Entscheidungsdatum
04.11.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W256 2201194-1/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Caroline KIMM als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die XXXX gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.06.2018, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am 23. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG) im österreichischen Bundesgebiet.
Am 23. April 2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung statt. Darin führte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund befragt Folgendes an: „In Äthiopien im Gebiet Ogaden, wo auch XXXX liegt, kämpfen die Regierungstruppen gegen die ONLF (Befreiungsarmee, die Unabhängigkeit von Äthiopien wollen). Bei einem solchen Kampf starb auch mein Vater. Mir wurde von der ONLF vorgeworfen, dass ich Sympathisant der Äthiopier bin. Da ich mit dem Umbringen bedroht wurde, habe ich mit meiner Mutter beschlossen, dass es besser ist nach Europa (Deutschland) zu gehen, weshalb ich dann geflüchtet bin. Sonst habe ich keinen Grund.“
Am 28. Dezember 2017 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ der belangten Behörde einvernommen. Darin führte der Beschwerdeführer aus, dass er in XXXX Somalia geboren worden sei und seine Eltern, als er ein Jahr alt war, aus Somalia nach Äthiopien XXXX ausgewandert seien. Er gehöre dem Clan der Ogaden an. Sein Vater sei 2006 durch eine Mine der ONLF verstorben und die Mutter habe drei Jahre später den Onkel vs des Beschwerdeführers geheiratet. Er sei Unterstützer der ONLF gewesen, weshalb er vom äthiopischen Militär gesucht werde. Im Übrigen würde das äthiopische Militär den Beschwerdeführer aber schon allein aufgrund seiner Clanzugehörigkeit als ONLF-Sympathisanten verdächtigen und töten.
Am 7. Juni 2018 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ der belangten Behörde erneut einvernommen. Im Zuge der Einvernahme wurde der Beschwerdeführer zu seinen Bindungen und Anknüpfungspunkten zu Somalia sowie zu seinem Wissen über ONLF befragt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Somalia zulässig sei. Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer eine individuelle Verfolgung nur in Bezug auf Äthiopien, nicht aber in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia vorgebracht habe. Die Sicherheitslage in Somalia sei nicht in allen Teilen des Landes problematisch. Mogadischu oder XXXX seien sicher. Mogadischu sei zudem nicht von bestehenden Dürren und von keiner Lebensmittelknappheit betroffen. Da der Beschwerdeführer mehrere Jahre Schulbildung genossen habe, im erwerbsfähigen Alter sei und auf familiäre bzw. Clan-Netzwerke zurückgreifen könne, sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in eine wirtschaftlich ausweglose Lage geriete. Der Beschwerdeführer habe in Österreich keine Familienangehörigen und er sei auch nicht selbsterhaltungsfähig.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Darin wird unter auszugsweiser Zitierung diverser Länderberichte im Wesentlichen ausgeführt, dass die belangte Behörde nur mangelhafte Länderfeststellungen in Bezug auf die Sicherheitslage, insbesondere hinsichtlich Al-Shabaab und der Lebensbedingungen in Mogadischu getroffen habe. Mogadischu sei keine sichere innerstaatliche Fluchtalternative. Eine Rückkehrentscheidung würde einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers bedeuten.
Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor.
Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde den Parteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 27. Juli 2021 (im Folgenden: LIB) zum Parteiengehör übermittelt. Weiters wurde der Beschwerdeführer darin aufgefordert, Angaben zu seinem aktuellen Gesundheitszustand und seiner Integration in Österreich zu tätigen und allenfalls ergänzende Unterlagen dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen.
Am 23. September 2021 wurde dem Beschwerdeführer das LIB der Staatendokumentation zu Äthiopien, letzte Aktualisierung vom 07. Juli 2020, und die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation SOMALIA/ÄTHIOPIEN Verfolgungshandlungen gegen ONLF (in Somalia) vom 27. Juni 2019 durch das Bundesverwaltungsgericht übermittelt und diesen die Möglichkeit gegeben, im Rahmen des Parteiengehörs dazu Stellung zu nehmen.
In seiner Stellungnahme vom 28. September 2021 brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Lebensmittelversorgung, die COVID-Situation und die Lage am Arbeitsmarkt in Somalia äußerst problematisch sei. Aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage sei ernstlich zu befürchten, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Mogadischu in eine aussichtslose Lage geraten oder gar umkommen würde.
Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde durch die erkennende Richterin in der gegenständlichen Rechtssache am 05. Oktober 2021 eine öffentlich mündliche Verhandlung durchgeführt. Darin wiederholte der Beschwerdeführer im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
zur Person des Beschwerdeführers
Der – im Kopf genannte – Beschwerdeführer besitzt die somalische Staatsangehörigkeit (angefochtener Bescheid, Seite 20; AS 277; Verhandlungsschrift Seite 5 und 12).
Er wurde in XXXX in der Region XXXX in Somalia geboren. Als der Beschwerdeführer ca. ein Jahr alt war, wanderten die Eltern des Beschwerdeführers, die ebenfalls somalische Staatsangehörige sind, mit ihm nach XXXX Äthiopien aus (Verhandlungsschrift, Seite 5).
Der Beschwerdeführer hat 8 Jahre die Schule besucht. Er hat zusätzlich im Privatunterricht Englisch gelernt. Danach hat er im Lebensmittelgeschäft seiner Mutter ausgeholfen (Verhandlungsschrift S. 6)
Der Beschwerdeführer hat Äthiopien im Dezember 2014 verlassen (Verhandlungsschrift Seite 8). Die Kosten für seine Ausreise wurden von seiner Familie finanziert (Verhandlungsschrift Seite 8).
Der Beschwerdeführer verfügt über Angehörige in Somalia sowie in Äthiopien. Im Falle einer Rückkehr kann der Beschwerdeführer mit seinen Angehörigen in Kontakt treten und auf die (auch finanzielle) Unterstützung seiner Angehörigen zurückgreifen (siehe dazu die Beweiswürdigung).
Der Beschwerdeführer ist Angehöriger des Clans der Darod, Untergruppe Ogaden (angefochtener Bescheid, Seite 20; Verhandlungsschrift, Seite 5).
Der Beschwerdeführer wird im Rahmen der Grundversorgung versorgt (Auszug aus dem Grundversorgungssystem vom 30. September 2021 [OZ 17]).
Er ist strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 30. September 2021 [OZ 17]).
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten und verfügt auch sonst über keine wesentlichen Bindungen im Bundesgebiet (Verhandlungsschrift Seite 9f).
Der Beschwerdeführer spricht Somali, Deutsch und Englisch (Verhandlungsschrift, Seite 9).
Er hat Deutschkurse besucht, die Prüfung zu A2 (AS 205) bestanden, aber jene zu B1 (Verhandlungsschrift Seite 9) nicht bestanden. Außerdem hat er gemeinnützige Tätigkeiten bei der XXXX (AS 215) ausgeübt. Derzeit übt der Beschwerdeführer keine ehrenamtliche Tätigkeit aus (Verhandlungsschrift Seite 9). Der Beschwerdeführer ist Teil der Fußballmannschaft des XXXX (AS 213) und hat Freundinnen, mit denen er an Wochenenden etwas unternimmt (Verhandlungsschrift Seite 10).
Der Beschwerdeführer ist gesund und nimmt keine Medikamente (Verhandlungsschrift Seite 5)
zur Situation im Herkunftsstaat Somalia
Das Gebiet von Somalia ist faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (vgl LIB, Seite 5).
Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (LIB, Seite 5).
Mogadischu:
Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war. Heute hingegen ist Mogadischu unter Kontrolle von Regierung und AMISOM. Generell hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahren aber verbessert. Die Regierung unternimmt einiges, um die Sicherheit in der Stadt zu verbessern. Die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu haben sich verbessert, sie können nunmehr Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte (LIB, Seite 39 f).
Insgesamt ist die Sicherheitslage in Mogadischu ständigen Änderungen unterworfen (LIB, Seite 40).
Einerseits reicht die in Mogadischu gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Andererseits bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen – wenngleich die Durchführung schwierigerer geworden ist. Täglich kommt es zu Zwischenfällen in Zusammenhang mit al Shabaab (LIB, Seite 40).
Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen. Bei einem Abzug von AMISOM aus Mogadischu droht hingegen die Rückkehr von al Shabaab (LIB, Seite 40).
Al Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich. Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al Shabaab unterwandert. Die Gruppe kann weiterhin ins Stadtgebiet infiltrieren und auch größere Anschläge durchführen. Jedenfalls verfügt al Shabaab über großen Einfluss in Mogadischu und ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (LIB, Seite 41).
Mogadischu bleibt ein Hotspot terroristischer Gewalt. Al Shabaab ermordet dort immer noch regelmäßig Menschen. Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates [„officials“], Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM. Nach anderen Angaben sind v.a. jene Örtlichkeiten betroffen, die von der ökonomischen und politischen Elite als Treffpunkte verwendet werden – z.B. Restaurants und Hotels (LIB, Seite 41).
Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab. Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal. Die meisten Anschläge richten sich gegen Villa Somalia, Mukarama Road, Bakara-Markt, die Flughafenstraße und Regierungseinrichtungen. Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen (LIB, Seite 41).
Al Shabaab greift Zivilisten nicht spezifisch an. Diese leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Einerseits sind jene einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden. Andererseits besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (LIB, Seite 41).
Erreichbarkeit:
Die sicherste Arte des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen. Von Mogadischu aus können Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Hargeysa, Dhobley und Doolow mit Linienflügen erreicht werden (LIB, Seite 166).
zur Zwangsrekrutierung:
Al Shabaab entführt auch weiterhin Kinder, um diese zu rekrutieren. Betroffen sind in erster Linie ländliche, von al Shabaab kontrollierte Gebiete der Region Bay aber auch Middle Shabelle und Bakool. Allerdings ist die Zahl an derartigen Rekrutierungen seit 2019 rückläufig. Anfang 2020 betraf eine Rekrutierungskampagne die Regionen Bay, Bakool und Lower Shabelle (LIB, Seite 95).
Al Shabaab hat Kinder teils mit aggressiven und gewaltsamen Methoden rekrutiert. Es wird davon ausgegangen, dass al Shabaab Kinder von Minderheitengruppen systematisch entführt, um sie in die eigene Armee zu integrieren. Die Gruppe führt zu diesem Zweck Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch. Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen. Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden. Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen. An Gemeinden, die sich einer Herausgabe von Kindern verweigern, wird Vergeltung geübt. Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst (LIB, Seite 95).
In Lagern werden Kinder einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (LIB, Seite 95 f).
Manchmal werden Kinder aus den Händen der al Shabaab befreit, so etwa durch Sicherheitskräfte im August 2020, als 33 Buben aus einer Madrassa in Kurtunwareey (Lower Shabelle) befreit wurden. Alle Kinder wurden mit ihren Eltern wiedervereint (LIB, Seite 96).
Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia. Dabei versucht die Gruppe junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können trotz fehlenden religiösem Verständnis auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner der al Shabaab eine Rolle. Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Jugendliche selbst geben an, dass der Hauptgrund zum Beitritt zu al Shabaab oder zur Armee das Einkommen ist. Mindestens 50 % schließen sich al Shabaab aus ökonomischen Gründen an. Dies betrifft insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen. Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen der al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent. Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab sogar für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (LIB, Seite 96).
Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (LIB, Seite 96).
Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren. Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss. Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle der al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch die al Shabaab. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangsrekrutierung zu entziehen (LIB, Seite 96 f).
Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus der al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB, Seite 97).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Eine Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird. Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen der al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt – so etwa geschehen im Gebiet Toosweyne westlich von Baidoa. Dort wurden Ende 2019 und Anfang 2020 mehrere Gemeindeführer von al Shabaab in Haft genommen, weil sich die Bevölkerung weigerte, 100 Buben und 200.000 US-Dollar abzuführen. Tausende Familien sind in der Folge aus dem Gebiet geflüchtet. Im Bezirk Xudur (Bakool) hat al Shabaab Gemeinden Enteignung und Deportation angedroht. Die Gemeinden wehrten sich mit ihrer Miliz, die 2020 in mehrere Kampfhandlungen mit al Shabaab verwickelt wurde. Im Juli 2020 entführte al Shabaab in Reaktion 60 Personen, danach wurde ein Waffenstillstand ausverhandelt (LIB, Seite 97).
Generell gestattet al Shabaab keinen Austritt. Allerdings sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten. Oft gleicht eine Desertion jedoch einer Flucht – mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab. Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet (LIB, Seite 99).
In manchen Fällen kann ein Deserteur bei seinem eigenen Clan Schutz finden. Al Shabaab ist aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke. In Mogadischu sind Deserteure nicht sicher. Ob sie jedoch zum Ziel werden oder nicht, hängt auch von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab. Ein Deserteur befindet sich dann in einer gefährlichen Situation, wenn al Shabaab ihn aufspüren konnte. Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden. Dies gilt insbesondere für Deserteure mittleren Ranges. Doch auch einfache Mannschaftsgrade können zum Ziel werden (LIB, Seite 99).
Allerdings gibt es kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure. Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren. Interessanterweise sind auch die vorhandenen Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige der al Shabaab nie zum Angriffsziel geworden. Inwiefern al Shabaab also tatsächlich Energie in das Aufspüren und Töten von desertierten Fußsoldaten investieren will, ist unklar. Insgesamt besteht in einigen Fällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt – etwa durch die Zahlung von Geldbeträgen (LIB, Seite 99).
Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (LIB 2021, Seite 160).
zu Verfolgungshandlungen gegen Mitglieder der ONLF:
Es werden seit ungefähr Sommer 2018 weder in Somalia, noch in Äthiopien Verfolgungshandlungen gegen Mitglieder der ONLF gesetzt. Es gibt diesbezüglich auch keine Auslieferungen von Somalia nach Äthiopien (Anfragebeantwortung).
Minderheiten und Clans:
In weiten Teilen ist die Bevölkerung Somalias religiös, sprachlich und ethnisch weitgehend homogen. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (LIB, Seite 120).
Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB, Seite 120).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden (LIB, Seite 120):
• Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
• Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
• Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
• Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
• Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB, Seite 121).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB, Seite 121).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (LIB, Seite 121).
Es gibt keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LIB, Seite 121).
Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums. Die soziale Stellung der ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten nicht systematischer Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler. In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (LIB, Seite 122).
Nach anderen Angaben leiden Angehörige von Minderheiten an Arbeitslosigkeit und unter einem Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v.a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig, wie für die Älteren (LIB, Seite 122).
Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung. Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen aber nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können. Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet. Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (LIB, Seite 124 f).
Zur Diskriminierung berufsständischer Kasten trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen. Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z.B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (LIB, Seite 125).
Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (LIB, Seite 125).
Generell steht Diskriminierung in Somalia oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (LIB, Seite 118).
Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (LIB, Seite 118).
Regierung und Parlament sind entlang der sogenannten 4.5-Formel organisiert. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhält. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert. Selbst die gegebene, formelle Vertretung ist jedoch nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen. Politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren (LIB, Seite 119).
Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (LIB, Seite 119).
Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten (LIB, Seite 119).
zur Versorgungslage
Die somalische Wirtschaft hat mit dem dreifachen Schock aus Covid-19, einer Heuschreckenplage und Überschwemmungen zu kämpfen. Dabei hat sich die Wirtschaft als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 1,5 % geworden. Für 2021 wird ein Wachstum von 2,9 % prognostiziert. Jedenfalls ist der Viehexport im Rahmen der Covid-19-Pandemie zurückgegangen (LIB, Seite 175).
Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Entwicklung ist und bleibt die Diaspora – etwa durch Investitionen (v. a. in Mogadischu und anderen Städten). Remissen stabilisieren auch weiterhin Haushalte und Betriebe. Diese Rückflüsse sind 2020 im Vergleich zu 2019 noch einmal gestiegen, nach Angaben einer anderen Quelle sind sie aufgrund der Pandemie zurückgegangen. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) sind tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen (LIB, Seite 175).
Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können, die Bevölkerung wuchs schneller als das BIP. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 500 US-Dollar. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (LIB, Seite 176).
Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort (Stadt-Land- und Nord-Süd-Gefälle) ab. Generell zeigt vor allem die urbane Ökonomie in Somalia – allen voran in Mogadischu – eine Erholung. Es gibt einen Bau-Boom. Supermärkte, Restaurants und Geschäfte werden eröffnet. Alleine der Telekom-Konzern Hormuud Telecom hat in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer. In Puntland und Teilen Südsomalias – insbesondere Mogadischu – boomt der Bildungsbereich (LIB, Seite 176 f).
Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen limitiert sind. So berichten Personen, die aus Kenia in Orte in Süd-/Zentralsomalia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle. Gerade um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man aber auch auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde. Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen. Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden; außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise. Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem wird von Ausbeutung und Unterbezahlung berichtet (LIB, Seite 177).
Am Bau kann man beispielsweise als Träger arbeiten. Der Verdienst für eine derartige Tätigkeit beläuft sich auf rund 100 US-Dollar im Monat. Auch am Hafen gibt es Verdienstmöglichkeiten. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar, besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z.B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten. Damit erzielen sie ein Einkommen von 1-2 US-Dollar pro Tag (LIB, Seite 177).
Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch, wobei es zu konkreten Zahlen unterschiedlichste Angaben gibt (LIB, Seite 178).
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager (LIB, Seite 181).
Studien darüber, wie Menschen in Mogadischu ihren Lebensunterhalt bestreiten, haben sich auf die am meisten vulnerablen Gruppen der Stadt konzentriert: auf IDPs und Arme (urban poor). Für diese Gruppen ist es charakteristisch, dass sie humanitäre Unterstützung erhalten. Sie stellen etwa 20 % der Bevölkerung von Mogadischu. Diese Gruppen profitieren nur zu einem äußerst geringen Anteil von Remissen (2 % der Befragten; somalische Gesamtbevölkerung: 30 %). Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Aufgrund des Wiederaufbaus der Städte werden viele davon gebraucht. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Zusätzlich erhalten sie Nahrungsmittelhilfe und andere Leistungen über wohltätige Organisationen. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z.B. nur 2-3 Tage in der Woche. Allerdings bieten NGOs und der Privatsektor den Menschen grundlegende Dienste – vor allem in urbanen Zentren. Zudem haben Menschen in IDP-Lagern - v.a. wenn sie länger dort leben - in der Regel auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (LIB, Seite 181 f).
In einer Studie von IOM aus dem Jahr 2016 gaben arbeitslose Jugendliche (14-30 Jahre) an, in erster Linie von der Familie in Somalia (60 %) und von Verwandten im Ausland (27 %) versorgt zu werden. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall-bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib (Anm.: untere Ebene im Clansystem) maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar (LIB, Seite 182).
Laut Schätzungen überweist die Diaspora pro Jahr ca. 1,3 Milliarden bzw. 20 % des BIP. Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Sie ermöglichen größeren Teilen der Bevölkerung den Lebensuntererhalt, und damit Wasser, Gesundheitsleistungen, Bildung und Strom zu finanzieren. Diese Remissen, die bis zu 40 % eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte. Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar. IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen. Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist. Vorerst wurde geschätzt, dass die Remissen aufgrund der Covid-19-Pandemie 2020 um 17 % zurückgehen würden. Schließlich waren sie aber 2020 noch einmal höher als schon 2019 (LIB, Seite 182).
Die humanitären Bedürfnisse bleiben weiter hoch, angetrieben vom anhaltenden Konflikt, von politischer und wirtschaftlicher Instabilität und regelmäßigen Klimakatastrophen sowie der dreifachen Belastung durch Covid-19, Heuschrecken und Überflutungen. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Periodisch wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zum Land mit dem viertgrößten Bedarf an internationaler Nothilfe weltweit. Covid-19 hat die bereits bestehende Krise nur noch verschlimmert. Es fügt sich ein in die Krisen der schlimmsten Heuschreckenplage seit 25 Jahren, schweren Überflutungen mit zeitweise 650.000 Vertriebenen, dem mancherorts andauernden Konflikt und vorangehenden Jahren der Dürre. Insgesamt gelten rund 2,6 Millionen Menschen als im Land vertrieben, 3,5 Millionen können auch nur die grundlegendste Nahrungsversorgung nicht sicherstellen. Die Aussicht für das Jahr 2021 ist düster, die Gesamtzahl der auf Hilfe angewiesenen Menschen wird von 5,2 Millionen im Jahr 2020 auf 5,9 Millionen steigen (LIB, Seite 185).
Seit dem Jahr 2000 hat Somalia 19 schwere Überschwemmungen und 17 Dürren durchgemacht. Das ist dreimal so viel wie im Zeitraum 1970-1990. Im Jahr 2017 stand Somalia nach einer schweren Dürre am Rand einer Hungersnot. 2019 gab es nach einer ungewöhnlichen Gu-Regenzeit die schlechteste Ernte seit der Hungersnot im Jahr 2011 (LIB, Seite 185).
Schon im Zuge der überaus positiv ausgefallenen Deyr-Regenzeit (September-Dezember) 2019 kam es in HirShabelle, Jubaland und dem SWS zu Überschwemmungen. Besonders betroffen war Belet Weyne. 570.000 Menschen waren betroffen, 370.000 mussten ihre Häuser verlassen. Humanitäre Organisationen haben mehr als 350.000 Menschen Unterstützung geleistet. Doch auch die Gu-Regenzeit (April-Juni) 2020 sorgte für Überschwemmungen. Erneut waren in 39 Bezirken 1,3 Millionen Menschen betroffen, ca. 500.000 wurden vertrieben. Bei saisonalen Überflutungen im September 2020 wurden erneut 630.000 Menschen vertrieben. Dies betraf v. a. die Bezirke Merka, Afgooye, Balcad, Jowhar und Jalalaqsi. In der Gu-Regenzeit 2021 trafen Überschwemmungen vor allem die Bezirke Jowhar und Belet Weyne; rund 166.000 Menschen waren betroffen. Bei den Überschwemmungen im April-Juni 2020 wurden Felder zerstört. Im September 2020 wurden bei Überschwemmungen mehr als 1.320 Quadratkilometer bewirtschaftetes Land verwüstet. Insgesamt wurden 2020 alleine im Bundesstaat HirShabelle fast 1.500 Quadratkilometer Ackerland zerstört (LIB, Seite 185).
Im Jahr 2020 war Somalia von der größten Heuschreckenplage seit 25 Jahren betroffen, die Bundesregierung rief den nationalen Notstand aus. Zumindest Anfang 2020 blieben die durch Heuschrecken verursachten Schäden begrenzt und lokal. Die damals am meisten betroffenen Gebiete waren Somaliland, Puntland und Galmudug. Die Gu-Regenfälle 2020 haben dafür gesorgt, dass die Heuschrecken erneut ideale Brutbedingungen vorfinden. Die FAO und die Regierung hatten vorsorglich 437 Quadratkilometer mit Bio-Pestiziden besprühen lassen. Später im Jahr wurden neuerlich 396 Quadratkilometer in Somaliland, Puntland und Galmudug besprüht. Damit wurden rund 90.000 Tonnen Nahrung gesichert. Luft- und Bodenoperationen gegen die Plage werden fortgesetzt. Trotzdem hat sich die Plage auch in die zentralen und südlichen Landesteile verbreitet. Insgesamt sind rund 3.000 Quadratkilometer und 700.000 Menschen betroffen. Humanitäre Organisationen unterstützten 25.900 agro-pastorale Haushalte, davon rd. 7.500 mit Geld. Jedenfalls werden die Heuschrecken noch bis mindestens Mitte 2021 eine ernste Bedrohung für Weide und Ernte darstellen. Anfang Feber 2021 wurde dann auch von der somalischen Regierung ein diesbezüglicher Notstand ausgerufen. Diesmal betrifft die Plage eher den Süden des Landes. Nach anderen Angaben bzw. Prognosen ist die Heuschreckenplage zurückgegangen. Vor allem in Puntland und Somaliland wachsen noch Schwärme heran. Klimatische Bedingungen werden aber aller Voraussicht nach die Ausbreitung in landwirtschaftliche Gebiete in Süd-/Zentralsomalia verhindern (LIB, Seite 185 f).
Die Deyr-Regenzeit 2020 (Oktober-Dezember) setzte um drei bis vier Wochen zu spät ein. Insgesamt blieb Deyr unterdurchschnittlich – und dies v. a. in den meisten Gebieten Nordsomalias. Vor allem die Regionen Sanaag, Bari, Nugaal und Mudug waren von Wassermangel betroffen. Nur in Zentralsomalia fiel mehr Regen als üblich. Damit herrschte vor den Gu-Regenfällen (April-Juni) in mehr als 80 % des Landes moderate bis schwere Dürre. Diese wurde von der Bundesregierung am 25.4.2021 schlussendlich auch ausgerufen. Angesichts der globalen La-Niña-Lage wird prognostiziert, dass sich die Situation mittelfristig nicht entspannen wird. Die Gu-Regenfälle (April-Juni) 2021 verliefen gering, sie endeten bereits sehr früh - nämlich im Mai. Bis zur nächsten Regenzeit im Herbst werden milde bis moderate Dürrebedingungen vorherrschen (LIB, Seite 186).
Im November 2020 hat der Zyklon Gati Puntland getroffen und auch Teile Somalilands erreicht. Dies war der stärkste Zyklon in der Region, seit es Aufzeichnungen gibt. Der Zyklon brachte doppelt so starke Niederschläge, wie in einem Jahr durchschnittlich üblich. Dutzende puntländische Ortschaften und auch ein Teil von Bossaso wurden überschwemmt Infrastruktur, Häuser und 120 Fischerboote wurden beschädigt oder zerstört, 7.500 Stück Vieh getötet. 120.000 Menschen waren betroffen, 42.000 wurden temporär vertrieben. 78.000 Betroffenen wurde von humanitären Organisationen Hilfe geleistet (LIB, Seite 186).
In Südsomalia wird die Ernte nach der Deyr-Regenzeit um 20% niedriger ausfallen, als üblich. Im Norden viel die Gu/Karan-Ernte im November 2020 um 58% niedriger aus, als im langjährigen Durchschnitt. Die Heuschreckenplage hat signifikant zum Ernterückgang beigetragen. Die Gu-Ernte 2021 wird um 20-40 % unter dem Durchschnitt liegen (LIB, Seite 186 f).
Rund 77 % der Bevölkerung müssen mit weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag auskommen – insbesondere in ländlichen Gebieten und IDP-Lagern. Nach anderen Angaben leben 69 % der Bevölkerung in Armut, nach wieder anderen Angaben sind es 73 %. 43 % werden als extrem arm eingestuft. Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten. Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei. 60 % der Somali sind zum größten Teil von der Viehzucht abhängig, 23% sind Subsistenz-Landwirte. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert (LIB, Seite 187).
Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot] Die Zahl an Menschen, die in ganz Somalia stark oder sehr stark von Lücken in der Nahrungsmittelversorgung betroffen sind (IPC 3 und höher), ist von 1,3 Millionen Anfang 2020 auf 1,6 Millionen Anfang 2021 angewachsen. Weitere 2,5 Millionen Menschen leiden ebenfalls an Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung (IPC 2). Die Dürre Anfang des Jahres hat die Situation verschlimmert. Im Norden werden viele der ärmeren Nomaden zwischen April und September 2021 IPC 3 durchleben. Auch in Südsomalia wirken eine schlechte Ernte und die Dürre zusammen. Dort fallen die meisten Gebiete unter IPC 2; mehrere Gebiete werden sich aber im Zeitraum Juli-September auf IPC 3 verschlechtern. Die armen Stadtbewohner [„urban poor“] sowie IDPs in den größeren Städten befinden sich in IPC 3 und werden dort auch verbleiben. Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Mangel- oder Unterernährung leiden (LIB, Seite 187).
Szenario für April-Juni 2021 – wohlgemerkt bei ausbleibender humanitärer Hilfe: Während die städtische Bevölkerung (Ausnahme Kismayo bei IPC 3) und die meisten ländlichen Gebiete weitgehend in IPC 2 verharren werden, finden sich die meisten IDPs sowie einige über ganz Somalia verteilte, ländliche Gebiete in IPC 3 wieder. Lediglich Southern Inland pastoral (Teile von Hiiraan, Lower und Middle Shabelle, Bakool, Bay sowie Lower und Middle Juba) bleiben in IPC 1. Insgesamt wären dann 2,7 Millionen Menschen in ganz Somalia von IPC 3 oder IPC 4 sowie 2.9 Millionen von IPC 2 betroffen. Tatsächlich fielen im Mai 2021 bereits ca. 2,7 Millionen Menschen unter IPC 3 und darüber (LIB, Seite 187).
Die Mehrheit der IDPs in städtischen Gebieten sind arm und haben nur eingeschränkte Reserven und Einkommensmöglichkeiten. Sie sind stark von externer humanitärer Hilfe abhängig. Sie, sowie Teile der armen Stadtbevölkerung (urban poor) werden bis Mitte 2021 vor moderaten bis großen Lücken bei der Nahrungsmittelversorgung stehen (LIB, Seite 187f).
zur Versorgungslage in Mogadischu
Die Stadt Mogadischu wird auf der IPC-Food-Insecurity-Lagekarte für den Zeitraum Jänner bis März 2020 bzw Jänner bis März 2021 als IPC-2 Kategorie bewertet (vgl LIB, Seite 189).
Ein von der Bundesregierung und Hilfsorganisationen neu aufgelegter Somalia Humanitarian Response Plan (HRP) hat drei Millionen Menschen notwendige lebenserhaltende Unterstützung zukommen lassen. Die Kosten werden mit über einer Milliarde US-Dollar beziffert. Im Zeitraum Juli-Dezember 2020 erreichten humanitäre Organisationen durchschnittlich 1,8 Millionen Menschen pro Monat mit Nahrungsmittelhilfe. Im Zeitraum Jänner-April 2021 waren es jeweils 1,6 Millionen. Diese Hilfe verhindert eine stärkere Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung und eine höhere Rate an Unterernährung. Für Mogadischu gibt es ein spezielles Sicherheitsnetz, das von der Regierung gemeinsam mit dem World Food Programme betrieben wird. Dieses erreicht seit Juli 2018 monatlich 125.000 Menschen (LIB, Seite 194).
Die humanitäre Unterstützung für Somalia ist eine der am besten finanzierten humanitären Maßnahmen weltweit. Alleine die USA geben in den Jahren 2020 und 2021 mehr als einen halbe Milliarde US-Dollar dafür aus. Hilfsprojekte von internationalen Organisationen oder NGOs erreichen in der Regel nicht alle Bedürftigen. Allerdings kann aufgrund großer internationaler humanitärer Kraftanstrengungen und einer zunehmenden Professionalisierung der humanitären Hilfe bei den regelmäßig wiederkehrenden Dürren sowie Überschwemmungen inzwischen weitgehend verhindert werden, dass es zu Hungertoten kommt. Laut UN-Generalsekretär sind die Spitzen bei der Notwendigkeit humanitärer Hilfe in Somalia schon zur Routine geworden. In der Regel erreichen humanitäre Organisationen die Menschen. Im November 2020 hatten Organisationen der Nahrungsmittelhilfe beispielsweise die Erreichung von 2,1 Millionen Menschen angestrebt; erreicht wurden schließlich 1,9 Millionen. Aufgrund von Behinderungen beim Zugang zu den Menschen konnten in diesem Monat etwa nur 3 % der Menschen in Middle Shabelle und niemand in Middle Juba erreicht werden. In Benadir konnten – aufgrund von Finanzierungsausfällen – nur 22 % erreicht werden. Im Kampf gegen Unterernährung stoßen die Organisationen auf Probleme bei der Erreichbarkeit von Menschen in Middle Juba, dem Bezirk Tayeeglow (Bakool), Sablaale (Lower Shabelle) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB, Seite 194 f).
Aufgrund von Covid-19 hat z.B. die Hilfsorganisation CARE ihre work-for-cash-Programme ausgesetzt. Als Ersatz wird Hilfsbedürftigen das Geld auch ohne Arbeit auf ihr Mobiltelefon überwiesen. 84.000 Menschen nehmen dies in Anspruch. Die Europäische Kommission hat aufgrund der Heuschreckenplage weitere 5,8 Millionen Euro für Geldtransfers an Betroffene zur Verfügung gestellt (LIB, Seite 195).
Al Shabaab und andere nichtstaatliche Akteure behindern die Leistung humanitärer Hilfe und die Lieferung von Hilfsgütern an vulnerable Bevölkerungsteile – speziell in Süd-/Zentralsomalia (LIB, Seite 196).
Es gibt kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe. Soziale Unterstützung erfolgt entweder über islamische Wohltätigkeitsorganisationen, NGOs oder den Clan. Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor. Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals für Personen, deren Unterhalt und Überleben in Gefahr ist, zumindest einen rudimentären Schutz. Vorrangig stellen die patrilinearen (väterlichen) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden in der Regel - wie es ein Experte formuliert - „einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos“. Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten (LIB, Seite 196).
In Krisenzeiten (etwa Hungersnot 2011 und Dürre 2016/17) stellt die Hilfe durch Freunde oder Verwandte die am meisten effiziente und verwendete Bewältigungsstrategie dar. Neben Familie und Clan helfen also auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z.B. Unterkunft und Nahrung finden können. Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann. 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn (LIB, Seite 196 f).
In der somalischen Gesellschaft – auch bei den Bantu – ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt. Mit dem traditionellen Teilen werden in dieser Kultur der Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität Verbindungen gestärkt. Folglich wurden auch im Rahmen der Dürre 2016/17 die über Geldtransfers zur Verfügung gestellten Mittel und Remissen mit Nachbarn, Verwandten oder Freunden geteilt – wie es die Tradition des Teilens vorsah. Selbst Kleinhändlerinnen in IDP-Lagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen. Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidaritä (LIB, Seite 197).
Die hohe Anzahl an IDPs zeigt aber, dass manche Clans nicht in der Lage sind, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Vor allem, wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clan-Heimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus. Eine Ausnahme davon bilden Migranten, die ihren Familien und Freunden mit Remissen helfen können (LIB, Seite 197).
Rückkehrer:
Der UNHCR hat über drei Jahre mehr als 2.000 Haushalte mit fast 12.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Insgesamt haben 66 % der Rückkehrerhaushalte angegeben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht. Dies wird vor allem auf mangelnde Jobmöglichkeiten zurückgeführt; seit der Pandemie 2020 auch auf rückläufige Remissen. Die meisten Rückkehrer leben von Einkommen als Taglöhner oder als Selbstständige sowie von humanitärer Hilfe (LIB, Seite 200).
Nach anderen Angaben ist Somalia auf eine Rückkehr von Flüchtlingen in großem Ausmaß nicht vorbereitet, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfinden wird. Arbeitslose Rückkehrer im REINTEG-Programm (siehe unten) berichten über mangelnde Möglichkeiten; über eingeschränkte Erfahrungen, Fähigkeiten und Informationen über den Arbeitsmarkt. Nur 30 % der REINTEG-Rückkehrer sind mit ihrer ökonomischen Situation zufrieden, viele klagen über niedriges Einkommen und lange Arbeitsstunden. Dabei ist wirtschaftliche Unabhängigkeit für viele Rückkehrer im REINTEG-Programm ein Hauptthema. Viele von ihnen sind diesbezüglich Druck seitens ihrer Familie ausgesetzt – v.a. wenn sie aufgrund ihrer „abgebrochenen“ Migration noch Schulden offen haben. Manche Rückkehrer gehen deshalb explizit nicht in Regionen, wo Mitglieder des eigenen Clans leben (LIB, Seite 200).
Laut einer Quelle muss eine nach Mogadischu zurückgeführte Person nicht damit rechnen, ohne Angehörige zu verhungern. Selbst wenn jemand tatsächlich überhaupt niemanden kennen sollte, dann würde diese Person in ein IDP-Lager gehen und dort in irgendeiner Form Hilfe bekommen. Die Person ist auf Mitleid angewiesen; Hilfe findet sich vielleicht auch in einer Moschee. Jedenfalls würde eine solche Person so schnell wie möglich versuchen, dorthin zu gelangen, wo sich ein Familienmitglied befindet. Dass gar keine Familie existiert, ist sehr unwahrscheinlich (LIB, Seite 200).
Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Jedenfalls versucht die Mehrheit der Rückkehrer in eine Region zu kommen, wo zumindest Mitglieder ihres Clans leben, denn eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Rückkehrer ohne Clan- oder Familienverbindungen am konkreten Ort der Rückkehr finden sich ohne Schutz in einer Umgebung wieder, in der sie oftmals als Fremde angesehen werden. Nach anderen Angaben ist es bei einer Rückkehr weniger entscheidend, ob jemand Verwandte hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie diese persönlichen Verwandtschaftsbeziehungen funktionieren und ob sie aktiv sind, ob sie gepflegt wurden. Denn Solidarität wird nicht bedingungslos gegeben. Wer sich lange nicht um seine Beziehungen gekümmert hat, wer einen (gesellschaftlichen) Makel auf sich geladen hat oder damit behaftet ist, der kann - trotz vorhandener Verwandtschaft – nicht uneingeschränkt auf Solidarität und Hilfe hoffen (LIB, Seite 200 f).
Auch in Mogadischu sind Freundschaften und Clannetzwerke sehr wichtig. Zur Aufnahme kleinerer oder