Entscheidungsdatum
16.11.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W166 2189196-1/24E
W166 2189197-1/20E
W166 2189198-1/19E
W166 2189199-1/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA.: Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2018, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.09.2021 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Zweitbeschwerdeführer (BF2) reiste am 10.07.2016 gemeinsam mit seinem minderjährigen Sohn, dem Viertbeschwerdeführer (BF4), illegal und schlepperunterstützt ins österreichische Bundesgebiet ein. Der Zweitbeschwerdeführer stellte am selben Tag für seinen Sohn und für sich die hier gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.07.2016 gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sowie Volksgruppenangehöriger der Hazara sei und aus der Provinz XXXX stamme, aber seit seinem vierten Lebensjahr im Iran gelebt und dort nach neunjähriger Schulbildung als Handwerker gearbeitet habe. Nach Österreich sei er mit seinem minderjährigen Sohn gekommen, seine Frau und sein zweiter Sohn befänden sich momentan in Griechenland. Seine Eltern hätten Afghanistan mit ihm verlassen, da sie Feindschaften mit den Taliban und Regierungsgegnern gehabt hätten. Den Iran habe er hingegen verlassen müssen, weil ihm eine Zwangsrekrutierung durch die iranischen Behörden für den Krieg in Syrien oder eine Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe.
Mit Schreiben vom 14.03.2017 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: „BFA“ oder „belangte Behörde) der dazugehörigen Regionaldirektion Steiermark mit, dass die Erstbeschwerdeführerin (BF1) und der Drittbeschwerdeführer (BF3) ein Aufnahmeersuchen im Sinne des Artikel 10 der Dublin-III-Verordnung gestellt und die Überstellung von Griechenland nach Österreich beantragt haben.
Der Zweitbeschwerdeführer wurde am 10.04.2017 beim BFA, Regionaldirektion Steiermark, einvernommen und gab befragt nach seinen Fluchtgründen an, dass seine Eltern mit ihm Afghanistan verlassen haben, weil der Vater ein ranghohes Mitglied der Partei „Wahdat“, die nur aus Hazara und Schiiten bestehe, gewesen sei und deshalb vor den Taliban habe fliehen müssen. Dem Zweitbeschwerdeführer drohe daher Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan. Zudem kämpfe sein Vater in Syrien gegen den Islamischen Staat, weshalb der Zweitbeschwerdeführer Gefahr laufe, in Afghanistan auch vom IS umgebracht zu werden.
Am 13.06.2017 kamen die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer über den Flughafen Wien-Schwechat nach Österreich, wobei die Erstbeschwerdeführerin nach der Anhaltung durch die Polizei einen Antrag auf internationalen Schutz für ihren minderjährigen Sohn und für sich stellte.
Im Zuge ihrer Erstbefragung gab die Erstbeschwerdeführerin gegenüber Beamten des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, dass sie in Afghanistan geboren sowie Volksgruppenangehörige der Hazara sei, aber schon kurz nach ihrer Geburt mit ihren Eltern in den Iran gezogen sei, weil in Afghanistan Krieg geherrscht habe. Die letzten anderthalb Jahre habe sie mit dem Drittbeschwerdeführer in Griechenland gelebt.
Am 15.02.2018 wurde die Erstbeschwerdeführerin bei der belangten Behörde zu ihren Fluchtgründen ergänzend einvernommen. Sie gab im Wesentlichen an, dass ihre Eltern mit ihr Afghanistan aufgrund des Krieges verlassen hätten; nun könne sie nicht mehr zurückkehren, da die Volksgruppe der Hazara besonders gefährdet sei und ihr Schwiegervater in einer Gruppe mitgewirkt habe, die die Taliban bekämpft habe. Der Feind ihres Schwiegervaters habe der gesamten Familie gedroht, sie umzubringen.
Mit den am 20.02.2018 erlassenen und in diesem Verfahren bekämpften Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Es wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte in der Begründung der Bescheide aus, dass weder der Zweitbeschwerdeführer noch die Erstbeschwerdeführerin eine individuell gegen ihre Person gerichtete Verfolgung bzw. Bedrohung geltend gemacht hätten. Das Fluchtvorbringen für das Verlassen des Herkunftsstaates habe sich nur auf die Gründe der Eltern der Beschwerdeführer bezogen und diese Ereignisse – ein möglicher Konflikt mit den Taliban – liege bereits mehr als 25 Jahre zurück, weshalb keine Verbindung zu einer aktuellen Verfolgung der Beschwerdeführer hergestellt werden könne. Das Vorbringen der Beschwerdeführer, dass das Leben im Iran schwer gewesen sei und dem Erstbeschwerdeführer eine Zwangsrekrutierung durch iranische Behörden gedroht habe, habe außer Acht zu bleiben, da die Beschwerdeführer afghanische Staatsangehörige seien und damit Afghanistan deren Herkunftsstaat darstelle. Mit der afghanischen Hauptstadt Kabul stehe den Beschwerdeführern eine zumutbare, innerstaatliche Fluchtalternative offen.
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde den Beschwerdeführern mit Verfahrensanordnung vom 21.02.2018 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.
Mit Schriftsatz des von den Beschwerdeführern bevollmächtigten MigrantInnenverein St. Marx vom 08.03.2018 wurde fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde erhoben. Darin wird insbesondere geltend gemacht, dass den Beschwerdeführern in Afghanistan aufgrund der im behördlichen Verfahren geschilderten Probleme der Eltern Verfolgung drohe. Des Weiteren sei den Beschwerdeführern Asyl zu gewähren, da die Erstbeschwerdeführerin „westlich orientiert“ sei und eine innere Überzeugung angenommen habe, die den Grundwerten der afghanischen Gesellschaft widerspreche.
Die Beschwerden samt den Verwaltungsakten langten am 14.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Am 31.10.2018 erstatte die Erstbeschwerdeführerin Anzeige gegen den Zweitbeschwerdeführer wegen des Verdachtes der fortgesetzten Gewaltausübung und mehrfacher Vergewaltigung. Es wurde in der Folge ein Betretungsverbot gemäß § 38a SPG gegenüber dem Zweitbeschwerdeführer ausgesprochen.
Per 31.10.2018 wurde der Zweitbeschwerdeführer aus disziplinären Gründen von der Grundversorgung des Landes Steiermark abgemeldet.
Mit Schriftstück vom 03.01.2019 wurde vom BFA ein Abschlussbericht einer Landespolizeidirektion übermittelt. Es kam zu keiner strafrechtlichen Verurteilung.
Am 08.09.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Zweitbeschwerdeführer und die Erstbeschwerdeführerin, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, im Beisein eines Dolmetschers, von der erkennenden Richterin zu ihren Anträgen und ihrer Beschwerde einvernommen wurden und die Möglichkeit hatten, den Sachverhalt umfassend darzulegen. In der mündlichen Verhandlung wurden einige Empfehlungsschreiben sowie eine ärztliche Stellungnahme einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 31.08.2021 betreffend die Erstbeschwerdeführerin vorgelegt.
Die belangte Behörde teilte mit Schriftstück vom 26.07.2021 mit aus dienstlichen und personellen Gründen auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu verzichten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zu den Beschwerdeführern und den Fluchtgründen:
Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, Volksgruppenangehörige der Hazara und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Dari. Der Zweitbeschwerdeführer und die Erstbeschwerdeführerin sind verheiratet, die Ehe bestand bereits vor der Einreise ins österreichische Bundesgebiet und sie sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer.
Die Identität der Beschwerdeführer steht lediglich mit der für das Verfahren ausreichenden Sicherheit fest.
Der Zweitbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführer reisten illegal und schlepperunterstützt ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 10.07.2016 Anträge auf internationalen Schutz. Die Erstbeschwerdeführerin und der Viertbeschwerdeführer reisten illegal und schlepperunterstützt ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 13.06.2017 Anträge auf internationalen Schutz.
Der Zweitbeschwerdeführer ist in der Stadt XXXX in Afghanistan geboren und als dieser fünf Jahre alt war ist seine Familie in den Iran gezogen. Die Erstbeschwerdeführerin ist ebenfalls in der Stadt XXXX in Afghanistan geboren. Ihre Familie ist in den Iran gezogen als sie sieben Monate alt war. Der Zweitbeschwerdeführer und die Erstbeschwerdeführerin sind in Teheran aufgewachsen und hielten sich dort bis zu ihrer Ausreise nach Österreich auf. Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind im Iran geboren und aufgewachsen. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte in Teheran neun Jahre die Schule und hat in Teheran als Handwerker gearbeitet. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte im Iran 12 Jahre die Schule und war Hausfrau.
Die Beschwerdeführer haben keine Verwandten in Afghanistan. Alle Verwandten der Beschwerdeführer leben mittlerweile im Iran.
Die Erstbeschwerdeführerin leidet psychisch unter einem depressiven Zustandsbild bei Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung und an Epilepsie. Die Erstbeschwerdeführerin ist in regelmäßiger psychotherapeutischer sowie medikamentöser Behandlung.
Der Zweitbeschwerdeführer sowie die Dritt- bis Viertbeschwerdeführer sind gesund.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt war bzw. ihm eine solche Verfolgung im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung auf Grund der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.
1.2. Zur Rückkehrsituation der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Afghanistan:
Für die Beschwerdeführer würde eine Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten, instabilen Sicherheitslage und der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens infolge willkürlicher Gewalt mit sich bringen, insbesondere zusätzlich verschärft durch die bei der Erstbeschwerdeführerin vorliegenden Erkrankungen, sowie die derzeit nicht mehr einschätzbare Situation im Umgang mit der Corona- Pandemie. Auch ist zu betonen, dass die Beschwerdeführer ernsthaft Gefahr laufen würden, ihre grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder nicht in ausreichendem Maße befriedigen zu können. Die Beschwerdeführer würden daher in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten. Die Beschwerdeführer haben in Afghanistan zudem keine Ortskenntnis, Wohnmöglichkeit oder Unterstützung durch Familienangehörige, da sie von ihrer frühen Kindheit an durchgehend im Iran wohnhaft waren und keine Verwandten mehr in Afghanistan haben.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesen ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
1.3. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Der Zweitbeschwerdeführer und die Erstbeschwerdeführerin haben Deutschkurse besucht, jedoch keine Prüfungen abgelegt. Die Deutschkenntnisse der beiden Beschwerdeführer sind sehr mäßig. Der Zweitbeschwerdeführer arbeitet ehrenamtlich in seiner Wohngemeinde und in der Nachbarschaftshilfe.
Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer besuchen in Österreich die Schule.
Die Beschwerdeführer beziehen Leistungen aus der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig.
Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.
1.4. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat Afghanistan:
LIB 16.09.2021
Politische Lage
Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB). Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB). Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB). Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB). Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB). Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).
Erreichbarkeit
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).
Internationale Flughäfen in Afghanistan
In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB).
Internationaler Flughafen Hamid Karzai [Internationaler Flughafen Kabul]
Ehemals bekannt als internationaler Flughafen Kabul, wurde er im Jahr 2014 in „Internationaler Flughafen Hamid Karzai“ umbenannt. Er liegt 16 km außerhalb des Stadtzentrums von Kabul. In den letzten Jahren wurde der Flughafen erweitert und modernisiert. Ein neues internationales Terminal wurde hinzugefügt und das alte Terminal wird nun für nationale Flüge benutzt (LIB).
Die Taliban haben Katar um technische Hilfe bei der Wiederaufnahme des Flughafenbetriebs auf dem Hamid-Karzai-Flughafen gebeten, der bei der überstürzten Evakuierung von mehr als 120.000 Menschen nach dem Abzug der amerikanischen Truppen am 30. August schwer beschädigt worden war. Vertreter aus Katar erklärten Anfang September, der Flughafen von Kabul sei zu 90 % wieder betriebsbereit (LIB).
Nationale (Kam Air, Ariana Afghan Airlines) und internationale Fluggesellschaften (z.B. Air India, Air Arabia, Fly Dubai…) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von der Türkei, China, Indien, Aserbaidschan, Usbekistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Kabul an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Kabul (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zu den Flughäfen von Kandahar, Bost (Helmand, nahe Lashkargah), Tarinkot, Faizabad, Zaranj, Kunduz, Farah, Herat und Mazar-e Sharif (LIB).
Internationaler Flughafen Mazar-e Sharif
Im Jahr 2013 wurde der internationale Maulana Jalaluddin Balkhi Flughafen in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, eröffnet. Nationale Airlines (Kam Air, Ariana Air) boten [vor der Machtübernahme der Taliban] internationale Flüge von Indien und der Türkei nach Mazar-e Sharif an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Mazar-e Sharif (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB).
Internationaler Flughafen Herat
Der Flughafen Herat befindet sich etwa 10 km südlich von Herat-Stadt entfernt. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden auf dem Flughafen jährlich etwa 350.000 Passagiere abgefertigt und die Verwaltung des Flughafens sowie die Instandhaltung des Flugplatzes wurden [vor ihrem Abzug] von den NATO-Streitkräften unter italienischem Kommando durchgeführt. Nationale Airlines (Kam Air und Ariana Afghan Airlines) flogen Herat international aus Saudi-Arabien an. Innerstaatlich gingen Flüge von und nach Herat (durch Kam Air bzw. Ariana Afghan Airlines) zum Flughafen von Kabul (LIB).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB)
Frauen
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass ’im Namen der Frauenrechte’ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (LIB).
Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (LIB).
Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen. Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in den vergangenen zwölf Monaten [Anm.: März 2020 - März 2021] mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Zufluchtsorten untergebracht (LIB).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Im vergangenen Jahr bekannten sich die Taliban dazu Frauen Arbeit und Bildung im Einklang mit der Scharia bzw. des islamischen Systems der Taliban zu gewähren. Doch auch wenn die Taliban-Führer eine sanftere Rhetorik in Bezug auf die Rechte der Frauen an den Tag legen, gibt es oft eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Aussagen und der Realität vor Ort, wo Befehlshaber der Taliban oft harte Regeln durchsetzen, die im Widerspruch zu den Beteuerungen ihrer Führer stehen (LIB).
Eine afghanische Richterin beschreibt, wie sie von Männern gejagt wurde, die sie einst inhaftiert hatte und nun von den Taliban-Kämpfern, die das Land übernommen haben, freigelassen wurden und es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (LIB).
Es gibt Berichte wonach die Taliban weibliche Angestellte einiger Banken aufgefordert hätten, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Es kam mit September 2021 zu Protesten von Frauen in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, gegen die Taliban. Es gibt Berichte wonach einige Proteste, unter anderem solche von Frauen, durch die Taliban aufgelöst wurden, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten, Tränengas und Pfefferspray bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzten. Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Anti-Taliban-Proteste verschärft und haben alle nicht offiziell genehmigten Demonstrationen verboten, und zwar sowohl die Versammlung selbst, als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“ sollte man sich nicht daranhalten. Am 11.9.2021 kam es zu einem Pro-Taliban Protest durch einige hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden (LIB).
Lehrkräfte und Studierende an Universitäten in den größten Städten Afghanistans - Kabul, Kandahar und Herat - berichteten der Nachrichtenagentur Reuters, dass Studentinnen im Unterricht getrennt werden, separat unterrichtet werden oder auf bestimmte Bereiche des Campus beschränkt sind. In einigen Fällen wurden Schülerinnen durch Vorhänge oder Bretter in der Mitte des Klassenzimmers von ihren männlichen Kollegen getrennt (LIB).
Berichten zufolge haben die Taliban in neu eroberten Bezirken im ganzen Land strenge Regeln für Frauen eingeführt. In der Provinz Balkh haben die Taliban Flugblätter an die lokale Bevölkerung verteilt, in denen erklärt wird, dass Frauen ihr Zuhause nicht ohne männlichen Begleiter (Mahram) oder ohne Kopftuch verlassen dürfen. Ähnliche Berichte kamen aus den Provinzen Faryab und Jawzjan. Es gab auch Berichte über Frauen, die vor der Eroberung Kabuls gezwungen wurden, Taliban-Kämpfer zu heiraten. Der gut informierte Journalist, der für diesen Bericht interviewt wurde, gab an, dass diese Frauen in einigen Fällen minderjährig waren, er konnte diese Informationen jedoch nicht überprüfen. In Kandahar City gab es Berichte, dass Taliban Frauen von ihren Jobs in einer lokalen Bank verdrängten, und in Herat wurde Frauen der Zugang zu Schulen und zu einer Arbeit außerhalb der Hausarbeit in ihrem Zuhause verwehrt. Auf der anderen Seite konnten Frauen in der Provinz Logar den örtlichen Basar ohne männlichen Begleiter besuchen, wenn auch in einer Burka (Danish Immigration Service).
Einem Sprecher der Taliban zufolge wird es Frauen verboten werden Cricket zu spielen, da möglicherweise Gesicht oder Körper der Frau gesehen werden kann. Ein Mitglied des nationalen Cricketteams gab an, dass es aktuell in Kabul für Frauen nicht sicher sei, Sport zu betreiben (LIB).
Trotz dieser Vorfälle hat die Taliban-Führung erklärt, dass Frauen in Zukunft ein wichtiger Teil der afghanischen Gesellschaft sein werden und dass sie nach islamischen Regeln Schulen besuchen und arbeiten dürfen. Die Taliban-Führung war jedoch vage darüber, wie sie “in Übereinstimmung mit den islamischen Regeln“ interpretieren. Daher bleibt die Situation für Frauen in Afghanistan laut SER ungewiss (Danish Immigration Service).
Kinder
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt mit rund 47% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und davon 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt in Afghanistan bei 18,4 Jahren und die Volljährigkeit beginnt mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit – 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) – ist weit verbreitet (LIB).
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zu Hause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (LIB).
In den vergangenen fünf Jahren haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, auch für sexuelle Zwecke. Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden (LIB)
In der ersten Hälfte des Jahres 2021 machten Kinder 32% aller zivilen Opfer aus, darunter die höchste Zahl von Mädchen, die jemals von der UNAMA erfasst wurde. Unter den zivilen Opfern des Angriffs auf den Flughafen von Kabul am 26.8.2021 waren Berichten zufolge auch Kinder (LIB).
[Über Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf Kinder, Schulbildung von Mädchen und Rekrutierung von Minderjährigen sind noch keine validen Informationen bekannt]
Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021
Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemas der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weisen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsachlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a). Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nahe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige
Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Exkurs:
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban- Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
Quellen:
? bbc.com (o.D.a): Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say,https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952
? bbc.com (o.D.b): Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city,https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021
? bbc.com (o.D.c): Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021
? bbc.com (o.D.d): Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.
? orf.at (o.D.a): Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021
? orf.at (o.D.b): Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021
? orf.at (o.D.c): Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021
? zdf.de (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021
? UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email
Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021). Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b). Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a). IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Quellen:
• BAMF (16.8.2021): Briefing Notes, per Email
• bbc.com (o.D.): Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from
countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021
• Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab,
https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegenfluchtlinge-ab,
Zugriff 17.8.2021
• IOM (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email
• orf.at (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff
16.8.2021
• orf.at (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul,
https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021
• orf.at (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/,
Zugriff 17.8.2021
Wien, 17.8.2021
.BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 4 von 5
• orf.at (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff
17.8.2021
• tagesschau.de (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen,
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff
16.8.2021
• UNHCR (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR
Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021
• VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021):
Auskunft des VB, per Email
• VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des
VB, per Email
Kommentar der Staatendokumentation:
Sicherheitslage:
Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.
Wirtschaft/Versorgung:
Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.
Menschenrechtslage:
Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.
Kurzinformation der Staatendokumentation vom 02.08.2021
Sicherheitslage und Gebietskontrolle
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).
Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021