.2020). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 10.6.2020). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UP 16.8.2019; vgl. BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie

landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (USDOS 10.6.2020).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 10.6.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 10.6.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 10.6.2020), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen.
Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 10.6.2020).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.7.2020). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35 % gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte).

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.02.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.02.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.07.2020).

Art. 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ,Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 02.09.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 11.03.2020).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.07.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 11.03.2020).

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vgl. RFE/RL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.d). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der

Mehrheit (GIZ 4.2019). Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016). Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.d). Die Tadschiken sind im nationalen

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019), und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020, RFE/RL 02.06.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 09.06.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 01.06.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40% zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.01.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation (ASP 01.09.2020), Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.05.2020). Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP (EASO 8.2020c; vgl RA KBL 12.10.2020). Das Netzwerk ist nach seinem Gründer Jalaluddin Haqqani benannt (CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist sein Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.05.2020).

Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ (AS

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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